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Full text of "Das Geschlechtsleben in England : mit besonderer Beziehung auf London. 2, Der Einfluss äusserer Faktoren auf das Geschlechtsleben in England"

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Studien  zur  äe$cbicbte 

d« 

nien$cblicbeu  6e$cblecbt$leben$. 


III. 

Das  Geschlechtsleben  in  England 

Mit  besonderer  Beziehung  auf  London. 

Von 

Dr.  Eugen  Dühren 

(Verfasser  von  „Der  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit“). 

Zweiter  Ceil. 

Der  Einfluss  äusserer  Tuktoren  auf  das  DescMecbts 

leben  in  England. 


Berlin  NW.  7. 

M.  Lilienthal  Verlag. 
1903. 


Das  Geschlechtsleben 

in  England 

Mit  besonderer  Beziehung  auf 

London. 


-  Von 

Dr.  Eugen  Dühren 

(Verfasser  von  „Der  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit“). 

„England,  with  all  thy  faults,  J  love 
vir  thee  still.“  Cowper. 

II. 

Der  €influ$$  äu$$erer  Taktoren  auf  da$ 
Ge$cb]ecbt$kbcn  in  England. 


Berliu  NW.  7. 

M.  Lilientlial  Verlag. 
1903. 


TP.  H-( 


Alle  Rechte  Vorbehalten. 


Vorrede. 

Auch  der  zweite  Band  meines  Werkes  über  das  „Ge¬ 
schlechtsleben  in  England“,  den  ich  hiermit  der  Öffent¬ 
lichkeit  übergebe,  beruht  durchgängig  auf  eingehenden 
Quellenstudien  durchaus  origineller  Natur  und  liefert 
demgemäss  ein  vollkommen  getreues  Bild  der  wirklichen 
englischen  Zustände  in  der  Vergangenheit  und  der  Gegen¬ 
wart,  so  weit  letztere  berührt  worden  ist.  Wenn  einige 
Kritiker  mir  Übertreibung,  Willkür  und  Einseitigkeit  in 
der  Behandlung  des  Themas  vorgeworfen  haben,  so  muss 
ich  diesen  Vorwurf  sowohl  für  den  ersten  Band  als  auch 
für  den  zweiten  und  den  Anfang  1903  nachfolgenden 
Schlussband  entschieden  zurückweisen.  Denn  das  ganze 
Werk  ist  eine  Frucht  ernster,  ehrlicher  Arbeit, 
allseitiger  und  kritischer  Benutzung  des  Quellen¬ 
materials.  Ich  habe  niemals  mich  auf  einen  Autor  ver¬ 
lassen,  sondern  stets  mehrere  für  die  Feststellung  einer 
bestimmten  Thatsache  herangezogen  und,  wo  es  anging, 
persönlich  reden  lassen.  Auch  wird  der  Leser  bald  er¬ 
kennen,  dass  ich  die  englischen  Autoren  als  Quellen 
für  die  Darstellung  stets  in  den  Vordergrund  gestellt 
habe,  um  dem  Werke  die  Objectivität  möglichst  zu  sichern. 
Aber  auch  Männer  wie  v.  Archenholtz,  Adrian, 
V.  Schütz,  J.  C.  Hüttner  u.  A.,  die  selbst  von  der 
englischen  Kritik  als  unbefangene  Beobachter  des  Landes 


und  Volkes  anerkannt  werden,  können  nicht  einfach  als 
Anekdotensammler  bezeichnet  werden.  Ein  längerer 
Aufenthalt  in  London  hat  mir  keine  Veranlassung  gegeben^ 
etwas  Wesentliches  im  Inhalte  des  ersten  Bandes  zu 
corrigiren.  Wie  ein  Autor  gar  noch  mit  dem  Vorwurfe 
kommen  kann,  mein  Werk  sei  eine  „pikante  Lektüre  für 
Lebemänner“,  ist  mir  völlig  unerfindlich.  Diesem  etwas 
vorschnellen  Kecensenten  mache  ich  an  dieser  Stelle  be¬ 
greiflich,  dass  ein  ernstes,  kulturgeschichtliches  Werk, 
in  dem  ehrliche  Arbeit,  eine  sittliche  und  wissenschaftliche 
Tendenz  steckt,  niemals  ein  Lebemannsgericht  sein  kann. 
In  welchem  Buche  finden  sich  so  ausführliche  Darstellungen 
der  verschiedenen  Arten,  Methoden  und  Eaffinements  des 
Beischlafes  wie  im  16.  Kapitel  „Das  Weib  im  Geschlechts¬ 
verkehr“  des  berühmten  Werkes  von  Floss  (weiland  Arzt 
in  Leipzig)  und  Bartels  (Geheimer  Sanitätsrat  in  Berlin) 
„Das  Weib  in  der  Natur-  und  Völkerkunde“?  Und 
doch  wird  Niemand,  obgleich  dieses  eine  Kapitel  die 
sämmtlichen  drei  Bände  meines  „Geschlechtsleben  in 
England“  in  Beziehung  auf  „Pikanterie“  aufwiegt,  jenes 
epochemachende  und  oft  aufgelegte  Werk  als  geistige 
Nahrung  f  ür  Lebemänner  bezeichnen .  Oder  sollte  etwa  dafür 
der  Grund  geltend  gemacht  werden,  dass  es  von  Lebemännern 
—  gekauft  wird?  Was  kaufen  und  lesen  die  nicht? 

Sogar  auch  meine  Pseudonymität  hat  man  mir  vor¬ 
geworfen,  obgleich  ich  niemals  bestrebt  war,  dieselbe 
streng  zu  wahren  und  Jedermann  sich  leicht  davon  über¬ 
zeugen  kann,  wer  der  mysteriöse  Autor  des  „Marquis  de 
Sade‘‘  ist.  Wenn  ich  ein  Pseudonym  wählte,  so  wollte 
ich  damit  nur  ausdrücken,  dass  ich  als  Arzt  ein  dem 
rein  medicinischen  fremdes  Gebiet  betreten  habe,  das 
kulturgeschichtliche,  ebenso  wie  der  Jurist  seine 


nichtjuristisclien  Schriften,  Kinder  seiner  freien  Müsse, 
unter  anderem  Namen  herausgiebt,  wie  sich  auch  aus 
allen  anderen  Berufsarten  Beispiele  dafür  in  grosser  Zahl 
anführen  lassen. 

Solche  unwürdigen  Angriffe,  meistens  Ausflüsse  sehr 
unedler  Kegungen,  werden  mich  nicht  einen  Augenblick 
in  der  Unabhängigkeit  und  Freiheit  meines  literarischen 
Schaffens  stören. 

Berlin  W.,  den  30.  Oktober  1902. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsübersicht. 


Zweites  Buch. 

Der  €inflH$$  äu$$erer  l^aktoren 

auf  da$ 

6e$cl)lecl)t$kben  in  England. 

Drittes  Kapitel. 

Die  vornebme  6e$e1l$cbdft 

(Das  „Rigft  Cife“)  ..... 

1.  Die  Restauration . 

Anteil  Englands  an  der  Bildung  der  modernen  vor¬ 
nehmen  Gesellschaft;  Der  Begriff  des  „High  Life“;  Der 
Begriff  des  „Gentleman“;  Der  Sport;  Entstehung  der  modernen 
englischen  Gesellschaft  im  17.  Jahrhundert;  Charakter 
der  Restaurationsepoche;  Ausprägung  desselben  in  der 
Philosophie;  Der  Hof  Karls  II.;  Grammont’s  Me¬ 
moiren;  Ihre  Stellung  in  der  geschichtlichen  Litteratur; 
Ihr  Verfasser  Anthony  von  Hamilton;  Die  Person- 


Seite  : 
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3-87 


II 


lichkeit  des  Königs;  Die  Damen  am  Hofe  Karls  II.; 
Ihre  schamlose  Prostitution;  Lady  Castlemaine;  Die 
Herzogin  von  Portsmouth;  Nell  Gwynn;  Miss 
Steward;  Miss  Hamilton;  Die  übrigen  Schönheiten; 
Die  Cavaliere;  Der  Chevalier  de  Grammont;  Der 
Herzog  von  York;  Der  Earl  of  Kochester;  Der  Herzog 
von  Buckingham;  Henry  Sidney,  Jermyn  u.  A.; 
Schilderung  der  Galanterien  und  Vergnügungen ;  Corruption 
des  Volkes. 

2.  Die  Gesellschaft  des  18.  Jahrhunderts.  .  . 

Zustand  der  Gesellschaft  um  1700;  Die  Francophilie; 
Die  Franzosen  in  England  und  die  Engländer  in  Frank¬ 
reich;  Horace  Walpole;  Die  Sentimentalität;  Sterne 
und  Richardson;  Die  Sentimentalität  in  der  Garten¬ 
kunst;  William  Kent;  Die  grossen  Parks;  Englisches 
Landleben;  Die  Bäder;  Bath  und  Tunbridge  Wells 
als  Plätze  der  Galanterie;  Brighton;  Charakter  der 
Lebe'welt  im  18.  Jahrhundert;  Die  „Demi-reps‘‘';  Hof- 
hordelle;  Die  Maskenbälle;  Ben  Jo nson ’s  „Masken¬ 
spiele“;  Verhalten  des  Pöbels  bei  den  aristokratischen 
Bällen;  Die  Bälle  in  „Almack’s“;  Madame  Cornelys’ 
berühmte  Maskeraden;  Das  Pharao-Spiel  in  der  vornehmen 
Demimonde;  Berühmte  Couitisanen;  Miss  Bellamy; 
Ihre  Memoiren ;  Ihr  Verhältnis  mit  Fox;  Kitty  Fisher 
und  Fanny  Murray,  Lucy  Cooper  u.  A.;  MissRay’s 
Ermordung  durch  den  Prediger  Ha ckm an ;  Die  Theater¬ 
welt;  Sexuelle  Freiheit  der  Theaterdamen  im  18.  Jahr¬ 
hundert;  Beispiele;  Mrs.  Bi  Hing  ton;  Mrs.  Abington; 
Mrs.  Curtis’  Vorlesungen  in  Dr.  Grab  am ’s  [Tempel; 
Mrs.  Harlowe’s  Liebe  zu  Greisen;  Harriet  Wilson 
und  ihre  Memoiren;  Mrs.  Siddons;  Conditoreien  als 
Orte  der  Reridez-vous;  Die  Abendgesellschaften  (Routs); 
Der  britische  Don  Juanismus;  Der  Typus  des 
,,Lovelace“;  Leben  der  Junggesellen;  Häufigkeit  der 
Selbstmorde  unter  den  vornehmen  Wüstlingen ;  Berühmte 
Don  Juans;  George  Selwyn;  Charakter  und  Verkehr; 
Seine  „Mie-Mie“;  „Old  Q“;  Sein  Haus  in  Piccadilly; 


Seite 

3—87 


87—193 


III 


Thackeray  über  ilni;  Seine  Galanterien;  Spielt  eine 
grosse  Rolle  in  den  erotischen  Novellen;  Die  adlige  und 
die  bürgerliche  Gruppe  der  Don  Juans;  Lord  Pembroke; 
Der  „britische  Don  Juan“  (Edward  Wortley  Montague); 
Lord  Baltimore;  Charles  Fox;  Selwyn  und  Samuel 
Foote  im  Bordell  der  Hayes;  S.  Foote,  Tracey, 
Derrick,  G.  A.  Stevens;  Lord  Byron;  Geschichte 
seiner  Ehe;  Har  riet  Beecher-Stowe  als  Verleumderin 
Byron’s;  Seine  angeblichen  sexuellen  Ausschweifungen; 
Ein  ihm  zugeschriebenes  obscönes  Gedicht;  Gegenwärtiger 
Zustand  der  englischen  Gesellschaft. 

» • 

3.  Lady  Emma  Hamilton . 

Der  verkörperte  Typus  der  englischen  Schönheit; 
Ihre  Jugend;  Ihre  Erscheinung;  Emma  in  Dr.  Graham’ s 
,, Tempel  der  Gesundheit“;  Ihre  Beziehungen  zum  Maler 
Romney;  Zu  Sir  Charles  Greville;  Zu  Sir  William 
Hamilton;  Emma  am  Hofe  in  Neapel;  Ihr  Verhältnis 
zur  Königin  Karoline  von  Neapel;  Zu  Nelson;  Letzte 
Jahre;  Erfinderin  der  „plastischen  Attitüden“;  Zur  Ge¬ 
schichte  der  mimisch-plastischen  Darstellungen. 

Viertes  Kapitel. 

Die  moae . 

Allgemeines  über  die  Beziehungen  der  Mode  zum 
Sexualleben;  Besonderheiten  der  englischen  Mode  in  älterer 
Zeit;  Französische  Einflüsse;  Seidene  Kleider  im  13. 
Jahrhundert;  Die  „Kleiderschwänze“;  Luxus  zur  Zeit 
Richards  11. ;  Effemination  der  Männer;  Die  „Scham¬ 
kapsel“  der  Männer;  Luxus  der  elisabethanischen  Periode; 
Seltenheit  der  Hemden,  Kostüme  der  Tudor-  und  Stuart¬ 
epoche;  Die  27  Anzüge  des  Herzogs  von  Buckingham; 
Nuditäten  unter  Karl  11. ;  Schriften  gegen  die  Freiheit 
der  weiblichen  Kleidung;  Tragen  von  Muffen  durch  Männer; 
Künstlichkeit  und  häufiger  Wechsel  der  Moden  im  18. 
Jahrhundert;  Die  Modebazare;  Old  und  New  Bondstreet 
mit  ihren  Modeläden ;  Das  „shopping“ ;  Läden  von  Oakley 
und  P  r  i  c  h  a  r  d ;  Ladenmädchen  und  Ladendiener; 


Seite 

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211—260 


IV 


Galanterie  der  Modistinnen ;  Luxus ;  Mrs.  Abington 
erteilt  Rat  in  Modesachen;  Corrumpirender  Einfluss  des 
Luxus;  Haartracht;  Bei  den  angelsächsischen  Frauen; 
Im  18.  Jahrhundert;  Die  „Head  -  Dresses“ ;  Die  Perrücke; 
Der  Chignonhändler  in  Bishopgatestreet;  Englische  Damen¬ 
hüte  des  18.  Jahrhunderts;  Der  „Ranelagh  Mob“;  Die 
künstlichen  Busen;  Die  „falschen  Bäuche“;  Die  Krinoline; 
Die  „hooped  petticoats“ ;  Die  „fashion  of  nakedness“; 
Frauenschuhe  mit  Maschinen;  Tragsessel;  Der  Fächer; 
Lascive  Bilder  auf  demselben;  Reiten  und  Fahren  der 
englischen  Damen;  Das  Dandythum;  Eine  englische 
Erfindung;  Geschichte  des  englischen  Stutzerthums;  Die 
Beaux;  Die  „Maccaronis“  oder  „Jessamies“;  Die 
Männerkleidung  im  18.  Jahrhundert;  Effemination  der 
Männer;  Die  „pretty  fellows“;  Fleischfarbene  Tricots  der 
Männer;  Frisieren  der  Männerköpfe;  Die  „Guineapigs“ ; 
Tragen  von  Brillen ;  Brillantbrillen  der  Stutzer;  Galanterie 
der  englischen  Theologen  und  Ärzte;  Künstliche  Waden 
der  Männer;  Der  „Klub  der  schmutzigen  Hemden“; 
Georg  IV.  und  G.  Brummeil  als  Typen  des  Dandy¬ 
tums;  Barbey  d’Aur  e  villy’s  Schrift  über  Br  um  mell 
und  den  Dandyismus;  Brummell’s  Toilette;  Sein 
Verhalten  in  der  Gesellschaft;  Sein  trauriges  Ende; 
V.  Pückler -Muskau  über  die  Dandies;  Selbständigkeit 
Englands  in  der  Mode  am  Beginn  des  19.  Jahrhunderts; 
Der  Frack;  Rolle  des  früheren  Prinzen  von  Wales 
(E  duard  VIL);  Besonderheiten  der  weiblichen  Kleidung; 
Die  Busenringe. 

Fünftes  Kapitel. 

JTpbrodi$iaca.  Ho$metic4,  Jlbortiv^ 

und  Gebeimmittel . 

Allgemeine  Bedeutung  dieser  Mittel;  Beziehung  der¬ 
selben  zum  Kurpfuschertum;  Einfluss  von  Speise  und 
Trank  auf  die  Vita  sexualis;  ünmässigkeit;  Praevalenz  von 
Fleisch-  und  Alkoholgenuss  in  England;  Gastronomische 
Excesse;  J.  J.  Becher  u.  A.  über  das  Fleischessen  der 
Engländer;  Zustände  um  1700;  Pope’s  Vorliebe  für 


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261-335 


V 


Branntwein;  Das  Diner  in  Swift ’s  „modischer  Unter¬ 
haltung“;  Obscöne  Tischgespräche;  Gastronomische  und 
alkoholische  Excesse  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts;  Johnson ’s  Gefrässigkeit ;  Ueherhandnahme 
des  Branntweingenusses;  Trinkergesellschaften;  Das  Essen 
und  Trinken  in  Bordellen  und  Tavernen;  Der  Nachttopf 
bei  Tische;  Fleischkonsum  im  19.  Jahrhundert;  Die  Gicht 
eine  spezifische  englische  Krankheit;  Trunksucht  in  der 
Gegenwart;  Grosse  Beteiligung  des  weiblichen  Geschlechts 
an  derselben;  Fehlen  des  Typus  der  „Kellnerin“;  Tem- 
perance  Societies“;  Geringe  Entwickelung  des  modernen 
Kestaurantwesens ;  Aphrodisische  Nahrungsmittel;  Georg’s 
IV.  Vorliebe  für  Trüffeln;  Ingwer  als  Aphrodisiacum; 
Liebestränke  im  englischen  Mittelalter;  Die  Canthariden 
in  den  Bordellen;  Der  Pinero-Balsam ;  Verkaufsorte  der 
Aphrodisiaca;  Die  Dildoes;  Geschichtliches  über  den  God- 
miche;  Das  Dildoe- Geschäft  der  Mrs.  Philipps;  Vertrieb 
der  Dildoes  im  19.  Jahrhundert;  Der  Truthahn  als  God- 
miche;  Dildoe-Schriften ;  Kosmetica;  Reinlichkeit  der 
Engländer;  Entstehung  der  Bäder;  Die  orientalischen  Bäder 
in  Brighton ;  Kosmetica  bei  den  Angelsachsen ;  Abfälliges 
Urteil  von  Thomas  Morus  und  Addison  über  Kosmetica; 
Blütezeit  der  Kosmetik  im  18.  Jahrhundert;  Schminke 
und  Puder;  Pudersteuer;  Bedfords  Puderszene;  Hand¬ 
pflege;  Ein  Missgeschick  der  Bellamy;  Spezialisten  im 
Nägelschneiden;  Parfümiren  der  Handschuhe;  Parfüme; 
Praeventiv^  und  Abortivmittel;  Dr.  Conton  und 
seine  Erfindung;  Häufigkeit  der  künstlichen  Aborte  in 
London ;  Innere  Abortivmittel ;  Pessare  und  Abort;  Heim¬ 
liche  Entbindungen;  Erste  wissenschaftliche  Schrift  über 
das  „Versehen“;  „Lucina  sine  Concubitu“;  Die  venerischen 
Krankheiten;  Erstes  Auftreten  der  Syphilis  in  England; 
John  Hunter’s  berühmte  Versuche;  Grosse  Verbreitung^ 
venerischer  Leiden  um  1750;  Vorsichtsmassregeln  der 
Bördellbesitzer ;  Verbreitung  im  19.  Jahrhundert;  Hospitäler 
für  venerische  Kranke;  Rolle  Englands  in  derVerschleppuojg 
der  venerischen  Kranldieiten ;  Abnahme  derselben  in  der 
neuesten  Zeit;  Berühmte  Kurpfuscher;  Ihr  Haupt- 


VI 


gebiet  das  Sexuelle;  Gescbiclitliclies  über  Kurpfuscherei  in 
England;  Ausserordentliche  Entwicklung  im  18.  Jahr¬ 
hundert;  James  Graham,  der  englische  Ca  gl  io  stro; 
Sein  „Tempel  der  Gesundheit“  und  „sein  himmlisches 
Bett“;  Vestina;  Seine  ,, Erdbäder“;  Seine  Vorlesungen 
über  Makrobiolik;  Sexueller  Mesmerismus;  Loutherbourg; 
Mainaduc’s  „Wunderschule“;  Die  Eosenkreuzer;  Ein  Vor¬ 
läufer  von  Leopold  Schenk;  Von  Schäfer  Ast;  Deut¬ 
sche  Kurpfuscher  in  London;  van  Butscheil;  Kurpfuscher 
des  19.  Jahrhunderts;  St.  John  Long;  Douglas  und 
Matthews;  Der  siebente  Sohn  des  siebenten  Sohnes; 
Katterfelto;  Morison  und  seine  Pillen;  Kurpfuscher 
der  Gegenwart;  Wahrsager  und  Wahrsagerinnen;  Schöne 
Wahrsager;  Mrs.  Williams;  die  Zauberin  von  St.  Giles; 
Zuleika. 

Sechstes  Kapitel. 

DU  Tlaacllonicinie . 

Ein  den  Engländern  eigentümliches  Laster;  Begrün¬ 
dung  dieser  These;  Ursprung  von  den  Angelsachsen; 
Verbreitung  der  Flagellomanie  in  allen  Ständen  und  Lebens¬ 
altern;  Allgemeine  Ursachen  derselben. 

Allgemeines  über  die  sexuelle  Flagellation ;  Litteratur 
derselben;  Existenz  der  erotischen  Flagellation  im  Alter¬ 
tum;  Einführung  des  religiösen  Elementes  im  Mittelalter; 
Flagellantismus  und  Disziplin  sind  mittelalterlichen  Ur¬ 
sprungs;  Ausbildung  des  Flagellationssystems  durch  die 
christlich-germanischen  Völker;  Vorkommen  der  sexuellen 
Flagellation  bei  Tieren. 

Allgemeines  über  erotische  Flagellation  beim  Menschen; 
Physiologische  Erklärung  derselben  (Bloch);  Motive  der¬ 
selben;  Aesthetische  Keize;  Aesthetische  Iledeutung  des 
Gesässes;  Plastische  Keize;  Exhibitionismus  der  Nates; 
Die  „posture  girls“;  Coloristische  Keize;  Biologische  Be¬ 
deutung  derselben;  Bewegungen  des  flagellirten  Teiles  als 
Keiz;  Die  „kallipygischen  Spiele“  der  Alten;  Das  sadisti¬ 
sche  Element  bei  der  Flagellation;  Menschen  flagelliren 
Tiere;  Anblick  des  Blutes;  .Unterschied  zwischen  antiker 


Seite 

261-335 


336—481 


VII 


und  cliristlicher  Flagellation ;  Das  masochistische  Element 
bei  der  Flagellation ;  Rolle  des  Wortzaubers;  Magnetismus; 
Rein  religiöse  Ursachen  der  Flagellation;  Die  Flagellation 
als  Präparativmittel;  Therapeutisch-medizinische  Ver¬ 
wendung;  Als  Mittel  gegen  Impotenz;  Schilderungen  von 
Doppet  und  de  Renneville;  Roubaud’s  Flagellations¬ 
maschine  gegen  Inpotenz;  Flagellation  bei  Sterilität  und 
anderen  Leiden;  Als  Kosmeticum;  Bedeutung  der  Gewohn¬ 
heit;  Einteilung  der  Prügel  nach  einem  deutschen  Ge¬ 
lehrten;  Flagellationsinstrumente;  Verschiedene  Arten  der 
Ruten;  Ruten  in  den  Bordellen;  Die  Urtication;  Linaria 
Cymbalaria;  Flagellation  mit  Blumen;  Mit  Asbest;  Mit 
Bürsten;  Flagellationsmaschinen  in  alter  und  neuer  Zeit; 
Die  elektrische  Flagellation. 

Die  Flagellation  ein  Berufszweig  der 
Prostitution  in  England;  Die  „Governess“ ; 
Die  Flagellation  als  „Kunst“ ;  Delikatesse  und  Raffinement 
bei  derselben;  Prädilektionsstellen  derselben;  Die  „obere“ 
und  „untere“  Disciplin;  Der  „Cut  up“  (Flagellation  der 
Genitalien);  Merkwürdige  Excentricitäten  bei  der  Flagel¬ 
lation;  Rolle  der  Kleidung;  G.  A.  Sala  darüber;  Die 
„Dame  in  Weiss“;  Das  Bouquet  bei  der  Flagellation; 
Als  Erkennungszeichen  in  der  flagellantistischen  Prostitution; 
Die  „Voyeurs“;  Weibliche  Voyeurs;  Die  Flagellation  meist 
zwischen  Mann  und  Weib ;  Zwischen  Homosexuellen ; 
Beziehungen  zur  Päderastie;  Flagellation  zwischen  Tribaden. 

Specielle  Geschichte  der  Flagellomanie 
in  England;  Die  grosse  Neigung  der  englischen  Frauen 
zur  Flagellation ;  de  S  a  d  e  und  M  i  c  h  e  1  e  t  über  die 
Grausamkeit  des  Weibes;  Typus  der  kalten  englischen 
Frau  nach  Dickens;  Die  Vorliebe  der  englischen  Frauen 
für  die  aktive  Flagellation;  Die  „Prügel-Wittwe“;  Flagel¬ 
lomanie  der  angelsächsischen  Frauen;  Erwähnung  dieser 
Neigung  in  Butler’ s  „Hudibras“;  Flagellantinnenklubs 
des  18.  Jahrhunderts;  Der  „Klub  der  Balgerinnen“; 
Der  Flagellantinnenklub  in  Jermyn  Street;  Der  Fall 
Brownrigg;  Ein  Verteidiger  der  Brownrigg; 
Mrs.  Jenkins;  Die  Flagellationsbordelle 


VIII 


des  18.  und  19.  Jahrhunderts;  Besitzerinne n 
derselben:  Mrs.  Collett,  Mitchell,  James,  Emma 
Lee,  Philipps,  Shepherd,  Chalmers,  Noyeau, 
Jones,  Betsy  Burgess,  Pryce;  Mrs.  Theresa 
Berkley,  die  Königin  ihres  Berufes;  Ihr  Bordell  und 
dessen  Einrichtung ;  Das  „Berkley  Horse“;  Ihre  „Memoiren“; 
Mary  Wilson  über  sie ;  Merkwürdiger  Brief  eines 
Flagellomanen  an  die  Berkley;  Mrs.  Sarah  Potter; 
Ihre  Specialität;  Flagellationsbordelle  der  letzten  Zeit; 
Die  „Auspeitscherin“;  Die  modernen  Massageinstitute; 
Eine  Einladungskarte  an  die  „Gentlemen  Flagellants“ ; 
Die  männlichen  Flagellomanen;  Drei  Klassen 
männlicher  Liebhaber  der  Kute;  Marlowe’s  Epigramm; 
„Whipping  Tom“;  Die  „flogging  cullies“;  Eine  Gesellschaft 
aristokratischer  Flagellanten;  Flagellation  in  den 
englischen  Schulen;  Von  den  meisten  Schriftstellern 
erwähnt;  Lord  Byron’s  Verse  darüber;  Die  Flagellation 
in  Westminster  School;  Dr.  Busby  und  Dr.  Vincent; 
Der  Dichter  Shadwell  über  Westminster  School; 
Dr.  K  e  a  t  e  in  Eton ;  Flagellation  an  den  Universitäten ; 
Der  Prügelbock  des  Dichters  Steele;  Flagellation 
in  weiblichen  Boarding  Schools  und  Pensionaten; 
In  den  von  Knaben  und  Mädchen  gemeinsam  besuchten 
Schulen;  „Schulmeisters  kleines  Diner“;  Der  Fall  Eyre 
Coote;  Gegenwärtige  Verbreitung  der  Flagellomanie  in 
den  Londoner  Schulen;  In  den  Klöstern;  Die  Bute  im 
Haus;  Zwischen  Mann  und  Frau;  Mutter  und  Kindern; 
Stiefeltern  und  Stiefkindern;  Herren  und  Diener  (Page); 
Die  Bute  im  Zuchthause;  Das  Auspeitschen  derProstituirten; 
Flagellation  in  Armee  und  Marine;  Im  Theater;  Auf  Jahr¬ 
märkten;  Bei  Spielen;  Die  Flagellation  ein  beliebtes  Thema 
englischer  Zeitschriften ;  Flagellantistische  Zeitungs¬ 
annoncen  ;  SamuelJohnson’s  Lob  der  Bute ;  Anthologie 
der  Bute;  Die  „Kutiade“  von  George  Coleman. 


Zweites  Buch. 


Der  Einfluss  äusserer  E aktoreu 

auf  das 

Geschlechtsleben  in  England. 


Dü h reu,  Das  Geschlechtsleben  in  England.** 


1 


Drittes  Kapitel. 


Die  vornehme  Gesellschaft 

(Das  „High  Life^). 


1.  Die  Restauration. 

Unter  den  Faktoren,  welche  dem  Gesellschaftsleben 
eines  Volkes  zu  den  verschiedenen  Zeiten  ein  bestimmtes 
Gepräge  geben  oder  jedenfalls  dasselbe  in  einem  beachtens¬ 
werten  Masse  beinflussen,  ist  die  sogenannte  „vornehme 
Gesellschaft“,  die  „Gesellschaft“  schlechthin,  in  erster 
Linie  zu  nennen.  Diese  Gesellschaft  setzte  sich  in  früheren 
Zeiten  fast  nur  aus  den  Aristokraten  der  Geburt  zu¬ 
sammen  und  war  in  dieser  Periode  fast  ganz  auf  das 
höfische  Leben  beschränkt.  Seit  dem  siebzehnten  Jahr¬ 
hundert  hat  sich  gewissermassen  eine  Demokratisierung 
dieser  vornehmen  Gesellschaft  vollzogen  durch  die  Auf¬ 
nahme  der  Aristokraten  des  Reichtums  und  der 


1* 


4 


Aristokraten  des  Geistes.  Aus  diesen  drei  Elementen 
setzt  sich  das  zusammen,  was  man  heute  mit  dem  Worte- 
„High  Life“  bezeichnet  und  damit  schon  den  Ursprung 
der  Sache  selbst  andeutet. 

Es  war  die  vornehme  Gesellschaft,  welche  zu  allen 
Zeiten  die  „Lehrerin  der  Sitten  des  Volkes“  gewesen  ist,, 
wie  Dufour  sich  ausdrückt.  Sie  diente  als  Vorbild  für 
das  Gute  wie  für  das  Böse.  Ihr  Beispiel  corrumpiert& 
oder  reinigte  die  öffentliche  Moral.  Der  gewöhnliche 
Bürger  hatte  stets  das  Treiben  der  Grossen  vor  Augen 
und  ahmte  sie  in  allen  Dingen  nach,  um  nur  einen 
Abglanz  dieser  Vornehmheit  auf  sich  fallen  zu  lassen. 
So  hat  mit  Notwendigkeit  zu  allen  Zeiten  die  Sitten- 
losigkeit  der  Höfe  und  der  Vornehmen  auch  die  Depravation 
des  Volkes  zur  Folge  gehabt.  Dufour  hat  diese  That- 
sache,  soweit  sie  Frankreich  betrifft,  einer  wiederholten 
Untersuchung  gewürdigt. 

Wer  die  Eigentümlichkeiten  des  Sexuallebens  eine& 
Volkes  zu  erforschen  strebt,  darf  diesen  Einfluss  der 
vornehmen  Gesellschaft  nicht  übersehen.  Es  ist  sicher 
dass  z.  B.  manche  sexuelle  Moden  und  Perversitäten 
erst  dnrch  jene  eingeführt  werden.  So  beschuldigt 
Dufour  mit  dem  grössten  Rechte  die  Katharina  von 
Medici  und  ihren  Hof,  „alle  Praktiken,  alle  Instrumente 
und  alle  Stimulantien  der  italienischen  Wollust“  in 
Frankreich  eingeführt  und  popularisiert  zu  haben.  Die¬ 
jenigen,  welche  gleich  mit  der  Annahme  einer  „Perversität 
aus  krankhafter  Anlage“  bei  der  Hand  sind,  unterschätzen 
den  gewaltigen  Einfluss,  welchen  im  menschlichen  Ge- 

*)  Vgl.  P.  Dufour  „Histoire  de  la  Prostitution“  Bd.  V 
S.  179,  223,  250,  251,  Bd.  VI  S.  174,  Bd.  VII  S.  262. 

2j  ibidem  Bd.  V  S.  251. 


0 


sclilechtslebeii  das  Beispiel  und  die  V  e  r f ü  h  r  u  n  g 
ausüben.  Wenn  wir  hören,  dass  mit  Katharin  a  von 
Medici  zahlreiche  italienische  Künstler  nach  Frankreich 
kamen,  welche  das  Land  mit  einer  Fülle  der  obsconsten 
Bilder  und  Sculpturen  überschwemmten,  die  die  wider¬ 
natürlichsten  Laster  in  der  verführerischesten  Weise  dar- 
■stellten,  wenn  wir  erfahren,  dass  diese  ausschweifende 
Fürstin  von  einem  Hofstaat  umgeben  war,  der  fast  aus- 
'schliesslich  der  homosexuellen  Liebe  huldigte,  so  werden 
wir  es  begreiflich  finden,  dass  die  Paederastie  und  Tribadie 
in  Frankreich  eine  erschreckliche  Verbreitung  gewannen. 
Wichtig  ist,  festzuhalten,  dass  diese  Laster  durch 
V  e  r  f  ü  h  r  u  n  g  und  Nachahmung  verbreitet 
werden  können.  Das  schliesst  nicht  aus,  dass  man 
unter  besonderen  Umständen  bei  den  einzelnen  Individuen 
<lie  krankhafte  Natur  einer  sexuellen  Perversität  annehmen 
kann.  Die  neueren  wissenschaftlichen  medicinischen 
Schriften  über  die  „sexualen  Psychopathien“  haben  leider 
nicht  nur  bei  Laien,  sondern  auch  bei  Ärzten  den  Glauben 
•erweckt,  als  ob  es  sich  bei  ihnen  fast  immer  um  eine 
Krankheit  handle,  und  nur  selten  um  die  Befriedigung 
«eines  Lasters.  Ich  glaube,  dass  das  Gegenteil  richtiger 
sein  würde. 

Mit  grösserer  Bestimmtheit  lässt  sich  dieser  verderbliche 
Einfluss  der  vornehmen  Gesellschaft  in  jenen  Perioden 
nachweisen,  wo  dieselbe  dem  Volke  als  ein  kleines  und 
fremdartiges  Ganze  gegenüberstand.  Heute,  wo  sich  die 
vornehme  Gesellschaft  aus  breiteren  Schichten  des  Volkes 
•.zusammensetzt  und  gleichsam  nur  die  Spitze  desselben, 
nicht  mehr  einen  Gegensatz  zu  ihm  bildet,  entzieht  sich 
«dieser  Einfluss  als  ein  mehr  verschwommener  einer 
genaueren  Untersuchung.  Aber  vorhanden  ist  er  noch. 


6 


Es  giebt  noch  immer  fashionable  Moden  und  Amüsements^ 
welche  in  den  Kreisen  der  „oberen  Zehntausend“  ihren 
Ursprung  haben  und  mit  Begierde  von  dem  profanum 
vulgus  auf-  und  angenommen  werden.  Kein  Zweifel,  dass 
auch  der  Einfluss  der  heutigen  „Gesellschaft“  auf  die  Art 
und  Gestaltung  des  Geschlechtslebens  ein  gewaltiger  ist. 
Da  aber  das  High  Life  einen  mehr  internationalen 
Charakter  angenommen  hat,  so  ergiebt  sich  daraus  eine¬ 
weitere  Schwierigkeit,  seine  gegenseitigen  Beziehungen 
zum  Sexualleben  eines  bestimmten  Volkes  genau  festzustellen. 

An  der  Bildung  der  modernen  vornehmen  Gesellschaft 

hat  England  den  Hauptanteil.  Zu  gleicher  Zeit,  im 

17.  Jahrhundert,  entwickelte  sich  zwar  auch  in  Frankreich 

/ 

dieses  moderne  „Weltleben“,  aber  Frankreichs  Einfluss¬ 
ist  ein  vorübergehender  gewesen.  Die  dauernden 
Charakterzüge  hat  England  der  modernen  Gesellschaft 
gegeben.  Von  vornherein  haben  dieselben  die  Tendenz, 
einer  Demokratisierung  der  Gesellschaft  gehabt. 
Der  Begriff  des  „High  Life“  umfasst  nicht  nur  den 
Geburtsadel,  sondern  auch  den  Geld-  und  Geistesadel,  über¬ 
haupt  jeden  durch  Tüchtigkeit  und  Verdienst  über  die 
grosse  Masse  hervorragenden  Mann.  Nirgends  hat  sich  eine 
geringere  Stabilität  der  Geburtsaristokratie  als  in  England 
gezeigt,  wo  dieselbe  einem  fortwährenden  Wechsel  unter¬ 
worfen  ist  und  sich  in  einem  ganz  anderen  Umfange  aus 
dem  Volke  ergänzt  als  dies  z.  B.  in  Deutschland  der 
Fall  ist.  Diese  Demokratisierung  der  vornehmen  Gesellschaft 
führe  ich  besonders  auf  zwei  Faktoren  zurück,  die  al& 
spezifisch  englische  anzusehen  sind.  Das  sind:  der 
Begriff  des  Gentleman  und  der  Sport. 

Mag  auch  die  englische  Gesellschaft  von  der  Ver¬ 
wirklichung  jenes  Prinzipes,  das  jeden  wahren  „Gentleman“- 


7 


als  ihr  natürliches  Mitglied  betrachtet,  noch  weit  entfernt 
sein  —  wenn  auch  lange  nicht  mehr  so  weit  wie  andere 
Völker  —  das  Prinzip  hat  sie  wenigstens  zuerst  auf¬ 
gestellt  und  damit  sich  weit  über  die  Engherzigkeit,  den 
Kastengeist  und  bornierten  Stolz  der  alten  Aristokratie 
erhoben  und  alle  diejenigen  für  würdig  erklärt  ihr  an¬ 
zugehören,  die  auf  die  Bezeichnung  eines  „Gentleman“ 
Anspruch  machen  können. 

Was  ein  Gentleman  ist,  hat  Thackeray  am  Schlüsse 
der  „vier  George“  deutlich  ausgesprochen.  Er  vergleicht 
hier  Georg  lY.  mit  Washington  und  wirft  die  Frage 
auf,  welcher  von  diesen  beiden  der  wirkliche  Gentleman  sei. 
„Was  heisst  es  überhaupt  „ein  Gentleman“  zu  sein?  Heisst 
es,  erhabene  Aufgaben  zu  lösen,  ein  reines  Leben  zu 
führen,  die  Ehre  unverletzt  zu  bewahren,  die  Achtung 
seiner  Mitbürger  zu  gemessen  und  die  Liebe  der  eignen 
Familie,  das  Glück  mit  Bescheidenheit,  das  Missgeschick 
mit  starkem  Mut  zu  ertragen,  und  durch  gute  und  schlechte 
Zeit  stets  die  Wahrheit  hoch  zu  halten?  Zeigen  Sie  mir 
einen  Mann  mit  diesen  Eigenschaften,  und  ihn  wollen 
wir  als  „Gentleman“  begrüssen,  welchem  Stande  er  immer 
angehöre.“  Max  Schlesinger,  der  in  seinen  „Wan¬ 
derungen  durch  London“  das  englische  Wesen  auf  das 
reinste  widerspiegelt,  nennt  den  Gentleman  im  wahren 
und  edlen  Sinne  des  Wortes  eine  „Pflanze  von  langsamem 
Wuchs,  wie  die  Eiche  seines  Geburtslandes,  ein  Produkt 
der  höchsten  Kultur,  wie  der  Weinstock  auf  den  Ufer¬ 
terrassen  des  Rheins,  dazu  gereift  durch  die  Reisesonne 
von  Deutschland,  Frankreich  und  Italien.  Natur,  Kunst 
und  glückliche  Zufälle  müssen  tüchtig  zusammen  arbeiten, 

1)  W.  M.  Thackeray,  „die  vier  George.“  Deutsch  von 
J.  Augsburg  Leipzig  (Reklam)  S.  153. 


8 


um  einen  Gentleman  zu  stände  zu  bringen,  und  es  zeugt 
von  dem  glücklichen  Stern  Englands,  dass  es  seit  Jahr¬ 
hunderten  noch  immer  eine  so  stattliche  Musterung  dieser 
ehrenwerten  Spezies  aufzuweisen  hat  ....  Der  englische 
Gentleman  stellt  die  Blüte  der  deutschen  und  französischen 
Männerwelt  in  Schatten.  Seine  Gemütlichkeit  hält  ein 
feinblickender  Takt  in  Mass  und  Schranken,  seiner  Artig¬ 
keit  giebt  ein  fester,  herziger  Ton  Gewicht  und  Ballast. 
Sein  Stolz  ist  gewinnend,  und  seine  Höflichkeit  ungezwungen. 
Sein  ganzes  Wesen  trägt  ein  so  ernstes  natürliches  Ge¬ 
präge,  dass  es  gleich  angenehm  wird,  ihm  Dank  zu 
schulden  wie  aufzuerlegen.  Mit  den  Jahren  scheint  er 
immer  jünger  und  jünger  zu  werden,  und  wie  der  klare 
goldsonnige  Oktober  auf  den  Südküsten  Englands,  pflegt 
sein  Spätherbst  den  Lenz  und  Sommer  zu  beschämen  .  .  .  . 
Im  Himmel  ist,  wie  ein  alter  Dichter  sagt,  über  neun¬ 
hundert  neun  und  neunzig  bekehrte  Sünder  nicht  so  grosse 
Freude,  als  über  einen  echten  englischen  Gentleman.“^) 
—  Ich  möchte  das  Wesen  des  Gentleman  mit  dem  Worte 
„gediegen“  bezeichnen.  Es  ist  die  innere  und  äussere 
Gediegenheit,  welche  den  Gentleman  vor  Anderen  aus¬ 
zeichnen.  Ist  diese  Gediegenheit  vorhanden,  dann  wird 
man  die  Zugehörigkeit  zur  „guten  Gesellschaft“  nicht 
mehr  von  kleinen  Äusserlichkeiten  abhängig  machen.  Es 
ist  dies,  wie  erwähnt,  ein  zuerst  in  England  aufgestelltes 
Prinzip  für  die  Eegelung  des  höheren  geselligen  Lebens, 
welches  aber  immer  noch  weit  davon  entfernt  ist,  ganz 
verwirklicht  zu  sein.^) 

1)  Max  Schlesinger,  „Wanderungen  durch  London.“ 
Berlin  1852  Bd.  I  S.  376—378. 

2)  Daniel  Defoe  unterscheidet  sehr  richtig  den  „born“ 
Gentleman  von  dem  „bred“  Gentleman  in  seinem  berühmten 
Werke  „The  Compleat  English  Gentleman“,  welches  erst  im 


9 


Heute  ist  dank  diesem  Prinzip  nach,  dem  Urteil  eines 
erfahrenen  Kenners  der  modernen  Gesellschaft  die  englische 
die  „feinste“  Europas  und  das  aus  dem  Grunde,  weil  sie 
der  „allgemeine  Besitz  derer  ist,  welche  in  dieselbe  auf¬ 
genommen  sind.“  „Sie  ist  weder  eine  Phrase,  noch  eine 
blosse  Idee,  sie  ist  in  der  That  vorhanden  und  ihre  Ge¬ 
treuen  werden  durch  ein  gemeinsames  Interesse  belebt.“^) 

Das  grösste  gemeinsame  Interesse  nun,  welches  diese 
moderne  Gesellschaft  besitzt,  ist  ohne  Zweifel  der  Sport. 
Auch  er  ist  ein  spezifisch  englisches  Produkt,  welches  von 
England  aus  in  die  festländische  Gesellschaft  eingeführt 
worden  ist  und  heute  deren  wesentliches  Merkmal  aus¬ 
macht.  In  der  That,  die  gesamte  vornehme  Gesellschaft 
Europas  wäre  heute  ohne  den  Sport  ganz  undenkbar. 
Er  macht  eben  einen  Teil  und  zwar  den  grössten  Teil 
ihres  Wesens  aus.  Der  oben  erwähnte  Autor  bemerkt: 
„Welches  sind  nun  die  Bindemittel  und  die  gemeinsamen 
Grundsätze,  welche  die  verschiedenen  Teile  der  Londoner 
Gesellschaft  vereinigen  und  Zusammenhalten?  Weder  die 
Gleichheit  der  Interessen  noch  die  des  Geschmacks, 
nicht  einmal  das  Band  politischer  Sympathie  hat  die  Kraft 
sie  zu  vereinigen,  am  wenigsten  ist  es  die  Rücksicht  auf 
ulte  Familientraditionen.  Ich  behaupte  und  wohl  nicht 
mit  Unrecht,  dass  keine  gesellschaftlichen  Bande 
so  stark  und  weitreichend  sind,  als  die  des 

Jahre  1890  nach  dem  im  Britischen  Museum  aufbewahrten 
Manuscript  von  Karl  Bülbring  herausgegeben  wurde  und 
sich  ausführlich  über  das  AVesen  und  die  Eigeuschaften  eines 
Gentleman  nach  den  xAnschauungen  im  Anfänge  des  18.  Jalir- 
hunderts  verbreitet.  A^gl.  Daniel  Defoe  „The  Compleat 
English  Gentleman“  London  1890  S.  3.  —  Bekannt  ist  John- 
son’s  witzige  Definition;  „A  gentleman  is  he  who  pays  his 
tailor’s  bill.“ 

9  „Aus  der  Londoner  Gesellschaft,  a'oii  einem  Heimisch¬ 
gewordenen.“  Lei])zig  1885.  S.  51;  S.  53. 


10 


Sports  in  seinen  verschiedenen  Arten:  als 
Schiessen,  Jagen,  Kartenspielen  und  vor  allem  das  Wett¬ 
rennen.  Ein  in  England  üblicher  Ausspruch  sagt:  auf 
dem  turf  und  unter  dem  turf  sind  alle  Menschen  gleich.“  i) 
Das  gilt  auch  heute  von  der  übrigen  europäischen  Ge¬ 
sellschaft. 

Der  Sport  ist  im  grossen  und  ganzen  —  wenn  man  von 
seinen  schädlichen  Auswüchsen  und  Übertreibungen  ab¬ 
sieht  —  die  wertvollste  Bereicherung,  welche  das  moderne- 
Gesellschaftsleben  England  zu  verdanken  hat.  Er  kräftigt 
nicht  nur  den  Körper,  sondern  übt  auch  unverkennbare 
psychische  Wirkungen  aus,  steigert  die  Thatkraft,  den 
Scharfsinn,  den  Mut  und  das  Selbstbewusstsein.^) 

Die  Anfänge  des  eigentlichen  Sportlebens  fallen  eben¬ 
falls  in  die  Zeit  der  Restauration.  Pferderennen, 
diese  „grossen  Versammlungspunkte  der  Londoner  Gesell¬ 
schaft“,  gab  es  zwar  schon  zur  Zeit  König  Heinrich’s  IE, 
aber  die  eigentliche  Blütezeit  derselben  beginnt  nach  der 
Thronbesteigung  Karl’s  11. ,  der  diesen  Sport  in  hohem 
Masse  begünstigte  und  häufig  die  Wettrennen  mit  seiner 
Gegenwart  beehrte,  sowie  besonders  in  Datchet  mead  und 
Newmarket  solche  Rennen  veranstaltete.  Eine  poetische 
Reisebeschreibung  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts, 
deren  Verfasser  wahrscheinlich  Mathe w  Thomas  Bas- 
kervile  ist,  schildert  ein  Rennen  in  Burford  Downs,  dem 
auch  König  Karl  II.  beiwohnte,  worüber  bemerkt  wird: 

P  „Aus  der  Londoner  Gesellschaft“  S.  124. 

2)  Uber  diese  psycbologischenWirkungen  des  Sports  bandelt 
ein  Aufsatz  von  Baron  Pierre  de  Coubertin  „La  Psycho¬ 
logie  du  Sport“,  Revue  des  Deux  Mondes,  Juli  1900  S.  167 — 179, 
wo  es  heisst  :  Aujourd’hui,  le  sport  et  entre  dans  les  moeurs 
de  toute  une  jeunesse  qui  ne  se  fait  point  „blanchir  ä  Londres“,. 
et  ne  s’avise  ineme  pas  qu’en  pratic[uant  des  exercises  favoris, 
eile  puisse  accomplir  un  acte  quelconque  d’angloinanie  ou  de 
snobisme.“  Vgl.  auch  11.  France,  „L’arine'e  de  John  Bulhh 
Paris  1887.  S.  268  ff. 


11 


Next  for  tlie  giory  of  tlie  place, 

Here  has  been  rode  many  a  race,  — 

King  Charles  the  Second  I  saw  liere; 

But  Tve  forgotten  in  what  year! 

The  Duke  of  Monmouth  here  also, 

Made  his  horse  to  swete  and  blow ; 

Lovelace,  Pembrook,  and  other  gallants 
Have  been  ventring  here  their  talents. 

And  Nicholas  Bainton  on  black  Sloven, 

Got  silver  plate  by  labor  and  drudgingP) 

Seit  jener  Zeit  sind  die  grossen  Pferderennen,  das 
Derbyrennen,  die  Rennen  in  Epsom,  Ascot  u.  s.  w.  gleich¬ 
sam  die  jährlichen  Generalversammlungen  der  englischen 
Gesellschaft.  „Auf  diesen  Rennbahnen  findet  man  die 
Blüte  der  englischen  Gesellschaft  lückenloser  vertreten, 
als  selbst  zu  den  Empfängen  bei  Hofe.“‘'^)  Und  nicht 
blos  diese,  auch  die  feinere  Demimonde,  sowie  das  Loretten- 
tum  in  Gestalt  der  sogenannten  „horse-breakers“,  ist 
vollzählig  bei  einem  solchen  fashionablen  Rennen  vertreten, 
das  sich  immer  mehr  zu  einem  grossen  Volksfeste  gestaltet 
hat.  Louis  Blanc  hat  eine  sehr  lebensvolle  Schilderung 
von  einem  solchen  Rennen  entworfen,  dem  er  im  Jahre  1861 
in  Epsom  beiwohnte. 

,, Unter  den  Personen,  denen  ich  im  Vorübergehen 
die  Hand  drücken  konnte,  nenne  ich  Thackeray,  den 
berühmten  Verfasser  von  „Vanity  Fair“.  Was  wollte  der 
grosse  Satiriker  in  diesem  Tohu-wabohu?  Beobachten? 
In  diesem  Falle  würde  der  Stoff*  ihm  nicht  gefehlt  haben; 

P  Josepli  Strutt  „The  Sports  and  Pastimes  of  the  People 
of  England“.  A  New  Edition  by  William  Hone,  London  1830. 
S.  40;  S.  46.  —  „Döings  in  London“  S.  278 — 279. 

Gustaf  F.  Steffen  „In  der  Fünfinillionen  -  Stadt“ 
Leipzig  1895  S.  220. 


12 


denn  alle  Varietäten  unserer  Art  befanden  sich  dort  vor 
dem  Blicke  versammelt  und  durcheinander  gemischt,  vom 
jungen  wegen  seines  Gespannes  bewunderten  Lord  bis  zu 
dem  wegen  seiner  Körperkräfte  angestaunten  Jongleur; 
von  der  grossen  Dame,  welche  ihre  Spitzen  zur  Schau 
stellt  bis  zur  Bohemienne  mit  zerrissenen  Kleidern;  vom 
Berufswetter,  der  vor  Wut  zittert,  dass  er  nicht  als  Millionär 
zu  Bette  gehen  kann,  bis  zum  Bettler,  der  glücklich  über 
die  Einnahme  von  einigen  Pence  ist;  von  der  galanten 
Frau  mit  geschminkten  Wangen  bis  zum  imitierten  Neger  i 
Und  auch  für  schmerzliche  Reflexionen,  wenn  dies  der 
Augenblick  zum  Philosophieren  gewesen  wäre,  würde  der 
Stoff  nicht  gemangelt  haben.  So  sehr  zeigten  sich  dort 
gleichsam  im  Relief  alle  peinlichen  Kontraste,  welche  die 
moderne  Zivilisation  darbietet.“  i) 

Karl  II.,  der  sich  stets  für  Schiffahrt  interessiert 
hatte,  führte  die  holländische  „Yacht“  in  England  ein 
und  erweckte  in  der  vornehmen  Welt  ein  grosses  Ver¬ 
gnügen  am  Segelsport.  Im  Jahre  1665  veranstalteten 
Karl  und  sein  Bruder,  der  Herzog  von  York,  eine  Wett¬ 
fahrt  zwischen  ihren  von  den  Gebrüdern  Pett  erbauten 
Yachten. 

Auch  das  Cricket spiel  stammt  aus  der  Zeit  der 
Restauration.  Der  Name  ,, Cricket“  kommt  zuerst  in  einem 
Liede  von  D’ Urfey  vor  (Vgl.  „Pills  to  purge  Melancholy“ 

4.  Auflage,  London  1719  Bd.  II  S.  172): 

Her  was  the  prettiest  fellow 
At  foot-ball  or  at  cricket, 

9  Louis  Blaue  „Lettres  sur  rAugleterre“,  Paris  1865. 
Bd.  I  S.  61. 

2)  11.  D.  Traill  „Social  England“  London  1895  Bd.  IV 

5.  602. 


13 


At  Imnting  chase,  or  nimble  race, 

How  featly  her  could  prick  it. 

Besonders  beliebt  war  unter  den  Stuarts  das  Pall 
Mall -Spiel,  bei  dem  mit  einem  an  einem  langen  Stabe 
befestigten  hölzernen  Hammer  (mall,  mailet)  eine  Kugel 
durch  einen  hohen  eisernen  Bogen  geschleudert  wurde. 
Karl  IL  pflegte  dieses  amüsante  Spiel  besonders  im  St. 
James’s  Park  zu  betreiben,  wonach  die  an  diese  Stelle 
des  Parkes  anstossende  schöne  Strasse  den  Namen  ,,Pall 
Mall“  erhielt. 

Tennis-  und  Fuss  ball  spiel,  seit  alten  Zeiten  be¬ 
kannt^),  wurden  ebenfalls  unter  derKestauration  fashionabel, 
und  auch  die  alten  Hahnenkämpfe fuhren  fort,  die 
vornehme  Welt  höchlich  zu  ergötzen. 

In  „  G  r  a  m  m  0  n  t  ’  s  Memoiren“  wird  uns  diese 
Prävalenz  des  Sportes  in  der  Gesellschaft  der  Kestaurations- 
zeit  vor  Augen  geführt. 

„Erholungen  aller  Art  ergötzten  den  Hof  an  Orten, 
wo  man  alles  ergreift,  um  die  Langeweile  zu  töten.  Das 
Kugelwerfen,  in  Frankreich  nur  ein  Spiel  für  Handwerker 

L  J.  Strutt  a.  a.  0.  S.  103. 
ibidem. 

0  Döings  in  London  S.  42. 

4)  Das  Tennisspiel  wird  schon  unter  Heinrich  VII.  er¬ 
wähnt.  Schon  früh  wurde  es  von  Frauen  gespielt.  Das  Fussball- 
spiel  ist  noch  älter,  und  wurde  unter  Eduard  HI  populär, 
der  schon  1349  ein  Verbot  gegen  dasselbe  erliess.  Vgl.  Strutt 
a.  a.  0.  S.  93 — 94;  S.  10i>. 

0  Die  Hahnenkämpfe  beweisen  auch  auf  dem  Gebiete 
des  Sports  die  Vorliebe  der  Engländer  für  das  Merkwürdige, 
Unerhörte,  Monstruöse,  die  sich  besonders  in  dem  Getälhm  an 
seltsamen  Tieren  äussert.  Shakespeare  lässt  Trinculo  im 
„Sturm“  (Akt  II  Scene  2l  sagen:  „Wenn  ich  nun  in  England 
wäre  und  hätte  den  Fisch  nur  gemalt,  jeder  Pfingstnarr  gäbe 
mir  dort  ein  Stück  Silber.  Da  wäre  ich  mit  dem  Ungeheuer 
ein  gemachter  Mann;  jedes  fremde  Tier  macht  dort  seinen 
Mann“. 


14 


und  Bediente,  ist  in  England  ganz  im  Gegenteil  ein 
Zeitvertreib  für  Leute  von  Stande.  Es  gehört  dazu  Kunst 
und  Gewandlieit,  man  übt  es  nur  bei  guter  Jahreszeit 
und  auf  den  herrlichsten  Spazierplätzen,  Bowlinggreens 
genannt.  Es  sind  dies  kleine  viereckige  Flächen,  .  deren 
Rasen  so  glatt  ist  wie  Billardtuch.  Nach  des  Tages 
Hitze  versammelt  sich  dort  Alles.  Man  spielt  hoch,  und 
die  Zuschauer  wetten  so  viel  sie  wollen.  —  Längst  in 
die  englischen  Sports  und  Übungen  eingeweiht  hatte  der 
Chevalier  Grammont  einen  Pferdewettlauf  angestellt, 
den  er  allerdings  nicht  gewann,  aber  der  ihm  die  Über¬ 
zeugung  verschaffte,  dass  ein  Traber  zwanzig  englische 
Meilen  auf  der  Landstrasse  in  weniger  als  einer  Stunde 
machen  kann.  Die  Hahnenkämpfe  waren  ihm  günstiger, 
und  bei  allen  Wetten  auf  dem  Bowlinggreen  hatte  er 
Glück.  Bei  diesen  Partieen  befindet  sich  gewöhnlich  ein 
Wirtszelt,  das  Rasenpavillon,  Festsaal  oder  auch  Erfrischungs¬ 
ort  genannt  wird.  Dort  verkauft  man  allerhand  englische 
Getränke,  wie  z.  B.  Cyder  oder  Apfelwein,  Spirituosen, 
Ginger-Bier  und  spanischen  Sekt.  Es  versammeln  sich 
da  Abends  die  sogenannten  Matadore  oder  Rooks,  um  zu 
rauchen,  zu  trinken  und  sich  zu  überlisten  d.  h.  sich 
gegenseitig  den  Gewinn  des  Tages  abzunehmen.  Diese 
Rooks  sind ,  was  man  in  Frankreich  Fachspieler  oder 
Piqueurs  nennt,  Leute,  die  stets  Geld  bei  sich  führen,  um 
es  gelegentlich  den  im  Spiel  Verlierenden  gegen  eine 
Entschädigung  vorzuschiessen,  welche  für  die  Spieler  nichts 
bedeutet  und  am  folgenden  Tage  mit  doppelten  Prozenten 
bezahlt  wird.“  ü 

Diese  Arten  des  Zeitvertreibes  wiederholten  sich  zu 

L  „Memoiren  des  Grafen  Grammont“  von  Anthony  Graf 
Hamilton,  Jena  1853  S.  264 — 265. 


15 


jener  Zeit  mit  einer  ermüdenden  Regelmässigkeit.  Jeden 
Tag  begab  sich  König  Karl  II  nach  dem  Mittagessen 
zu  den  Pferderennen,  danach  zu  einem  Hahnenkampfe, 
danach  zu  einem  Spiele,  und  nach  dem  Abendessen 
zu  —  seiner  jeweiligen  Maitresse. 

Das  Zeitalter  der  Restauration  bezeichnet  den  Höhe¬ 
punkt  der  Unsittlichkeit  im  englischen  Geschlechtsleben. 
Niemals  vorher  und  nachher  ist  den  Sinnen  in  so  orgiastischer 
Weise  gedient  worden.  Nie  hat  in  England  die  rohe, 
gemeine  Sinnlichkeit,  die  brutale  Wollust  sich  so  breit 
gemacht  wie  unter  Karl  H. 

Es  kann  diese  Zeit  nur  verstanden  werden,  wenn 
man  sie  als  eine  Reaktion  gegen  den  ihr  vorhergehenden 
extremen  Puritanismus  auffasst.  Schon  vor  Macaulay 
und  Taine  hat  dies  Anthonv  Hamilton  erkannt. 
Er  sagt  von  Cromwell’s  hartem  Regimente:  „Das 
unter  allen  Nationen  Europa’s  unlenksamste  Volk  ertrug 
mit  Geduld  ein  Joch,  welches  ihm  nicht  einmal  den 
Schatten  von  einer  sonst  so  eifersüchtig  gewahrten  Freiheit 
liess.  Unter  dem  Titel  Protektor,  Herr  der  Republik, 
im  Innern  gefürchtet,  von  Aussen  mit  noch  grösserer 
Besorgnis  betrachtet,  war  Crom  well,  als  der  Chevalier 
Grammont  ihn  sah,  auf  dem  Gipfel  seines  Ruhmes. 
Doch  es  umgab  ihn  keine  Spur  von  einem  Hofstaat.  Der 
Adel  war  teils  verbannt,  teils  von  den  Geschäften  fern 
gehalten ;  statt  des  Luxus  und  der  Pracht  der  Höfe  zeigte 
sich  in  den  Sitten  eine  puritanische  Strenge;  so  bot  die 
schönste  Stadt  der  Welt  einen  ernsten  traurigen  Anblick 
dar.“  Ganz  anders  sieht  Grammont  England  nach 
der  Thronbesteigung  Karls ’s  H:  ,, Noch  leuchtete  überall 
die  Freude  über  die  Wiederherstellung  des  Königtums; 


1)  H.  D.  Traill  a.  a.  0.  Bd.  IV  S.  479-480. 


16 


nach  neuem  Lehen  begierig,  genoss  das  Volk  den  Keiz: 
einer  natürlichen  Leitung  und  schien  nach  langer  Unter¬ 
drückung  wieder  aufzuatmen. Es  ist  ein  Naturgesetz, 
dass  allzu  grosse  Strenge  den  Charakter  des  Menschen 
höchst  ungünstig  beeinflusst  und  die  Versagung  auch  der 
unschuldigsten  Freuden  des  Lebens  nur  zur  Folge  hat, 
dass  man  heimlich  weniger  unschuldige  sucht,  und  später 
des  Zwanges  ledig,  sich  mit  Begierde  in  den  Strudel 
sinnlicher  Vergnügungen  stürzt.  Der  Puritanismus  hat 
nach  Tai  ne  die  Orgie  herbeigeführt,  die  Fanatiker  hatten 
die  Tugenden  in  Verruf  gebracht.  Die  Wiedereinsetzung 
des  Königs  brachte  Erlösung.  „Gleich  einem  abgedämmten, 
angeschwollenen  Strom  stürzte  sich  der  Volksgeist  mit 
furchtbarer  Naturgewalt  brausend  und  schäumend  in  da& 
Bett,  das  man  ihm  lange  verschlossen  hatte,  und  die 
Macht  der  tosenden  Flut  riss  alle  Dämme  ein.  Die 
leidenschaftliche  Rückkehr  zur  Sinnlichkeit  ertränkte  die 
Moral.  Tugend  galt  für  puritanisch ;  sittlicher  Ernst  und 
Fanatismus  wurden  vermengt  und  fielen  gemeinschaftlich 
der  Verachtung  anheim.  Durch  diese  gewaltige  Gegen¬ 
strömung  wurden  Frömmigkeit  und  Sittlichkeit  zugleich 
hinweg  gespült,  zurück  blieb  nur  Verwüstung  und  Schlamm; 
die  edleren  Anlagen  der  menschlichen  Natur  verschwanden, 
es  blieb  nur  das  Tierische  im  Menschen,  zügel-  und 
führerlos,  sich  in  seinen  Begierden  über  Gerechtigkeit 
und  Scham  hinwegsetzend. Die  Nation  wurde  von 
Ekel  gegen  alle  ,, gottseligen  Reden“  ergriffen  und  blickte 
mit  Wohlgefallen  auf  die  „sanften  und  fröhlichen  Laster“ 

( M  a  c  a  u  1  a  y). 

M  „Grammont’s  Memoiren“  S.  73 — 74. 

2)  II.  Ta  ine  „Geschichte  der  englischen  Litteratur“ 
deutsch  von  G.  Gerth,  Leipzig  1878  Bd.  II  S.  8. 


17 


Die  Stimmung  der  Zeit  prägt  sich  in  der  Philo¬ 
sophie  aus.  Es  ist  Thomas  Hobbes,  der  mit  seiner 
materialistischen  Weltanschauung  und  naturalistischen 
Begründung  der  sittlichen  Welt  das  Feld  beherrscht. 
Er  gehörte,  'wie  Tai n e  sagt,  zu  jenen  ,, mächtigen,  klaren, 
bestimmten  Geistern“,  die  man  positive  nennt  und  so 
häufig  in  England  trifit.  Er  antizi])ierte  die  Methode  der 
französischen  Sensualisten  des  18.  Jahrhunderts,  indem  er 
die  sinnliche  Wahrnehmung  als  die  ursprüngliche  Quelle 
der  menschlichen  Empfindungen  bezeichnete.  „Mit  der 
scharfen  Sense  unerbittlicher  Logik  mähte  er  mit  der 
Kühnheit  und  starren  Unbewegtheit  eines  Automaten  alle 
Vorurteile  nieder.“  Er  säuberte  die  Wissenschaft  von  den 
scholastischen  Phrasen  und  Theorien,  beseitigte  die  P^nter- 
schiede  des  Sinnlichen  und  Intelligiblen,  verwarf  den 
Autoritätsglauben,  leugnete  die  Authentizität  der  Bücher 
Moses  u.  a.,  verneinte  die  Göttlichkeit  der  heiligen  Schrift. 
Für  ihn  "war  der  Mensch  nur  ein  Körper,  die  Seele  eine 
Funktion,  Gott  unbekannt.  Alle  realen  Vorgänge  beruhen 
auf  Bewegung.  Die  Empfindung  ist  eine  Folge  der  inneren 
BeAvegung,  die  durch  äusseren  Anstoss  bewirkt  wird. 
Die  Lust  ist  innere  BeAvegung,  die  auf  ein  äusseres  Objekt 
gerichtet  ist.  Aus  Empfindung  und  Lust  bestehen  alle 
Leidenschaften  und  rechtlichen  Institutionen  der  Mensch¬ 
heit.  Hobbes  setzt  die  Materie  auf  den  Thron.  „Des 
Puritanismus  überdrüssig  beschränkten  die  Höflinge  das 
menschliche  Leben  auf  tierisch-sinnliche  AusscliAveifung; 
des  Puritanismus  überdrüssig  beschränkte  Hobbes  die 
menschliche  Natur  auf  ihre  sinnliche  Seite.  Die  Höflinge 
Avaren  Atheisten  und  Sinnesmenschen  in  der  Praxis,  er 
Avar  Atheist  und  Sinnesmensch  im  Keicli  der  Spekulation. 
Durch  sie  AA^ar  Naturtrieb  und  Egoismus  Mode  geAA^orden, 


Düliren,  Das  Geschlechtsleben  in  England.** 


18 


er  slii'ieb  die  Philosophie  des  Egoismus,  des  Naturtriebes; 
sie  hatten  in  ihrem  Herzen  alle  edleren  und  feineren  Gefülile 
ertötet,  er  ertötete  alle  edleren  nnd  feineren  Gefühle  im 
Herzen.  Er  brachte  ihre  Sitten  in  ein  System,  er  lieferte  das 
Handbuch  ihrer  Lebensweise  und  sclirieb  im  Voraus  die 
Maximen  nieder,  die  sie  dann  praktisch  bethätigen  sollten. “i) 

Diese  utilitaristisch  -  sensualistische  Philosophie  ent¬ 
sprach  der  Stimmung  der  Zeit.  Sie  ward  Modesache. 
Hobbes  ist  für  die  englische  Kestauration  das,  was  die 
französischen  Materialisten  des  18.  Jahrhunderts  für  die 
Gesellschaft  Ludwig’ s  XV.  gewesen  sind.  Der  Hohbis- 
mus,  sagt  Macaulay,  ward  bald  ein  fast  wesentlicher 
Teil  des  Charakters  eines  vollendeten  Gentleman.^) 

Indessen  war  trotz  aller  Bemühungen,  französische 
Manieren  nachzuahmen,  der  Hof  Karl’s  IL  und  die 
Gesellschaft  jener  Zeit  weit  von  der  Eleganz,  der  Feinheit 
und  dem  Geiste  entfernt,  welche  die  französische  Korrup¬ 
tion  in  einem  so  verführerischen  Lichte  erscheinen  lassen. 
Darüber  darf  man  sich  bei  der  Lektüre  der  diese  Zustände 
immerhin  noch  idealisierenden  „Memoiren  Grammont’s“ 
von  Hamilton  keiner  Täuschung  hingeben.  Wenn 
H  a  m  i  1 1 0  n  sagt :  „Es  atmete  am  Hofe  Alles  Freude, 
Genuss  und  jene  Pracht  und  Verfeinerung,  wie  sie  nur 
die  Neigungen  eines  zärtlich  gestimmten,  galanten  Fürsten 
hervorrufen  können.  Die  kSchönheiten  wollten  bezaubern 
und  die  Männer  strebten  nur  zu  gefallen,  jeder  endlich 
machte  seine  Gaben  geltend,  wie  es  anging.  Einige 

M  H.  Tai  ne  a.  a.  (>.  Bd.  II  S.  24—28. 

‘h  Tli.  B.  jMacaiilay,  „Geschichte  von  England“.  Deutsch 
von  W.  Beseler,  Braunschweig  1852.  Bd.  I  S.  195.  Ganz 
vortrelflicli  ist  die  Philosophie  dos  Hobbes  im  Verhältnis  zu 
ihrer  Zeit  dargestellt  von  K  u n  o  F is  ch  er  „Francis  Bacon  und 
seine  Nachfolger“  2.  Autl.  Leipzig  1875  .8.  517 — 544. 


19 


^zeichneten  sich  durch  Grazie  im  Tanz  aus,  andre  durch 
Aufwand  in  der  Erscheinung  und  andere  durch  Geist, 
die  meisten  durch  Verliebtheit  und  sehr  wenige  durch 
Treue,“  so  ist  da  mit  taciteischer  Kürze  ein  glänzendes 
Bild  der  Leichtfertigkeit  und  des  Cynismus  jener  Gesell¬ 
schaft  gezeichnet.  Aber  es  wird  ein  wesentliches  Element 
verschwiegen,  tvelches  auch  jenen  „fröhlichen,  gedanken¬ 
losen  Tagen  Karl’s  11.  (tiie  merry  thoughtless  days  of 
■Charles  the  Second)  den  spezifisch  englischen  Charakter 
aufprägt.  Das  ist  die  grenzenlose  K  o  h  e  i  t  und  Brutalität 
hei  den  Ausschweifungen.  Nicht  ,, Grammont“  muss  man 
lesen,  um  diese  kennen  zu  lernen,  sondern  das  Tagebuch 
des  guten  Pepys,  die  Poesien  eines  Roche  st  er,  die 
Komödien  eines  Ether  ege’,  Wycherley,  Vanbrugh, 
Farqhar  u.  a.^)  Vor  allem  wohl  aus  ihnen  hat  Tai  ne 
sein  durchaus  richtiges  Urteil  über  die  Immoralität  der 
Restaurationszeit  entnommen.  Er  zieht  eine  interessante 
Vergleichung  zwischen  der  französischen  und  englischen 
Korruption  jener  Periode.  „Der  französische  Firniss  täuscht 
und  blendet  uns.  Bei  einem  Franzosen  ist  die  Aus¬ 
schweifung  nur  zur  Hälfte  anstössig;  wenn  bei  ihm  das 
Bestialische  im  Menschen  entfesselt  wird,  so  geschieht  es 
nicht  in  schrankenlosem  Excess;  er  ist  im  Grunde  nicht 
•eigentlich  roh  und  gewaltig,  wie  der  Engländer.  Man 
kann  die  schimmernde  über  ihn  gebreitete  Eisdecke 
durchbrechen,  ohne  die  reissende,  trübschlammige  Flut 
zu  entfesseln,  die  untei'  seinem  Nachbar  braust  und  tost .  .  .  . 
Ganz  das  Gegenteil  in  England.  Kratzt  man  die  Tünche 
der  Moral  weg,  so  kommt  das  Tierische  im  Menschen 
in  seiner  ganzen  leidenschaftlichen  Roheit  und  Hässlich- 

9  „Graminoiit’s  ^lemoireii“  S.  143. 

9  Ausführlich  gehe  ich  auf  diese  litterari-schen  Dokumente, 
die  auch  das  bürgerliche  Leben  jener  Zeit  schildern,  ini  zehnten 
Kapitel  ein. 


2ü 


keit  zum  Vorsclieiii.  Ein  englischer  Staatsmann  tliat  den 
Ansspruch,  dass  in  Frankreich  die  Wut  des  entfesselten 
Pöbels  durch  einen  Appell  an  die  Menschlichkeit  und 
Ehre  besänftigt  werden  könnte,  während  man  ihm  in 
England  zu  seiner  Beschwichtigung  rohes  Fleisch  vor¬ 
werfen  müsste.  Schändung,  Blut,  Orgie,  das  ist  das- 
Element,  in  dem  sich  dieser  vornehme  Pöbel  wohl  fühlte, 
alles  was  einen  Carneval  entschuldigt,  fehlt  hier,  vor 
allem  der  Geist.“ 

Ich  glaube,  dass  selbst  die  Lektüre  von  „Grammont’s 
Memoiren“  Jeden  davon  überzeugen  wird,  dass  niemals 
die  Liebe  roher  und  gemeiner  war  als  in  der  englischen 
Gesellschaft  der  Restauration.  Niemals  haben  Männer  die- 
Frauen  so  brutal,  gewissenlos  behandelt  und  entwürdigt. 
Niemals  ist  der  Cult  der  rein  sinnlichen  Anbetung  des- 
Weibes  in  einer  ekelerregenderen  Weise  betrieben  worden. 
Treffend  bemerkt  Macaulay:  „Ausschweifende  Zügel¬ 
losigkeit,  die  natürliche  Folge  naturwidriger  Strenge,  war 
damals  Mode,  und  die  Sittenlosigkeit  entbehrte  nicht  ihres- 
gewöhnlichen  Erfolgs,  der  sittlichen  und  geistigen 
Erniedrigung  des  weiblichen  Geschlechts.  Es- 
gehörte  zum  guten  Ton,  der  körperlichen  Schönheit  der 
Frauen  eine  rohe  und  unverschämte  Huldigung  zu  bringen 
aber  die  Bewunderung  und  das  Verlangen,  welche  sie 
eintlösste,  war  selten  verbunden  mit  Achtung,  mit  wahrer 
Zuneigung  oder  mit  irgend  einem  ritterlichen  Gefühle,, 
und  die  Eigenschaften,  welche  sie  befähigten,  Lebens¬ 
gefährten,  Ratgeber,  zuverlässige  Freunde  zu  sein,  stiessen 
die  Wüstlinge  von  Whitehall  zurück,  anstatt  sie  zu  fesseln. 
An  jenem  Hofe  hatte  eine  Hofdame,  welche  sich  in  solcher 
Weise  kleidete,  dass  ihrem  weissen  Busen  vollkommene 
Gerechtigkeit  widerfuhr,  welche  mit  verständlichem  Aus- 


’)  H.  Taine  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  8:  S.  11. 


21 


druck  liebäugelte,  welche  wollüstig  tanzte,  welche  durch 
schnelle  und  kecke  Antworten  sich  auszeichnete,  welche 
sich  nicht  schämte,  mit  Kammerherren  und  Garde-Haupt¬ 
leuten  zu  ringen,  zweideutige  Verse  mit  zweideutigem  Aus¬ 
druck  zu  singen,  oder  die  Kleidung  eines  Pagen  zur  Aus¬ 
führung  irgend  eines  lustigen  Streiches  anzuziehen,  mehr 
Aussicht,  von  einem  Schwarm  von  Bewunderern  umgeben 
zu  sein,  durch  königliche  Aufmerksamkeiten  geehrt  zu 
werden,  einen  reichen  und  vornehmen  Ehemann  zu  ge¬ 
winnen,  als  Johanna  Grey  oder  Lucy  Hutchinson 
gehabt  haben  würde.“ 

Wer  sich  unmittelbar  in  diese  Zeit  versetzen  und  ein 
Bild  von  ihr  gewinnen  will,  das  sich  in  seiner  wunder¬ 
vollen  Plasticität  für  immer  dem  Gedächtnisse  einprägt, 
der  muss  die  berühmten  „Memoires  du  Comte  de 
G  r  a  m  m  o  n  t“  von  Antoine  Hamilton^)  lesen,  das 
französisch  geschriebene  Buch  eines  Engländers,  ein  Werk, 
von  dem  der  Abbe  Voisenon  sagte,  dass  es  an  der 
Sjdtze  derjenigen  Bücher  sich  befinde,  die  man  jedes 
Jahr  regelmässig  wieder  lesen  müsse. Ich  stehe  nicht 
an,  Hamilton  mit  Tacitus  zu  vergleichen.  Auch  er 
steht  wie  der  grosse  römische  Geschichtschreiber  über 
den  Ereignissen,  auch  er  versteht  es,  durch  gedrungene 

1)  Macauhiy  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  19G — 197. 

-)  Erste  Ausgabe:  „Memoires  de  la  vie  du  comte  de 
Grammont,  contenant  particulierement  rinstoire  amoureuse  de 
Ja  cour  d’Angleterre,  sous  le  regne  de  Charles  H.‘'  Köln  1713.  — 
<Tute  Ausgaben  (mit  Anmerkungen  und  Judex)  von  G.  Brun  et 
(Paris  1859)  und  H.  Motheau  (Paris  1876).  —  Von  mir  be¬ 
nutzte  französische  Ausgabe  „iMemoires  du  comte  de  Grammont 
})ar  A.  Hamilton“  Nouv.  e'dition  (mit  dem  Essay  von  St. 
lleuve)  Paris,  Garnier  Ereres  o.  J.  —  Vortrefi'liche  deutsche 
Eebersetzung  von  A.  Heller,  .lena  1853. 

^1  C.  A.  Sainte-Beuve  „Causeries  du  Eundi“,  Paris 
(Garnier  freres)  o.  J.  Bd.  I  S.  102. 


22 


Kürze  die  Lebendigkeit  und  den  Eindruck  seiner  Schil¬ 
derungen  zu  erhöben  und  den  Leser  so  mitdenken  zu 
lassen.  Dabei  ist  sein  Buch  frei  von  der  Dunkelheit  und 
Melancholie  des  taciteischen  Stiles.  Ich  zweifle  nicht 
daran,  dass  Hamilton  den  Tacitus  zum  Vorbilde  ge¬ 
habt  hat.  Ich  kann  auch  nicht  Sainte-Beuve  bei¬ 
stimmen,  der  in  seinem  berühmten  Essay  über  die 
„Memoires  de  Grammont‘‘^)  Hamilton  als  einen  echt 
französischen  Schriftsteller  bezeichnet.  Gewiss  ist  da& 
richtig,  sobald  man  seinen  Stil  in  formaler  Beziehung 
betrachtet,  der  alle  Vorzüge  der  französischen  Memoiren¬ 
werke,  ihre  Klarheit,  ihre  glänzenden  pointirten  Schil¬ 
derungen,  ihren  Reichtum  an  feinen  Beobachtungen  und 
geistvollen  Bemerkungen  aufweist.  Aber  was  den  Inhalt 
an  sich  betrifft,  so  verleugnet  Hamilton  nicht  den 
Engländer.  Es  ist  kein  Wort  und  kein  Satz  der  blossen 
Form  wegen  gesagt,  wie  man  dies  so  oft  in  französischen 
Schriften  findet,  sondern  mit  jedem  Satze  schreiten  auch 
Schilderung  der  Begebenheiten  und  Handlung  der  Per¬ 
sonen  fort.  Vor  den  Augen  des  Lesers  lebt  jene  grosse 
Epoche  wieder  auf.  Es  ist  ihm,  als  wenn  er  sich 
mitten  in  ihr  befinde  und  den  lebendigsten  Anteil  an  all 
den  nichtigen  und  amüsanten  Ereignissen  nehme.  Ich 
rechne  Hamiltons  Schrift  zu  den  im  besten  Sinne  des 
Wortes  humoristischen  Schriften.  Überall  blickt  der 
Humor  durch,  mit  welchem  der  Verfasser  dieses  ganze 
leichtfertige  und  oberflächliche  Treiben  betrachtet.  Kein 
herbes  Urteil  entschlüpft  seinem  Munde.  Gelassen  und 
leise  lächelnd  registriert  er  die  Laster  und  die  tollen 
Streiche  dieser  ausschweifenden  Gesellschaft.  Sainte- 
Beuve  sagt  von  „Grammont’s  Memoiren“:  „Le  fond  en 


Sainte-Beuve  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  92 — 107. 


23 


est  mince,  non  pas  precist^ment  frivole,  comme  on  l'a  dit; 
il  n’est  pas  plus  frivole  (pour  etre  si  leger)  qiie  tont  ce 
qui  a  pour  matiere  la  comedie  liumaine.  .  .  .  Eien  n’egale 
cette  fa9on,  de  dire  et  de  conter,  facile,  lieureuse,  unissant 
le  familier  au  rare,  d’une  raillerie  perpetuelle  et  presque 
insensible,  d’une  Ironie  qui  glisse  et  n’insiste  pas,  d’une 
medisance  aclievee.“^)  Er  meint,  dass  das  18.  Jahrhundert 
mit  Hamilton  anfängt.  Dieser  habe  schon  die  „phrase 
courte“  von  Voltaire.  Die  Eichtigkeit  dieser  letzteren 
Vergleichung  erhellt  auch  aus  Byron’s  Bemerkung  über 
Grammont’s  Memoiren  in  den  Gesprächen  mit  Medwiii: 
,, Nichts  ist,  für  mich  wenigstens,  unterhaltender  als  ein 
Werk  dieser  Art,  als  eine  Selbstbiographie,  wie  Hamil¬ 
tons  Memoiren  zum  Beispiel,  die  Voltaires  Styl  ge¬ 
bildet  hatten.  Frau  von  Stael  pflegt  zu  sagen:  „de 
Grammont“  ist  ein  Buch,  das  bei  wenig  Stoff  mehr  An¬ 
ziehendes  enthält,  als  irgend  eins,  das  ich  kenne.“^) 
Voltaire  bildete  also  seinen  Stil  an  demjenigen  Ha¬ 
milton’ s,  dessen  unvergleichliche  Leichtigkeit  und  Eein- 
heit  Gibbon  so  sehr  gepriesen  hatte,  ein  Urteil,  welches 
Voltaire  und  nach  ihm  Horace  Wal  pole  zu  dem 
ihrigen  machten.^)  Auch  heute  noch  wären  unter  den 
,, stilbilden  den“  Schriften  diese  Memoiren  an  erster  Stelle 
zu  nennen. 

Anthony,  Graf  von  Hamilton,  stammt  aus  einer 
iiisch-schottischen  Herzogsfamilie,  und  wurde  164()  in 
Irland  geboren.  Nach  der  Hinrichtung  Karls  1.  wanderte 
er  mit  seiner  Familie  nach  Frankreich  aus  und  nahm 

1)  ibidem  S.  98,  S.  99. 

2)  Thomas  iNiedwiii  „Gespräche  mit  Lord  Byron“  deutscli 
von  A.  V.  d.  Linden  2.  Aull.  Lei|)z,  1898  ('Verlag  von  II.  Bars¬ 
dorf)  S.  130. 

2)  ,,Granimont’s  Memoiren“  (Lrläiiterungen)  S.  293. 


24 


später  Dienste  in  der  Armee  Ludwig’ s  XIV,  kehrte 
dann  nach  England  zurück,  wo  er  am  Hofe  Karl’s  11. 
lebte  und  erhielt  von  Jakob  11.  eine  Stelle  als  Oberst¬ 
lieutenant  in  Irland.  Nacli  der  Eevolution  von  1688 
folgte  er  diesem  Könige  nach  Frankreich  und  lebte  an 
dessen  Hofe  zu  Saint-Germain,  wo  er  im  Verkehr  mit 
schönen  und  geistvollen  Frauen  in  Müsse  seinen  litte- 
rarischen  Neigungen  folgen  konnte.  Er  machte,  besonders 
ermuntert  von  seiner  jungen  Freundin  Henriette 
Bulkely,  Couplets  nach  Art  von  Co  ul  an  ge  s,  schrieb 
an  seine  Freunde  Briefe  in  Prosa,  untermischt  mit  Versen 
wie  sie  Chaulieu  machte.  Mit  diesem  war  er  befreundet, 
ebenso  mit  der  Gesellschaft  des  Tempi e,  und  war  ein 
sehr  gesuchter  Gast  in  Sceaux,  wo  die  Herzogin  von 
Maine  Hof  hielt.  Auch  verfasste  er  Erzählungen,  die 
aber  ebenso  wie  seine  Verse  vergessen  sind.  Erst  im 
Jahre  1704  ging  er,  um  seinen  mehr  als  achtzigjährigen 
Schwager  Grammont  zu  erfreuen  und  zu  unterhalten, 
daran,  die  Jugendabenteuer  desselben  zu  schildern.^) 
Hamilton  starb  am  21.  April  1720  als  gläubiger  Ka¬ 
tholik,  in  diesem  Punkte,  wie  Sainte-Beuve  bemerkt, 
wieder  ein  Mensch  des  17.  Jahrhunderts.  Merkwürdiger¬ 
weise  erschien  dieser  witzige  Geist  im  persönlichen  Ver¬ 
kehr  ernst  und  zurückhaltend.  Voisenon  erzählt,  dass  der 
Graf  Ca3Gus,  der  Hamilton  oft  bei  seiner  Mutter  sah, 
ihm  öfter  gesagt  habe,  dass  er  nicht  liebenswürdig  sei. 
Saint-Simon  fand  bei  Hamilton  und  dessen  Brüdern 
einen  „coiu  de  singularite.‘‘^)  Hamilton  selbst  klagt 

b  Er  machte,  nachdem  er  das  JMaterial  gesammelt  hatte, 
zuerst  Boileau  den  Vorschlag,  diese  Memoiren  zu  yerfassen. 
Aber  da  dieser  selbst  fürchtete,  dass  seine  Satire  dem  Grafen 
G  r  a  in  m  o  n  t  verletzen  könnte,  entschloss  sich  Hamilton 
selbst  zur  Bearbeitung  des  interessanten  Stoffes. 

b  Sainte-Beuve  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  106. 


darüber,  dass  ihm  die  Fähigkeit  des  raschen,  mündlichen 
Ausdrucks  fehle.  Seine  innerste  Natur  aber  war  eine 
ruhige  Heiterkeit,  jene  Gemütsart,  die  seinem  Werke 
■einen  unvergänglichen,  klassischen  Charakter  verliehen 
hat,  nach  Dante ’s  Worten; 

Nur  aus  der  Heiterkeit,  die  nimmer  trübe. 

Kommt  Licht;  —  all’  andres  ist  nur  Dunkelheit, 
Ist  Schatten  oder  Gift  der  Fleischestriebe. 

So  können,  wie  Heller  mit  Recht  sich  ausdrückt, 
die  ,,Memoires  de  Grammont^'  als  einzig  in  ihrer  Art  be¬ 
trachtet  werden.  Keine  Sprache  weist  Ähnliches  auf,  und 
der  lockere  Stoff  befleckt  nicht  denjenigen,  der  ihn  als 
Äleister  beherrschte.^) 

Schon  Sainte-Beuve  hat  bemerkt,  dass  es  un¬ 
möglich  ist,  die  „Memoires  de  Grammont^‘  zu  analysiren. 
Man  muss  dieselben  im  Zusammenhänge  lesen,  um  ein 
richtiges  und  eindrucksvolles  Bild  der  Restaurationszeit  zu 
gewinnen.  Ich  werde  bei  der  Schilderung  dieser  Epoche 
auch  andere  Quellen  zu  Hülfe  nehmen,  damit  die  Charak¬ 
teristik  der  Zeit  und  der  Persönlichkeiten  möglichst 
deutlich  gegeben  werde. 

Die  Gesellschaft  der  Restauration  ist  einzig  und  allein 
«ine  Schöpfung  des  Königs  KarlH.  Sie  steht  und  fällt 
mit  ihm.  Niemals  hat  ein  König,  selbst  nicht  Ludwig 
XV.,  seiner  näheren  und. weiteren  Umgebung  so  sehr  den 
Stempel  seiner  Persönlichkeit  aufgeprägt  wie  Karl  H. 
Man  sage  nicht,  dass  es  immer  die  energischen  Charaktere 
sind,  welche  auf  ihre  Zeitgenossen  den  grössten  Einfluss 
ausüben.  Auch  die  Energielosigkeit  kann  gewissermassen 
inficierend  wirken,  zumal  wenn  sie  sich  bei  einem  solchen 
Virtuosen  des  Vergnügens  findet  wie  König  Karl  es  war. 

C  „Grammont’s  Memoiren“  (Erläuterungen)  S.  293— 2D4. 


26 


Hinzu  kommt  noch  die  allgemeine  Stimmung  des  Volkes, 
die  in  dem  aus  der  Verbannung  lieimkehrenden  König 
den  Befreier  aus  den  drückenden  Fesseln  des  Puritanismus 
sah  und  den  Beginn  einer  neuen,  heiteren  Lebensrichtung 
von  seiner  Rückkehr  datirte.  Nie  war  ein  König  in 
England  so  populär  wie  Karl  11.  Macaulay  entwickelt 
vortrefflich  die  Ursachen  dieser  Volkstümlichkeit. 

,,üie  Unglücksfälle  seines  Hauses,  der  heldenmütige 
Tod  seines  Vaters,  seine  eigenen  langen  Leiden  und 
romantischen  Abenteuer  machten  ihn  zum  Gegenstand 
einer  zarten  Teilnahme.  Seine  Rückkehr  hatte  das  Vater¬ 
land  von  einer  unerträglichen  Knechtschaft  befreit;  ge¬ 
rufen  durch  die  Stimme  beider  streitenden  Fractionen, 
befand  er  sich  in  einer  Lage,  welche  ihn  in  den  Stand 
setzte,  zwischen  sie  als  Schiedsrichter  zu  treten,  und  in 
einigen  Rücksichten  war  er  einer  solchen  Aufgabe  ge¬ 
wachsen.  Er  hatte  von  der  Natur  vortreffliche  Anlagen 
und  ein  glückliches  Temperament  erhalten. ‘‘  Seine  Leut¬ 
seligkeit  und  Jovialität  machten  sich  nicht  blos  in  der 
engeren  Hofgesellschaft,  sondern  in  weiten  Kreisen  des 
Volkes  geltend,  da  der  König  jedem  Gentleman  den  Zutritt 
zu  seinem  Palaste  gestattete.  ,,I)er  König  hielt  täglich 
und  bis  in  die  Nacht  hinein  für  die  gute  Gesellschaft 
von  London  offenes  Haus,  nur  die  extremen  Whigs  durften 
nicht  kommen.  Kaum  ein  Gentleman  üind  Schwierig¬ 
keiten,  in  die  Nähe  des  Königs  zu  gelangen.  Das  Lever 
war  genau  das,  was  das  Wort  bezeichnet;  einige  IMänner 
von  Auszeichnung  kamen  jeden  Morgen,  bildeten  einen 
Kreis  um  ihren  Herrn,  plauderten  mit  ihm,  während  seine 
Perrücke  gekämmt  und  sein  Halstuch  gebunden  ward,  und 
begleiteten  ihn  auf  seinen  Morgenspaziergängen  durch  den 
Park.  Alle  in  gehöriger  Weise  eingeführte  Personen 


27 


durften  ohne  besondere  Einladung  kommen,  um  zu  sehen, 
wie  er  zu  Mittag  und  zu  Abend  ass,  tanzte  und  Hazard 
spielte,  konnten  das  Vergnügen  haben,  ihn  Geschichten 
erzählen  zu  hören,  und  diese  erzählte  er  in  der  That 
ausgezeichnet  gut  .  .  .  Zuhörer,  welche  seine  Majestät 
erkannten,  wurden  oft  gerufen,  um  ein  freundliches  Wort 
zu  liören.  Auf  diese  Weise  machte  er  wirksamer  seinen 
königlichen  Beruf  geltend,  als  sein  Vater  oder  Grossvater 
es  jemals  vermocht  hatten.  Es  war  nicht  leicht  für  den 
strengsten  Republikaner  aus  der  Schule  des  Marvel,  dem 
Zauber  von  so  viel  guter  Laune  und  Leutseligkeit  zu 
widerstehen,  und  mancher  alte  Cavalier,  an  dessen  Herzen 
die  Erinnerung  un vergoltener  Opfer  und  Dienste  zwanzig 
Jahre  hindurch  genagt  hatte,  ward  in  einem  Augenblicke 
für  Wunden  und  verlorene  Güter  entschädigt,  wenn  sein 
Souverän  ihm  freundlich  zunickte  mit  den  Worten  :  „Gott 
segne  Euch,  mein  alter  Freund.“^)  Diese  Leutseligkeit 
des  Monarchen  paarte  sich  mit  einem  weichen,  milden, 
zärtlichen,  lässigen  Wesen.  Wenn  Trägheit  aller  Laster 
Anfang  ist,  so  trift't  dies  besonders  bei  Karl  11.  zu.  In 
einer  alten  Ausgabe  der  Werke  von  R  o  c  h  e  s  t  e  r  und  1)  o  r  s  e  t 
findet  sich  eine  merkwürdige  Charakteristik  des  Königs, 
die,  wie  es  scheint,  wenig  beachtet  worden  ist,  nach 
meiner  Ansicht  aber  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Kenntnis 
der  Persönliclikeit  desselben  liefert.  Dort  wird  gesagt, 
dass  Karl  mehr  nachlässig  als  wollüstig  gewesen  sei. 
Und  wie  viele  weibliche  Libertinen  jener  Zeit  hätte  er 
sich  mehr  zu  Ausschweifungen  verleiten  lassen  um  andere 
glücklich  zu  machen,  als  selbst  mit  Absicht  und  Wahl 
solche  zu  seinem  eigenen  Vergnügen  gesucht.  Besonders 
in  den  letzten  Zeiten  seines  Lebens  wäre  mehr  Trägheit 


.Macaulay  a.  a.  O. 


Bd.  1  S.  181:  Bd.  II  S.  95— 9G. 


•28 


als  Liebe  in  allen  jenen  Stunden  gewesen,  die  er  unter 
seinen  Maitressen  verbraclit  habe.  Letztere  hätten  eigent¬ 
lich  nur  dazu  gedient,  sein  Serail  zu  füllen.  Sein  eigent¬ 
liches  Vergnügen  sei  die  Unterhaltung  und  die  Tändelei 
gewesen.!)  Bei  der  Psjxhologie  des  Wüstlingtums  darf 
man  nicht  übersehen,  dass  es  nicht  immer  die  Wollust  ist, 
welche  den  Müssiggang  erzeugt.  Oft  genug  besteht  der 
umgekehrte  Circulus  vitiosus.  Trägheit  ist  die  LTrsache 
des  Lasters.  So  war  auch  Karl  11.  ein  „Liebhaber  des 
Müssiggangs  und  leichtfertiger  Vergnügungen,  unfähig, 
sich  selbst  zu  beherrschen  und  sich  anzustrengen,  ohne 
Glauben  an  menschliche  Tugend  und  menschliche  Zu¬ 
neigung,  ohne  Begierde  nach  Ruhm  und  ohne  Emi)findung 
für  Tadel  .  .  .  Seine  leichtsinnige  Schwäche  war  von 
einer  Art,  wie  sie  niemals  ein  Mann  von  gleichem  Ver¬ 
stände  besessen  hat;  er  war  ein  Sklave,  ohne  ein  Be¬ 
trogener  zu  sein;  .  .  dabei  über  alles  Mass  dem  Sinnes¬ 
genuss  ergeben.““) 

Treffend  ist  Hamilton’s  kurze  Schilderung  Karl ’s: 
„Der  König  stand  an  Gestalt,  an  Haltung  und  Tracht 
keinem  nach.  Sein  Geist  war  gewandt,  sein  Charakter 
mild  und  freundlich.  Allen  Eindrücken  offen  war  seine 
Seele  mitleidsvoll  für  das  Unglück  gestimmt,  unbeugsam 
gegen  Verbrechen,  und  sein  Herz  war  bis  zum  Obermaass 
zärtlicher  Natur.  Bei  dringenden  Gelegenheiten  jeder 
Anstrengung  fähig,  vermochte  er  bei  gewöhnlichem  Gange 
der  Dinge  sich  mit  nichts  ernst  zu  beschäftigen.  Oft  war 
er  das  getäuschte  Opfer,  öfter  noch  der  Sklave  seiner 
Neigungen.“ 

h  ,.A  Short  Cliarncter  of  King  Charles  H“  in:  The  Works 
of  the  Earls  of  Rochester,  Roscommon,  Dorset  etc.“  London 
1714,  1)(1.  1,  S.  LH  bis  LX. 

Macaiilay  a.  a.  (4.  S.  181  — 182;  S.  183. 

'h  ,,Crainmoüt’s  Memoiren“  S.  75. 


•29 


Wenn  dieser  König  ohne  Grundsätze,  ohne  Charakter 
und  Energie  auch  eine  sehr  sinnliche  Natur  war  und  sich 
einen  wahren  Harem  von  Maitresseu  einrichtete,  so  war 
ihm  doch  die  Liebe  mehr  Zeitvertreib  als  tiefe  Leiden¬ 
schaft.  Die  Liebe  galt  der  Gesellschaft  jener  Zeit  als 
eine  verwertbare  Münze.  Mrs.  Manley  sagt  in  ihrer 
,,Atalantis“:  „Dass  man  heut  zu  Tage  nicht  mehr  also  zu 
lieben  pflege,  sondern  unter  dieser  Passion  seinen  Nutzen 
und  Glücke  hauptsächlich  intendiren  müsse.“  i)  Es  lag 
im  Interesse  der  Frauen,  alle  Welt  in  sich  verliebt  zu 
machen,  und  die  Indifferenz  eines  Cavaliers  wurde  schon 
als  eine  Beleidigung  empfunden.  Der  König  befestigte 
durch  sein  Beispiel  diese  Anschauung.  Schon  damals 
tauchten  auch  die  „vapeurs“,  die  ,, Dünste“,  unsere  heutige 
Hysterie  auf,  um  Veränderungen  in  der  Liebe  eiii- 
zuleiten  und  betrogene  Ehemänner  zu  täuschen  und  zu 
trösten.  „Es  war  damals  Mode,  allen  dergleichen  Kranck- 
heiten,  deren  Ursache  man  nicht  wüste,  den  Nahmen  der 
Dünste  beyzulegen.  Wann  etwan  eine  Dame  kein  Geld 
hatte,  hasset te  zu  spielen,  und  ihr  Mann  wollte  ihr 
keines  geben,  so  kamen  ihr  alsobald  die  Dünste  zu  Hülffe, 
und  sie  unterliesse  ja  nicht,  von  denenselben  beschwehret 
zu  werden.  Dessgleichen,  wann  man  ihr  die  Freyheit 
benahm,  eine  kleine  Lust-Gesellschafft  mit  andern  anzu¬ 
stellen,  so  verfügte  sie  sich  incognito  in  einer  Mieth- 
Kutsche  zu  ihrer  Schneiderin,  unter  den  Voiuvand,  sich 
ein  Kleid  machen  zu  lassen;  ihr  Amant  aber  kam  auch 
darzu,  und  durch  diese  artige  Erfindung  war  der  Mann 
betrogen ;  doch  was  wolte  er  machen ;  wiedersetzte  er  sich 

y  „Die  Atalantis  der  ^Madame  Manley  oder  eine  ge- 
lieime  Nachricht  von  denen  vornehmsten  Personen  in  Engelland“ 
Haag  1714,  S.  631. 

■’)  ibidem  S.  488. 


30 


dem  Willen  der  Dame,  so  muste  er  gewärtig  seyii,  dass 
die  Dünste  ihr  liefftig  ziisetzten.  Mit  einem  Wort,  die 
Dünste  waren  so  starck  Mode,  dass  man  wohl  sagen 
konte,  dass  diese  ünpässliclikeit  zum  Vorwand,  und  offt 
gar  zur  Artzney  vor  allerley  Krankheiten  diente.“^) 

Nach  diesen  Vorhemerkiingen  über  den  äusseren 
Charakter  des  Hofes  KarPs  11.  suchen  wir  uns  die  her¬ 
vorragendsten  Persönlichkeiten  dieses  Hofes  zu  vergegen¬ 
wärtigen.  Zunächst  die  Damen. 

Es  ist  eine  erlesene  Gallerie  wunderbarer  Schönheiten, 
welche  uns  da  entgegentritt.  Ich  habe  schon  im  ersten 
Hände  dieses  Werkes  über  die  aussergewöhnliche  Schönheit 
der  englischen  Frauen  berichtet.  Ich  verweise  an  dieser 
Stelle  noch  auf  das  interessante  Kapitel  ,,La  beaute  ang- 
laise“  in  einem  Buche  von  Felix  Kemo.  Die  Eng¬ 
länderin  hat  nach  Eemo  etwas  von  den  Jungfrauen  des 
Murillo.  Sie  fiel  eines  Tages  aus  dem  Aetlier  wie  eine 
graciöse  Feuerkugel  (bolide)  und  hat  in  ihren  leuchtenden 
Augen  noch  zwei  Überbleibsel  dieser  Sternennatur  bewahrt. 
Diese  Augen  sind  zärtlich  und  tief,  verschleiert,  zugleich 
sanft  und  voll  Leuchten.  Das  schelmische  Auge  ist  nicht 
englisch,  sondern  französisch.  Ohr  und  Nase  der  Eng¬ 
länderin  sind  klein,  das  Gesicht  ist  von  einem  graciösen 
Oval,  der  Teint  durchsichtig,  ein  wenig  blass,  von  einem 
tlüchtigen  Kot  durchleuchtet.  Der  Mund  ist  ausser¬ 
ordentlich  zierlich,  so  dass  man  „ihn  kaum  küssen  kann“, 
dabei  von  einer  feinen,  reizenden  Wölbung.  Der  ganze 
Körper  ist  wie  von  Seide.  Und  ,,rjen  n’est  plus  gracieux 

b  ibidem  S.  484. 

2)  S.  35—62. 

b  F.  Kemo  ,,La  Vie  Galante  en  Angleterre“  Paris  1887. 
S.  121-133. 


31 


que  les  courbes  delicates  et  provocantes  dont  est  fait 
riiiterienr  des  jambes,  dans  leiir  ligne  ascendante.“  Was 
den  feinen,  sanften,  harmonischen  Gesichtern  der  Eng¬ 
länderinnen  am  meisten  fehlt,  ist  der  Ausdruck,  die 
sprecliende  Physiognomie,  welche  die  Schönheit  der  Frauen 
des  Continents  ausmacht.  „On  dirait  qu’elles  ne  pensent 
pas,  quelles  ne  sentent  rien.  L’enthousiasme  ne  les 
deride  jamais;  les  grandes  sensations,  les  emouvantes 
admirations  n’illuminent  pas  ces  jolis  traits,  voues  ä  une 
Sorte  d’indifference.  Elles  ne  montrent  jamais,  meines 
dans  les  chaudes  expansions  d’amour,  ces  eclairs  passionnes 
des  filles  lascives  de  POrient.  Le  sourire  est  la  seule 
cause  de  mobilite;  aussi  savent-elles  en  jouer,  et  d’une 
maniere  tres  ensorcelante.“i)  Die  Engländerin  ist  mehr 
aetherischer  Natur,  die  Französin  sinnlicher  und  zur 
Sinnlichkeit  mehr  reizend.  Es  sind  die  reinen  und  keuschen 
Züge,  welche  die  Schönheit  der  Engländerinnen  so  an¬ 
ziehend  und  ergreifend  erscheinen  lassen.  Diese  feine 
Transparenz  des  Teints  wirkt  gleichsam  als  ein  Symbol 
der  Unschuld.  Diese  Schönheit  des  englischen  Weibes 
tritt  auch  in  Hamiltons  Schilderung  der  Hofdamen 
Karl ’s  H.  deutlich  hervor.  Wir  finden  in  „GrammonP^ 
dieses  „raout  de  beautes  anglaises  les  plus  fines  et  les  plus 
aristocratiques  du  monde,  et  dont  le  peintre  a  rendu  avec 
distinction  les  moindres  delicatesses“  (Sainte-Beuve). 
Einen  anderen  Eindruck  machten  die  berühmten  Bilder 
von  Le  ly,  die  Tai  ne  mit  denjenigen  Yan  Dyk ’s  ver¬ 
gleicht,  indem  er  sagt,  dass  man  einen  Palast  verlassen 
habe,  um  in  ein  Bordell  zu  fallen.  Ich  •  setze  Tai  ne s 
Urteil  hierher,  ohne  freilicli  dasselbe  völlig  zu  teilen. 


h  ibi'leiii  S.  125. 


,,An  Stelle  jenes  stolzen,  ruhig  vornehmen  Lords,  cler^ 
obgleich  Holmann  ge^yorden,  doch  den  Edelmann  nicht 
verleugnen  kann;  an  Stelle  jener  edlen,  feinen  und  doch 
so  einfachen  Damen,  die  Fürstenhoheit  und  Jungfräulich¬ 
keit  in  sich  vereinen;  an  Stelle  jener  grossherzig-heroischen 
elegant  geschmückten  Gesellschaft,  die,  noch  umsti’ahlt 
vom  Glanze  der  Eenaissance,  doch  schon  die  Verfeinerung 
der  modernen  Zeit  durchblicken  lässt  —  trifft  man  auf 
gefährliche,  zudringlich  herausfordernde  Buhlerinnen  mit 
gemeinen,  widrigderben  Zügen,  jeglichen  Schamgefühls, 
jeglicher  Reue  bar.  Ihre  lleischigen,  vollen,  weichen 
Hände  tändeln  mit  ihren  Grübchenfingern;  eine  schwere 
Lockenfülle  walJt  über  ihre  vollentblössten  Schultern; 
sinnliche  Augen  schmachten  in  verlockender  Glut,  ein 
mattes  Lächeln  umgiebt  ihre  wollustatmenden  Lippen. 
Die  eine  bindet  die  Wellen  üppigen  Haares  auf,  das  un- 
gefesselt  auf  den  rosigen,  fein  gewölbten  Busen  herab¬ 
wallt;  die  andre  öffnet  in  schmachtender  Selbstvergessenheit 
und  nachlässiger  Haltung  einen  Ärmel,  dessen  weiche, 
tiefe  Falten  uns  einen  schneeweissen  Arm  enthüllen.  Fast 
alle  sind  nur  halb  angekleidet,  manche  scheinen  eben  erst 
das  Bett  verlassen  zu  haben;  das  zerknitterte  Nachtgewand 
umschliesst  eng  den  Hals  und  scheint  zerstört  und  be¬ 
schmutzt  durch  eine  wilde  nächtliche  Orgie;  der  zer¬ 
drückte  Unterrock  gleitet  über  die  Hüften,  und  ihre 
Füsschen  zerknittern  die  schillernde,  glänzende  Seide. 
Obgleich  ihr  Busen  schamlos  entblösst,  so  schmücken  sie 
sich  doch  frech  wie  die  Dirnen  mit  reichlicli  überladener 
Pracht;  Diamantengürtel,  bauschige  Spitzen,  glänzende 
Goldspangen,  rauschende,  mit  schweren  Stickereien  besetzte 
Stoffe,  ein  ungeheurer  Haarschmuck,  dessen  üppig  flutende 
Lockenfülle  durch  die  frech  zur  Schau  gestellte  Pracht 


33 


den  pjlick  lieransfordernd  auf  sich  zieht.  Kunstreich  ge¬ 
faltete  Vorhänge  fallen  herab  in  Form  einer  Nische,  und 
die  Augen  tauchen  sinnend  durch  einen  Ausblick  in  die 
stillen  Baumalleen  eines  weiten  Parkes,  dessen  Ab¬ 
geschiedenheit  ihren  sinnlichen  Lüsten  gelegen  sein  wird.‘‘ 

Zu  auffällig  kontrastieren  mit  diesem  Urteile  die 
Schilderungen  Hamilton’s  und  anderer  Zeitgenossen 
der  ,,Hampton  Court  Beauties“,  als  dass  man  nicht  hier 
eine  Übertreibung  annehmen  sollte. 

Unter  den  zahlreichen  Maitressen  KarUs  11.  sind  die 
drei  berühmtesten  ohne  Zweifel  die  Lady  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e , 
die  Herzogin  von  Portsmouth  und  Nelly  Gwynn. 

Barbara  Villiers,  Gräfin  von  Castlemaine 
und  später  Herzogin  von  Cleveland,  wurde  1641  als 
Tochter  von  William  Villiers,  zweiten  Viscount 
Gran  di  so  n  in  Westminster  geboren.  Schon  seit  1656 
war  sie  von  einem  Kreise  zahlreicher  Verehrer  um¬ 
geben,  sie  verheiratete  sich  am  14.  April  1659  mit 
Poger  Palmer,  späteren  Earl  of  Castlemaine.  Er 
scheint  jedoch  nicht  der  Vater  von  irgend  einem  ihrer 
vielen  Kinder  gewesen  zu  sein.  Hie  Intimität  zwischen 
Karl  11.  und  Mrs.  Palmer  begann  am  28.  Mai  1660, 
dem  Tage  der  Kückkehr  des  Königs  nach  Whitehall.  Am 
25.  Eebruar  1661  gebar  sie  ihr  erstes  Kind,  Anna,  das 
der  König  als  seine  Tochter  anerkannte,  obgleich  man 
es  dem  Earl  of  Chesterfield  zusprach,  mit  dem  es 
eine  frappante  Ähnlichkeit  hatte.  Als  am  13.  Mai  1662 
Katharina  von  Braganza,  die  Karl  IL  zu  seiner  Ge¬ 
mahlin  erwählt  hatte,  ankam,  war  der  König,  Avie  Pepys 

b  II.  Taine  a.  a.  0.  Bd.  H  8.3—4.  Taine  bezieht  diese 
Schilderung  besonders  auf  die  Porträts  der  Lady  AloorelancI, 
der  Lady  \\Glliams,  der  Gräfin  Ossory,  der  TIerzogin  von 
Cleveland  und  der  Lady  Pryce. 


Dühreü,  Das  Geschlechtsleben  in  England.**’ 


8 


34 


in  seinem  Tagebncli  erzählt,  ebenfalls  bei  der  Lady 
Castlemaine.  Vor  ihrem  Hause  aber  sei  kein  Licht 
gewesen,  was  grosses  Aufsehen  erregte.  Der  König  und 
seine  Geliebte  hätten  nach  einer  Wage  geschickt,  um 
sich  zu  wiegen;  die  Lady,  welche  guter  Hoffnung  war, 
sei  der  schwerste  Teil  gewesen.  Überhaupt  that  sich  die 
Castlemaine  durch  ein  sehr  arrogantes  Benehmen  gegen 
die  neue  Königin  hervor.  Pepys  erzählt:  ,, Die  Königin 
sagte  inmitten  ihrer  Frauen  zu  Lady  Castlemaine,  sie 
fürchte,  der  König  werde  sich  erkälten,  wenn  er  bei  ihr 
tief  bis  in  die  Nacht  bleibe.  Diese  antwortete  laut:  er 
bleibe  nicht  bei  ihr  so  s])ät,  denn  er  verlasse  sie  immer 
frühzeitig  —  (obgleich  er  selten  vor  2 — 3  Uhr  Morgens 
fortgehf);  —  er  müsse  also  wohl  die  Nacht  wo  anders 
zubringen.  —  Hier  trat  der  König  gerade  ein  und  wie 
er  die  freche  Äusserung  hörte,  flüsterte  er  ihr  ins  Ohr, 
nannte  sie  ein  keckes,  impertinentes  Weib  und  befahl 
ihr,  den  Hof  zu  verlassen.  Sie  that  das  sogleich,  zog 
nach  einer  Mietswohnung  in  Pall  Mall  und  blieb  dort 
2 — 3  Tage.  Dann  liess  sie  den  Fürsten  fragen,  ob  sie 
ihre  Sachen  holen  lassen  könne.  Er  liess  antworten,  sie 
solle  erst  kommen,  sie  zu  sehen.  So  kam  sie  denn,  der 
König  ging  zu  ihr  und  sie  wurden  wieder  gute  Freunde.“ 
Solche  vorübergehenden  Trennungen  waren  häufig,  wobei 
dieses  energische  Weib  den  schwächlichen  König  immer 
derartig  zu  behandeln  wusste,  dass  er  demütig  zu  Kreuze 
kroch.  So  Pepys  ein  ander  Mal:  ,, Wenn  auch  der  König 
und  Ladv  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e  wieder  versöhnt  sind,  so  wohnt 
sie  doch  nicht  in  Wliitehall,  sondern  bei  Sir  D.  Harris, 
wo  der  Fürst  sie  besucht.  Er  sagt,  sie  verlange,  er  solle 
sie  auf  den  Knieen  um  Vergebung  bitten  und  ihr  ver¬ 
sprechen,  sie  nie  wieder  so  zu  beleidigen.  Sie  drohte 


35 


'^virklich,  ihm  seine  natürlichen  Kinder  vor  die  Thüre  zu 
■schicken,  und  so  hat  sie  ihn  fast  um  den  Verstand  ge¬ 
bracht.  In  ihrer  Wut  rief  sie,  sie  wolle  quitt  mit  dem  König 
sein  und  alle  seine  Briefe  an  sie  drucken  lassen.“  Trotz 
■des  Widerstrehens  der  Königin  wurde  Lady  Castle mai ne 
dem  Hofstaat  derselben  zugeteilt.  Im  Juni  1662  gebar 
■sie  dem  Könige  ein  zweites  Kind,  ihren  Sohn  Charles. 
Sie  fing  nunmehr  an,  zahlreiche  andere  Liebschaften  zu 
unterhalten.  Trotzdem  besuchte  sie  der  König  noch 
immer  an  vier  Abenden  in  der  Woche,  indem  er  „durch 
den  Privatgarten  ganz  allein  und  heimlich  zurückkehrte, 
so  dass  die  Schild  wachen  sogar  es  bemerken  und  davon 


sprechen,  was  ein  schlimmes  Ding  für  einen  Fürsten  ist.“ 
(Pepys).  Am  20.  September  1663  kam  das  dritte  Kind 
der  Castlemaine,  Henrjq  zur  Welt.  Der  König  er¬ 
kannte  dieses  Kind  nicht  als  das  seinige  an.  Trotzdem 
überhäufte  er  sie  bei  dieser  Gelegenheit  mit  kostbaren 
Geschenken.  Zwei  weitere  Kinder  folgten  am  5.  Sep¬ 
tember  1664  und  am  28.  December  1665.  Im  Jahre 


1666  bezog  die  Castlemaine  ihre  sehr  luxuriös  aus¬ 
gestatteten  Zimmer  in  Hampton  Court.  Damals  führte 
ihre  Liebschaft  mit  dem  nichtigen  Sir  Harry  Jermyn^) 
zu  häufigen  Streitigkeiten  mit  dem  Könige.  —  Im  März 

b  „Um  zu  den  Herzen  der  Frauen  Zugang  zu  finden, 
bedarf  man  nur  eines  günstigen  Vorurteils  in  ihren  Köpfen. 
Jermyn  fand  sie  für  sich  so  bequem  gestimmt,  dass  er  nur 
.anzuklopfen  brauchte.  Es  half  auch  nichts,  dass  man  entdeckte, 
ein  so  schwacli  begründeter  Ruf  wird  noch  schwächer  be- 
thätigt.  Die  Rezauberung  steckte  an.  Die  Gräfin  Castlemaine, 
lebhaft  und  doch  sonst  als  Kennerin  geltend,  folgte  dem 
täuschenden  Licht,  und  wenn  sie  auch  bald  über  einen  Schein 
aufgeklärt  ward,  der  so  viel  versprach  und  so  wenig  gewährte, 
-SO  wollte  sie  doch  ihren  eigenen  Fehlgriff  nicht  anerkennen. 
Sie  hielt  das  V  erhältnis  bis  auf  die  Gefahr  eines  Bruchs  mit 
fiem  Könige  hin  aufrecht;  so  seltsam  hatte  sie  zum  ersten 
Male  ihre  ä’reue  angebracht.“  GrammonUs  IMemoiren  S.  79. 

3* 


36 


1668,  als  viele  Bordelle  in  der  City  aufgehoben  wurden,, 
erschien  ein  ingeniöses  Pamphlet  ,,Der  armen  Huren 
Petition  an  die  höchst  glänzende,  illustre,  durchlauchtige- 
und  hervorragende  Lustdame,  die  Gräfin  von  Castle maine“,, 
unterzeichnet  Madame  C  r  e  s  w  e  1 P) ;  etwas  später  folgte 
eine  burleske  Antwort  ,,given  at  our  closset  in  King  Street,, 
die  Veneris,  24.  April  1668.“  —  Seit  1674  wurde  die 
Castlemaine  aus  dem  Herzen  des  Königs  verdrängt 
durch  die  Herzogin  von  Portsmouth,  tröstete  sich  aber 
mit  zahlreichen  neuen  Anbetern,  wie  z.  B.  John  Ellis, 
Besonderes  Aufsehen  erregte  ihre  Liaison  mit  dem  Seil-- 
tänzer  Jacob  Hall  und  mit  John  Churchill,  dem 
später  so  berühmten  Herzog  von  Marlbo rough.  Über 
den  Ersteren  berichtet  Hamilton  in  seiner  kurzen,  aber 
vielsagenden  Art:  „Jakob  Hall,  ein  berühmter  Seiltänzer,, 
war  zu  jener  Zeit  in  London  Mode  und  entzückte  durch 
Kraft  und  Gewandtheit  bei  öffentlichen  Vorstellungen;, 
man  wünschte  sich  privatim  von  seinen  Eigenschaften  zu 
überzeugen;  denn  er  wies  in  seiner  Künstlertracht  eine- 
athletische  Gestalt  und  ganz  andre  Beine  auf,  als  der 
sieggewohnte  Jermyn.  Der  Springer  täuschte  die  Er¬ 
wartungen  der  Lady  Castlemaine  nicht;  so  wenigstens 
behauptete  manches  Gerücht  im  Publikum  und  so  ver¬ 
kündeten  es  zahlreiche  Spottgedichte,  allerdings  mehr  zu 
Ehren  des  Tänzers  als  der  Gräfin.  Sie  aber  setzte  sich 
über  alles  Geschwätz  hinweg  und  ihre  Schönheit  leuchtete 
desto  glänzender.“-)  Mary  Manley  hat  in  ihrer 
„Atalantis“  das  Verhältnis  zwischen  Marlbor ough  und 
Lady  Castlemaine  sehr  ausführlich  geschildert.  Die- 

b  Eine  berüchtigte  Kupplerin  zur  Zeit  Karl’s  II.  VgL 
über  dieselbe  Bd.  I  dieses  Merkes  S.  340 — 341. 

2)  „Graininont’s  ]\Ieinoiren.‘'  S.  89. 


37 


Oastlemaine  wird  hier  treffend  als  „Duchesse  de  Fln- 
constant“,  die  „Herzogin  von  Unbestand“  bezeichnet; 
„Fortiinatus“  ist  John  Churchill,  der  spätere  Herzog 
von  Marlborough.  Eine  seiner  Basen  ,,war  Auffseherin 
in  dem  Hause  der  Hertzogin  von  ünbestand  und  Favoritin 
des  Kaysers  Sigismund  des  andern  und  diese  war  von 
der  gantzen  Familie  die  vornehmste.  Der  junge  Fortunatus 
besuchte  sie  fleissig,  und  als  ihn  die  Hertzogin  einmal 
'ohngefehr  bey  derselben  antraffe,  so  warf  sie  alsobald,  wie 
sie  ohnedem  von  Natur  leicht  zu  bewegen  war,  eine  Liebe 
auf  denselben  und  befahl  ihm,  dass,  wann  der  König  sich 
zu  Bette  begeben,  er  sich  zu  ihr  verfügen  solte.  Die 
schlaue  Hofmeisterin,  welche  den  Sinn  ihrer  Frauen  wohl 
wüste,  konnte  schon  errathen,  wozu  dieselbe  ihren  Vetter 
gebrauchen  wolte;  und  weil  sie  sich  über  dieses  gute 
Glücke  sehr  erfreute,  so  brachte  si  den  gantzen  Tag  zu, 
ihn  einzusalben  und  zu  parfümiren,  damit  er  desto  ge¬ 
schickter  seyn  möchte,  den  Liebes-Triumph  zu  erhalten. 
Nachdeme  sie  ihme  nun  alle  nöthige  Erinnerungen  ge¬ 
geben,  so  führt  sie  diesen  jungen  Adonis  vor  das  Bette 
seiner  verliebten  Venus.  Die  Hertzogin  war  hierüber  vor 
Vergnügen  fast  entzücket;  dann  sie  stundt  in  denen  Ge- 
dancken,  dass  sie  die  allererste  Funcken  dieses  jungen 
Hertzens  fange,  und  ihm  die  ersten  Seuffzer  verursache. 
Die  flestürtziing,  welche  aus  seinem  Gesichte  hervorsahe, 
und  ihn  dergestalt  eingenommen  hatte,  dass  er  selbst 
nicht  wüste  wie  ihm  geschähe;  und  dann  die  wenige  Er¬ 
fahrung,  welche  er  an  Tag  gäbe;  alles  dieses  waren  neue 
Liebes-Reitzungen  vor  dieselbe.  Sie  war  auch  sehr  vergnügt 
über  seine  erste  Probe;  und  er  wüste  sich  gleichfals  dieses 


“)  Damit  ist  Karl  II.  gemeint. 


38 


guten  Glückes  trefflich  zu  gebrauchen.“^)  Biachof  Burnet 
erzählt:  „Als  die  Herzogin  von  Cleveland  sich  vom 
König  verlassen  glaubte,  so  überliess  sie  sich  vielfacher 
Untreue;  bei  einer  Gelegenheit  wurde  sie  durch  Bucking¬ 
ham ’s  Vermittlung  vom  Könige  selbst  ertappt;  der  Galan 
sprang  dabei  aus  dem  Fenster.“ 

1)  „Atalantis.‘‘  S.  580 — 582. 

2)  Ich  teile  hier  Lord  Cliesterfield’s  berühmte 
Charakteristik  des  Herzogs  von  ]\[arlb  oro  u  gh  mit:  „Von 
allen  Männern,  die  ich  je  beobachtet,  —  und  ich  kannte  den 
Herzog  sehr  genau,  —  besass  Churchill  Anmut  im  höchsten 
Masse,  er  verkörperte  die  Grazien  in  sich  und  gewann  da¬ 
durch  mehr,  als  je  ein  Mensch  erlangte;  denn  ich  wage  im 
AViderspriich  mit  grossen  Historikeru,  welche  allen  Begeben¬ 
heiten  tiefliegende  Ursachen  unterschieben,  ohne  Scheu  die 
bedeutendere  Hälfte  von  seinen  Erfolgen  dieser  vollendeten 
Anmut  zuzuschreiben.  Er  war  ohne  alle  litterarische  Bildung 
und  handhabte  die  Muttersprache  schlecht:  auch  seine  Ortho¬ 
graphie  war  ganz  mangelhaft.  Er  besass  kein  besondres 
Talent  und  war  ebenso  wenig  ein  glänzendes  Genie.  Ohne 
Zweifel  hatte  er  aber  gesunden  Menschenverstand  und  Urteils¬ 
kraft  im  höchsten  Grade.  Uies  würde  ihn  jedoch  nicht  weit 
über  seine  erste  Stufe  erhoben  haben,  nämlich  über  die 
Stellung  eines  Pagen  bei  der  Gemahlin  Jak  ob’s  II.  Hier 
trugen  ihn  aber  plötzlich  die  Huldgöttinnen  empor;  denn  als 
Gardefähnrich  erblickte  ihn  die  Hauptmaitresse  König  Karl ’s,, 
und  sie  wandte  ihm  fünftausend  Pfund  Sterling  zu.  Damit 
kaufte  er  sich  eine  Leibrente  zu  500  Pfund  von  meinem  Gross¬ 
vater  Halifax.  Diese  bildete  den  Grundstein  seines  späteren 
Vermögens.  Seine  Gestalt  war  schön,  seine  Manieren,  Krauen 
und  Männern  gegenüber,  unwiderstehlich.  Durch  das  ein¬ 
nehmendste  AAesen  gelang  es  ihm,  die  ganze  Zeit  des  Krieges 
hindurch  die  uneinigen  Mächte  der  grossen  Allianz  zusammen¬ 
zuhalten  und  in  Kraft  unverwandt  auf  das  grosse  Ziel  des 
Kam|)fes  zu  lenken,  —  trotz  aller  ihrer  Privatzänkereien  und 
Verkehrtheiten.  An  welchen  Hof  er  sich  auch  begab,  —  und 
er  musste  oft  zu  den  widerspäustigsten  Kabinetten  in  eigener 
Person  gehen,  immer  gelang  es  ihm,  Alles  zu  überreden  und 
zu  seinen  Absichten  zu  lenken.  .  .  Er  war  immer  kalt  und 
Herr  über  sich  selbst;  Niemand  bemerkte  in  seinem  Antlitz 
irgend  einen  Wechsel.  Mit  grösserer  Huld,  als  Avomit  Andere- 
eine  Sache  gewähren,  Amrstand  er  etAvas  abzuschlagen,  und 
selbst  die,  die  ihn  am  unzufriedensten  Amrliessen,  A\mren  doch 
entzückt  Amn  seiner  Person  und  durch  seine  Manier  einiger- 
massen  über  das  Misslingen  getröstet.“  Citirt  nach  „Gram- 
mont’s  JMemoiren“  (Erläuterungen)  S.  342-343. 


39 


Auch  den  Komödien  dichter  W  i  1 1  j  a)n  W  y  c  h  e  r  1  e  y , 
einen  sehr  schönen  Mann,  zog  diese  Messalina  in  ihre  Netze, 
und  wie  es  zu  ihrer  Liaison  mit  Lord  Dover  kam, 
erzählt  uns  Mrs.  Manley  ebenfalls  in  recht  drastischer 
Weise.  Längst  war  Churchill,  verliebt  in  Sarah 
Jennings,  seine  spätere  berühmte  Gemahlin,  der  Liebelei 
mit  der  Castlemaine  überdrüssig  und  gedachte  ihr  bei 
guter  Gelegenheit  den  Abschied  zu  geben.  Er  überredete 
also  Lord  Dover,  bei  einem  Kendezvous  mit  der  Herzogin 
von  Cleveland  statt  seiner  zu  erscheinen.  „Die  Hertzogin 
solte  den  folgenden  Tag  nach  Tische  zu  dem  Grafen 
kommen,  und  das  Verlangen,  das  sie  hatte,  bey  ihm  zu 
sein,  liess  ihr  nicht  recht  Zeit,  dass  sie  recht  zu  Mittag 
speisste,  sondern  sich  just  zu  der  bestimmten  Zeit  daselbst 
einfand.  Weil  man  sie  nun  da  erwartete,  so  hatte  man 
nach  Gewohnheit  -alle  Domestiquen  auf  die  Seite  geschafft, 
und  nur  einen,  welcher  um  die  Heimlichkeiten  wüste, 
dagelassen,  welcher  zu  ihr  sagte,  dass  sie  den  Grafen  in 
einem  kleinen  Cabinet  antreffen  würde,  allwo  er  sich 
schlafen  geleget,  nachdem  er  vom  Bade  gekommen.  Die 
Hertzogin  trat  alsobald  hinein.  Die  Fenster  waren  zugemacht, 
und  die  Vorhänge  vorgezogen,  dass  es  also  ganz  dunkel 
wäre.  Nichts  desto  weniger  erblickte  sie  auf  einem  Kuhe- 
Bette  einen  Menschen,  welcher  unter  dem  Vorwände  der 
Sommer-Hitze  auf  eine  unanständige  Weise  ausgestreckt 
lag,  und  nichts  als  einen  leichten  Schlaftrock  autf  sich 
hatte,  welcher  den  Leib  bedeckte.  Daneben  hatte  er 
solche  Vorsichtigkeit  gebraucht,  dass  er  von  der  Hertzogin 
nicht  möge  erkannt  werden,  bedeckte  er  sein  Gesichte 
mit  denen  von  dem  Polster  abhangenden  Spitzen.  Die 
Freude,  welche  er  über  die  Ankunfft  der  Hertzogin  spürte, 
verursachte  einige  Bewegung  bey  ihm,  welche  der  Hertzogin 


40 


dergestalt  wolgefiele,  dass  sie  keinen  Augenblick  länger 
versäumen  wolle,  dieser  angenehmen  Situation  zu  geniessen.“ 
Was  folgte,  lässt  sich  denken.  x4m  16.  Juni  1672  gebar 
die  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e  wiederum  —  patre  incerto  —  ein  Kind, 
ihre  dritte  Tochter  Barbara,  ging  1677  nach  Paris,  von 
wo  aus  sie  mit  dem  Könige  eifrig  correspondierte,  kehrte 
1685  nach  England  zurück,  um  hier  mit  dem  Schauspieler 
Goodman  ein  Verhältnis  anzuknüpfen,  von  dem  diese 
fruchtbarste  aller  Maitressen  im  März  1686  wieder  einen 
Sohn  bekam.  Seitdem  hatte  sie  wieder  zahllose  Lieb¬ 
schaften.  Ihr  Gatte,  Earl  of  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e,  der  unter  Jacob  II. 
als  Gesandter  beim  Papst  sich  gerade  nicht  mit  Ruhm 
bedeckt  hatte,  starb  am  21.  Juli  1705.  Vier  Monate 
später  heiratete  die  männertolle,  64  Jahre  alte  Witwe 
den  jungen  Robert  Feilding,  einen  der  schönsten 
Männer  seiner  Zeit,  der  deswegen  auch  „Beau  Feil  ding“ 
genannt  wurde.  Er  war  aber  ein  roher  Patron,  der  seine 
alte  Gattin  gröblich  misshandelte.  Glücklicherweise  stellte 
sich  heraus,  dass  er'  auch  mit  einer  Anderen  verheiratet  war. 
So  wurde  von  der  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e  die  Scheidung  eingeleitet. 
Bei  dem  Scheidungsprozesse  wurden  Briefe  der  letzteren 
vorgelegt,  die  sich  durch  eine  starke  Indecenz  auszeichneten, 
was  die  Erzählungen  von  der  Depravation  dieser  Dame 
glaubwürdig  erscheinen  lässt.  Dieses  letzte  Ereignis 
überlebte  Ladv  Castlemaine  nur  wenige  Jahre.  Sie 
starb  am  8.  Oktober  1709  an  der  Wassersucht.  —  Diese 
Frau,  welche  Macaulay  ,,das  verschwenderischste,  herrsch¬ 
süchtigste  und  schamloseste  unter  den  gesunkenen  Weibern“ 
nennt^),  zeichnete  sich  durch  eine  aussergewöhnliche 
Schönheit  der  Gestalt  und  des  Gesichtes  aus.  Nach 
Oldmixon  war  sie  die  ,, schönste  und  wollüstigste“  der 


1)  Macaulay  a.  a.  0.  Bd.  III  S.  278. 


41 


königlichen  Conciibinen.  Sie  hatte  ein  zierliches  rundes 
Gesicht  von  kindlichem  Ausdrucke,  rotbraunes  Haar  und 
herrliche  dunkelblaue  Augen.  Zahlreiche  Gemälde  haben 
diese  berühmte  Schönheit  der  Nachwelt  überliefert.  Von 
oder  nach  Lely  giebt  es  allein  fünf  Bilder  der 
C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e ,  davon  eins  in  der  bekannten  Hampton 
■Court  Gallery.  Ferner  haben  Will,  Gascar  u.  A.  ihr 
Portrait  gemalt,  i) 

Louise  R e n e e  de  K e r o u a i  1 1  e  (K e r o u a  1 1  e), 
Herzogin  von  Portsmouth  und  Aubigny  wurde  im 
Jahre  1649  als  Tochter  eines  bretonischen  Edelmannes 
geboren.  Sie  wurde  Hofdame  der  Herzogin  Henriette 
Yon  Orleans,  einer  Schwester  Karls  H;  mit  der  sie  im 
Jahre  1670  nach  England  kam.  Der  König  war  damals 
Rer  Lady  Castlemaine  überdrüssig.  Im  November 
1670  sah  Evelyn  zuerst  diese  neue  „berühmte  Schön¬ 
heit,  die  aber  nach  meinem  Dafürhalten,  ein  kindisches, 
einfältiges  Babygesicht  hat.“  Im  Oktober  1671  wurde 
«ie  zur  offiziellen  Maitresse  Karls  H.  erhoben,  wozu 
Ludwig  XIV.  ihr  gratulierte.  Am  29.  Juli  1672  gebar 
sie  dem  König  einen  Sohn,  Charles  Lennox,  ersten 
Herzog  von  Richmond.  In  England  war  sie  als  Fran¬ 
zösin  und  Katholikin  sehr  unbeliebt.  Das  Volk  nannte 
sie  „Carewell“  oder  ,, Madame  Carwell“.  Am  19.  August 
1673  erhielt  sie  den  Titel  einer  Herzogin  von  Ports¬ 
mouth,  dem  Ludwig  XIV.  denjenigen  einer  Herzogin 
von  Aubigny  hinzufügte.  Durch  ihren  Einfluss  be- 

Die  ganze  Darstellung  liauptsächlicli  nach  „Dictionary 
öf  National  Hiography“  ed.  by  Sidney  Lee,  London  1891). 
Bd.  58,  S.  312 — 318.  Ygl.  ferner  G.  S.  Steinniann  „Memoirs 
of  Barbara,  Duchess  of  Cleveland“  London  1871;  Mrs.  Man- 
ley’s  „Atalantis“;  Grammont’s  Memoiren;  Macaulay’s  ,, Ge¬ 
schichte  von  England“;  l‘e2)ys’  Tagebucli. 


42 


wirkte  sie  Ka  rl ’s  Annäherung  an  Frankreich^)  Sie 
erhielt  sich  noch  bis  zum  Tode  des  Königs  in  ihrer  Stellung, 
die  auch  äusserlich  eine  sehr  glänzende  war.  So  bezog 
sie  im  ganzen  136  668  Pfund  Sterling  vom  Könige.  Ihre 
Wohnung  war  mit  dem  äussersten  Luxus  eingerichtet. 
Nach  Evelyn  waren  ihre  Gemächer  in  White  hall 
„zehnmal  so  schön  als  die  der  Königin  selbst.“  Er  erzählt 
in  seinem  Tagebuche  von  einem  Besuche,  den  er  mit  dem 
König  der  Herzogin  ahstattete.  „Indem  ich  Seiner  Majestät 
durch  die  Gallerie  folgte,  ging  ich  mit  seinen  wenigen 
Begleitern  in  das  Ankleidezimmer  der  Herzogin  von 
Portsmouth  neben  ihrem  Schlafzimmer.  Sie  war 

dort  in  ihrer  leichten  Morgenkleidung,  eben  aus  dem 
Bette  gekommen,  und  Seine  Majestät  und  die  Galans 
standen  um  sie  herum,  während  ihre  Mädchen  sie 
kämmten.  Am  meisten  erregte  aber  meine  Aufmerksamkeit 
die  reiche  und  glänzende  Ausstattung  im  Zimmer  dieser 
Frau.“  Nach  dem  Tode  Karl’s  H.  kehrte  die  Herzogin 
nach  Frankreich  zurück  und  beschloss  ihr  Leben  auf  dem 
Gute  zu  Aubigny.  Sie  starb  erst  am  14.  November  1734. 
Voltaire  sah  sie  in  ihrem  Alter  und  fand  sie  sehr 
schön.  Auch  George  Selwyn  hat  sie  noch  gesehen.  — 
Lely,  Kneller,  H.  Gascar  und  Mignard  haben  das 
Bild  dieser  aussergewöhnlichen  Schönheit  gemalt,  deren 
,, sanfte  und  kindliche  Züge  noch  lieblicher  wurden  durch 

Macaiilay  schreibt  der  Schwester  Karl’s  IL,  der 
oben  erwähnten  Herzogin  Henriette  von  Orleans,  den 
grössten  Anteil  an  dieser  Annäherung  zu  (a.  a.  0.  S.  221). 
„Es  gelang  dem  Zureden  der  Schwester  wie  dem  Zauber  ihrer 
Freundin,  den  schwachen  Karl  in  der  kurzen  Zeit  von  zehn 
Tagen  ganz  so  zu  stimmen,  wie  Ludwng  es  wünschte,“ 
Grammont  (Erläuterung)  S.  311. 

^)  V^gl.  auch  die  Schilderung  der  Zimmer  bei  ^lacaulay 
Bd.  H.  S.  169. 


43 


französische  Lebendigkeit“  (Macaiilay).  Ihr  Motto  „En 
la  rose  je  tlenris“  wird  noch  von  ihren  Xaclikommen, 
den  Herzogen  von  Eichmond  nnd  Gordon  geführt^) 

Oline  Zweifel  die  anziehendste  Gestalt  unter  den 
^laitressen  Karl’s  11. ,  und  diejenige,  deren  Gedächtnis 
sich  bis  heute  im  Yolksmunde  erhalten  hat,  war  Nelly 
Gwynn.  Sie  war  schon  zu  Lebzeiten  die  populärste  aller 
königlichen  Geliebten  wegen  ihres  treuherzigen,  kindlichen, 
naiven  und  dabei  echt  englischen  Wesens.  Überhaupt 
waren  nach  Thomas  Campbell  unter  Karl ’s  Mai¬ 
tressen  die  „Loves  of  the  Theatre“  die  am  wenigsten 
kostspieligen  und  unpopulären.  -)  Eine  solche  „Theater¬ 
liebste“  war  auch  Nell  G  w  v  n  n. 

t/ 

Eleanor  Gwyn  (oder  Gwynn),  gewöhnlich  ,,Nell 
Gwynn“  genannt,  wurde  am  2.  Februar  1650  als 
Tochter  einer  Fischhändlerin  in  London  geboren.  Bis  zu 
ihrem  13.  Jahre  verkaufte  sie  Orangen  im  Theatre  Royal, 
oder  auch,  nach  einer  Satire  Ro ehester’ s,  Heringe. 
Dann  nahm  ein  umherziehender  Gaukler  sie  in  seine 
Truppe  auf  und  Hess  sie  in  den  Wirtshäusern  singen. 
Ihr  hübsches  Gesicht  veranlasste  die  berüchtigte  Kupplerin 
„Mother  Ross“^j,  sie  in  ihr  Freudenhaus  aufzunehmen, 
wo  sie  ihr  Unterricht  im  Schreiben,  Rechnen  und  Singen 
erteilen  Hess.  Zu  ihren  Liebhabern  zählten  auch  die 
Schauspieler  Charles  Hart  und  Jo  lin  Laoy.  Hart 
Übernahm  es,  die  talentvolle  Nelly  für  das  Theater  aus- 

h  Darstellung  nach  „Dictionary  of  National  Biography“ 
London  1892  Bd.  3l  S.  59— ;  J.  11.  J  e  s  s  e  „Literary  and  llisto- 
rical  IMeniorials  of  London“  London  1847  Bd.  II  S.  210 — 211. 
1^]  V  e  1  y  11  ’  s  Tagebuch ;  H.  P'  o  r n  e  r  o  n  „Louise  de  Keroualle, 
Duchesse  de  Portsniouth“  Paris  188(5. 

D  'IHionias  Canipliell  „Life  of  Mrs.  Siddons“  London 
1834  Bd.  1.  S.  99. 

3)  \^gl.  Bd.  r  S.  340. 


44 


zubildeii.  Sie  trat  zuerst  im  Jahre  16G5  als  Cydaria  in 
dem  „Indian  Eniperor‘^  von  Dryden  auf.  Sie  war 
zwar  keine  Künstlerin  ersten  Eanges,  verband  aber  mit 
natürlicher  Lebhaftigkeit  und  Grazie  ein  nicht  unbe¬ 
deutendes  Talent  im  Gesänge  und  Tanze,  l^epys  drückt 
oft  seiue  Bewunderung  über  sie  aus.  Er  nennt  sie  „pretty 
witty  Nell“  (3.  April  1665).  „Die  Frauen  spielen  recht  gut, 
aber  vor  allen  klein  Nelly.“  Nachdem  er  sie  in  „Celia“ 
gesehen  hatte,  küsste  er  sie.  Dasselbe  that  seine  Frau, 
und  er  fügt  hinzu  „und  sie  ist  ejn  mächtig  hübsches 
Geschöpf“  (23.  Januar  1666).  Des  Königs  Blicke  zog 
Nelly  im  Jahre  1671  auf  sich.  Dry  den  hatte  für  sie 
einen  Epilog  zu  seinem  Stücke  „Tyrannische  Liebe“  ge¬ 
schrieben.  Solche  Epiloge,  welche  die  leichtfertigsten 
Verse  enthielten,  liess  man  damals  mit  Vorliebe  von 
Frauen  sprechen.  „In  den  Epilogen  herrschte  die  grösste 
Zügellosigkeit,  sie  wurden  fast  immer  von  den  beliebtesten 
Schauspielerinnen  hergesagt,  und  nichts  entzückte  das 
entartete  Publikum  so  sehr,  als  die  schlüpfrigsten  Verse 
von  einem  schönen  Mädchen  vorgetragen  zu  hören,  von 
welchem  man  glaubte,  dass  es  seine  LTischuld  noch  nicht 
verloren  habe.“  Hierzu  kam  noch  in  diesem  Falle  ein 
besonderer  Umstand.  William  Preston,  ein  mittel- 
mässiger  Schauspieler  an  einer  kleinen  Bühne,  war  in 
einem  neuen  Stück  mit  auffallend  grossem  Hut  erschienen, 
was  dem  ebenso  unbedeutenden  Stücke  zu  einem  un¬ 
erwartet  günstigen  Erfolge  verhalf.  Deshalb  liess  Dry  den 
die  Nelly  Gwynn  mit  einem  Hute  „von  dem  Umfange 
eines  grossen  Wagenrades“  auftreten,  wobei  ihre  kleine 
Figur  so  drollig  aussah  und  einen  so  reizenden  Eindruck 
machte,  dass  alle  Welt  bezaubert  war,  und  König  Karl 


b  Macaulay  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  131. 


45 


sie  mit  nach  Hanse  nahm  und  sofort  zu  seiner  Maitresse 
machte,  obgleich  sie  noch  im  Theater  auftrat,  avo  Dryclen 
ihr  seine  besten  Köllen  überAvies,  und  sie  der  Lieblinof 
des  Publikums  blieb.  Über  ihr  Auftreten  in  Dry  den ’s 
„jungfräulicher  Königin“  berichtet  Pepys:  „In  diesem 
Stück  ist  eine  komische  Kolle:  Florinel,  von  der  ich  nie 
ei’Avarten  darf,  sie  je  Avieder  so  gut  gespielt  zu  sehen  Avie 
A'on  Nell  GAvynn,  sOAvohl  in  dem  Teil,  aa^o  sie  als 
AAÜldes  Mädchen  auftritt,  Avie  auch,  Avenii  sie  als  junger 
Stutzer  erscheint.  Sie  giebt  darin  die  Haltung  und 
Manieren  eines  jungen  Fants  so  trefllich,  Avie  nur  irgend 
ein  Schauspieler  sie  geben  kann.“  Zahlreiche  Anekdoten, 
besonders  in  Tom  BroAvn’s  „State  Poems“  und  in 
den  Gedichten  Amn  Ether  ege  beAveisen,  Avie  populär 
N  e  1 1  y  binnen  kurzer  Zeit  geAvorden  Avar.  Sie  Avurde 
als  „des  armen  Mannes  Freundin“  bezeichnet  und  ihre 
Stellung  als  Maitresse  erregte  viel  Aveniger  Anstoss  als 
diejenige  der  adligen  Geliebten  des  Königs.  Das  Volk 
betrachtete  dies  gleichsam  mehr  als  ein  Schicksal  denn 
als  ein  Laster.  Es  nahm  in  den  Streitigkeiten,  die  ZAvischen 
Nell  GAvynn  und  der  Herzogin  von  Portsmouth 
unaufhörlich  vorgingen,  mit  Leidenschaft  für  die  erstere 
Partei.  Es  giebt  mehrere  bezeichnende  Erzählungen  darüber. 
Einmal  rottete  sich  die  Menge  vor  dem  Laden  eines 
JuAveliers  in  Cheapside  zusammen,  als  die  Herzogin  von 
Portsmouth  sich  bei  diesem  ein  prachtvolles  Silber- 
Service,  ein  Geschenk  des  Königs,  abholte,  und  brach  in 
Schmähungen  gegen  die  Herzogin  aus.  Sie  riefen,  dass 
sie  am  liebsten  das  Silber  geschmolzen  sähen,  um  es  ihr 
in  den  Hals  zu  giessen.  Das  Geschenk  gehöre  eigentlich 
der  lieben  N  elly.  „What  a  pity  it  should  not  be  bestoAved 
on  Madam  Ellen!“  Ein  ander  Mal  fuhr  Nell  GAvynn  in 


46 


ihrer  Kutsche  durch  die  Strassen  von  Oxford.  Der  Pöbel  hielt 
sie  für  ihre  Kivaliu,  und  beschimpfte  und  bedrohte  sie.  Da 
steckte  Nell}'  lachend  den  Kopf  zum  Fenster  hinaus 
und  rief:  „Ich  bitte  Euch,  lieben  Leute,  seid  ruhig ; 
ich  bin  die  protestantische  Hure.“  (Pray,  good  people, 
be  civil;  I  am  the  Protestant  whore).  N eil}' verstand  es 
vortreftlich ,  ihre  Nebenbuhlerin  lächerlich  zu  machen. 
Die  Herzogin  von  Portsmouth  behauptete,  mit  den 
vornehmsten  französischen  Familien  verwandt  zu  sein,  und 
so  oft  einer  von  diesen  Verwandten  starb,  legte  sie  Trauer¬ 
kleidung  an.  Einst,  als  ein  französischer  Prinz  gestorben 
war  und  sie  natürlich  wieder  im  Trauergewande  erschien, 
traf  es  sich  zufällig,  dass  auch  die  Nachricht  vom  Tode 
des  Chans  der  Tartarei  nach  England  kam.  Nelly  kam 
ebenfalls  in  Trauerkleidung  zu  Hofe  und  wurde,  während 
sie  in  der  Nähe  ihrer  Eivalin  stand,  von  einem  ihrer 
Freunde  nach  dem  Grunde  gefragt:  ,,0 !“  sagte  sie,  „habt 
Ihr  nicht  von  meinem  Verlust  durch  den  Tod  des  Chans 
gehört  ?‘‘  ,,Was  zum  Teufel,“  antwortete  ihr  Freund,  „war 
Euch  denn  der  Chan  der  Tartarei?“  —  „Oh,  genau  das¬ 
selbe,  was  der  Prinz  von  .  .  .  der  Mlle.  Querouaille 
war!“  —  Madame  de  Sevigne  äussert  sich  in  einem 
Briefe  über  das  Verhältnis  zwischen  diesen  beiden  berühmten 
Maitressen  folgendermassen :  ,,Sie  (die  Herzogin)  sah  nicht 
voraus,  dass  sie  eine  Schauspielerin  ihr  im  Wege  stehend 
finden  würde.  Die  Actrice  ist  so  hochmütig  wie  Mademoiselle 
selbst.  Sie  beleidigt  sie,  schneidet  ihr  Gesichter,  raubt 
ihr  häufig  den  Pürsten  und  rühmt  sich  jedesmal,  wenn 
dieser  ihr  den  Vorzug  giebt.  Sie  ist  jung,  indiscret, 
wild  und  von  fröhlicher  Gemütsart.  Sie  singt,  tanzt  und 
spielt  ihre  Eolle  mit  besonderer  Anmut.  Sie  hat  vom 
Könige  einen  Sohn  und  hofft  ihn  anerkannt  zu  sehen. 


47 


Von  der  Herzogin  sagt  sie:  diese  Person  behauptet,  sie 
sei  eine  Frau  von  Stande  und  mit  den  ersten  Familien 
in  Frankreich  verwandt ;  wenn  dem  so  ist,  warum  erniedrigt 
sie  sich  zur  Courtisane?  Sie  sollte  vor  Scham  vergehen. 
Was  mich  betrifft,  so  ist  es  mein  Beruf;  ich  will  nichts 
Besseres  sein;  ich  habe  einen  Sohn  vom  König,  den  er 
anerkennen  sollte,  und  er  wird  es  tliun,  denn  er  liebt 
mich  eben  so  sehr  wie  diese  Dame.“  Nellv  ^ebar  dem 
König  zwei  Söhne,  deren  einer  später  den  Titel  eines 
Herzogs  von  Saint-Albans  erhielt.  Der  König  liebte 
sie  bis  zu  seinem  Tode  zärtlich,  und  seine  letzten  Worte 
(zum  Herzog  von  Y  ork)  sollen  nach  Bur  net  gewesen  sein: 
Lass  die  arme  Nelly  nicht  darben.  (Let  not  poor  Nellv 
starve.)^)  Sie  überlebte  den  König  nicht  lange.  Am  13. 
November  1687  starb  sie,  erst  37  Jahre  alt,  an  einer 
Apoplexie.  Nelly  Gwynn  war  durch  und  durch  ein 
„English  girl“,  Ireimütig,  nicht  sentimental,  gutherzig 
und  dankbar  gegen  ihre  alten  Freunde,  unter  denen  sich 
auch  die  Dichter  Otway  und  Dry  den  befanden.  Sie 
mischte  sich  niemals  in  die  Politik.  Sie  war  im 
Gegensätze  zu  der  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e  dem  Könige  treu,  wenn- 
gleicli  derselbe  nicht  ihr  erster  Liebhaber  war.  Er  war 
ihr  „dritter“  Karl.  Ob  Dorset  oder  Major  Hart  die 

f)  Dies  ist  nicht  ganz  richtig,  insofern  es  weder  die  letzten 
Worte  Kar  Ts  waren,  iiocli  diese  der  Nell  Gwynn  galten. 
Macaulay  berichtet:  „Während  der  Nacht  empfahl  Karl 
ernstlich  die  Herzogin  von  Portsmouth  der  Sorge  Jakob’s; 
„und  lasst  die  arme  Nelly  nicht  darben“,  fügte  er  gutmütig 
hinzu.  Die  Königin  entschuldigte  ihre  Abwesenheit  durch 
Halifax;  sie  sei  zu  angegTiften,  um  ihren  Platz  neben  dem 
Bette  des  Königs  einzunehmen  und  bäte  um  A^^erzeihung  für 
jede  Beleidigung,  welche  sie  wider  ihren  AA’illen  ihm  zugefügt 
habe.  „Sie  bittet  mich  um  A^erzeihuiig,  das  arme  A\Yib“,  rief 
Karl  aus,  „ich  bitte  sie  darum  von  ganzem  Herzen“.  Ma¬ 
caulay  a.  a.  ().  Bd.  11.  S.  176 — 177. 


48 


Ehre  hatten  ihr  „erster“  Karl  zu  sein,  ist  nach  Macanlay 
eine  offene  Frage.  Doch  scheinen  diesem  die  Beweise  zu 
Gunsten  Dorset’s  zu  üherwiegen.  Bischof  Burnet 
nennt  die  Gwynn  die  übermütigste  und  tollste  Kreatuiy 
die  „je  an  einem  Hofe  lebte“.  —  Sie  hatte  eine  kleine  und 
zierliche  Gestalt,  rötlich-braunes  Haar,  sehr  kleine  Füsschen ; 
wenn  sie  lachte,  wurden  ihre  Augen  fast  unsichtbar.  Am 
1.  Mai  1667  sah  Pepys  die  ,, hübsche  Nelly  in  ihrer 
Wohnung  in  Drury  Lane  stehen  in  ihrer  schmucken 
Blouse  mit  dem  Schnürleibchen“,  wie  sie  die  Mailust¬ 
barkeiten  beobachtete.  —  Es  giebt  zahlreiche  Bilder  von 
Nell  Gwynn.  Eins  vonLely  ist  im  Garrick-Club,  ein 
zweites  in  dem  L ely-Zimmer  der  Hampton  Court-Gallery, 
ein  drittes  in  der  National  Portrait  Gallery.  No.  306  von 
König  Jakob ’s  Bildern  war  ,, Madame  Gwyn’s  Bild, 
nackt,  mit  einem  Cupido“  von  Le  ly.  Ausserdem  haben 
andere  Maler  ihr  Portrait  gemalt.  Algernon  Charles 
Swinburne  hat  Eleanor  Gwynn  ein  schönes  Denkmal 
gesetzt  in  dem  folgenden  Gedichte  in  seinen  ,, Poems 
and  Ballads“: 

Nell  G wyn. 

Sweet  heart,  that  no  taint  of  the  throne  or  the  stage 
Could  touch  with  unclean  transformation,  or  alter 
To  the  likeness  of  courtiers  whose  consciences  falter 
At  the  smile  or  the  frown,  at  the  mirth  or  the  rage, 

Of  a  master  whom  chance  could  inflame  or  assuage, 

Our  Lady  of  Laughter,  invoked  in  no  psalter, 

Adored  of  no  faithfull  that  cringe  and  that  palter, 

Praise  be  with  thee  yet  from  a  hag-ridden  age. 

Our  Lady  of  Pity  thou  wast :  and  to  thee 
All  England,  whose  sons  are  the  sons  of  the  sea, 


49 


Oives  thanks,  and  will  hear  not  if  liistory  snnris. 

When  tlie  name  of  the  friend  of  her  sailors  is  spoken : 
And  thy  lover  she  cannot  but  love  —  by  the  token 
That  thy  name  was  the  last  on  the  lips  of  King  Charles A) 


Um  diese  drei  beriihmtesten  Maitressen  Karl’s  IL 
gruppieren  sich  die  zahlreichen  übrigen  Haremsinsassinnen 
dieses  weibertollen  Königs,  deren  Namen  zum  Teil  gar 
nicht  auf  die  Nachwelt  gekommen  sind ,  und  jene  Schön¬ 
heiten,  welche,  mit  den  oben  genannten  in  Lust,  Liebe 
und  Vergnügungen  wetteifernd,  diesem  Hofe  ein  so 
charakteristisches  Gepräge  gaben. 

Miss  Stewart,  die  spätere  Gemahlin  des  Herzogs 
von  Kichmond,  suchte  früh  die  Lady  Castlemaine 
aus  der  Gunst  des  Königs  zu  verdrängen.“)  Sie  war  auf- 


C  Daiotelliing  nach  ,, Dictionary  of  National  Biog 
London  1890,  Bd.  23.  S.  401 — 403:  „Memoirs  of  tl 


Cf 


Eleanor  GwiniB*'  London  1752;  Cu  n  n ing li  a  ni  „Storv 


aphy 
Life  of 
of  Nell 

(Lvynii“;  Thomas  Campbell  „Life  of  Mrs.  Siddons‘- London 
1834,  Bd.  1,  S.  99 — 101;  Grammont’s  Memoiren;  Macaulay; 
l’ej)ys;x\.  C  h.  S  will  b  urn  e  „Poems  and  Ballads“  Third  Series 
London  1897,  S.  132. 

‘A  .,Lady  Castl  emaine  bemerkte,  wie  der  König  dieselbe 
mit  Blicken  verfolge.  Doch  anstatt  Eifersucht  darüber  zu 
empfinden,  begünstigte  sie  vielmehr  diese  Neigung,  so  sehr  sie 
konnte,  entweder  aus  jener  Sorglosigkeit,  die  oft  den  ilirer 
Beize  sich  bewussten  Frauen  eigen  ist,  oder  vielleicht  auch, 
um  des  Königs  Aufmerksamkeit  von  ihrem  neuen  Verhältnis 
mit  .1  e  r  m  y  n  abzulenken.  Sie  betrachtete  eine  entstehende 
Leidenschalt,  die,  dem  ganzen  Hofe  aufi'allen  musste,  nicht 
allein  ohne  Unruhe,  sondern  ging  so  weit,  ihre  Nebenbuhlerin 
zu  ihrem  Liebling  zu  wählen  und  liess  sie  an  allen  Soupers, 
welche  sie  dem  Könige  gab,  Teil  nehmen;  im  Vertrauen  auf 
der  eigenen  Schönheit  Gewalt  trieb  sie  den  Uebermut  so  weit, 
dass  sie  die  junge  Dame  häufig  zum  Schlafen  bei  sich  behielt. 
Da  der  König  vor  dem  Aufstehen  der  C  a  s  1 1  e  m  a  i  n  e  jeden 
Morgen  zu  ihr  zu  kommen  pflegte,  so  fand  er  dort  auch  .Miss 
Stewart  bei  ihr  im  Bette.  Bei  jeder  keimenden  Leiden¬ 
schaft  haben  die  gleichgültigsten  Dinge  Reiz,  aber  die  unvor 
sichtige  Castl  emaine  empfand  keine  Angst,  wenn  sie  di.) 

Dühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England.**  4 


50 


fallend  schön,  aber  nicht  im  gleichen  Masse  fesselnd. 
„Bei  so  grossem  körperlichen  Zanber  konnte  man  kaum 
so  wenig  Geist  besitzen.  Alle  ihre  Zöge  waren  regel¬ 
mässig,  aber  ihr  Wuchs  war  nicht  ganz  vollkommen ; 
doch  war  sie  schlank,  ziemlich  gerade  und  über  gewöhn¬ 
liche  Franengrösse.  Sie  besass  Anmut,  tanzte  gut  und 
sprach  das  Französische  besser  als  ihre  Muttersprache;  mit 
höflich em  Wesen  verband  sie  jenen  Geschmack  in  der 
Tracht,  den  man  vergebens  zu  erhaschen  sucht,  wenn 
man  ihn  nicht  von  Jugend  auf  in  Frankreich  sich  an¬ 
geeignet  ...  Sie  besass  eine  so  kindische  Laune,  dass 
sie  über  alles  lachen  musste,  ihr  harmloser  Sinn  ergötzte 
sich  an  den  einfachsten  Schwänken  mit  einer  Lebendigkeit, 
die  nur  dem  Alter  von  zwölf  bis  dreizehn  Jahren  ge¬ 
stattet  scheint.  Die  Puppen  ausgenommen  war  sie  ganz 
Kind,  Blindekuh  war  ihre  grösste  Freude ;  sie  haute 
Kartenhäuser,  während  bei  ihr  das  höchste  Spiel  statt¬ 
fand  und  oft  sah  man  die  eifrigsten  Höflinge  ihr  dabei 
helfen  oder  sie  üherbieten.“  i)  Pepys  beschreibt  Miss 
Stewart  als  die  grösste  Schönheit,  die  er  jemals  gesehen 
habe.  „Wenn  irgend  ein  Weib  Lady  Castle maine  an 
Keiz  nhertretfen  kann,  so  ist  es  dieses;  auch  soll  es  mich 
gar  nicht  wundern,  wenn  der  König  wechselt;  sie  ist  der 
Grund  seiner  Kälte  gegen  die  Gräfin.“^)  Miss  Stewart 
zeichnete  sich  durch  grosse  Lascivität^)  und  durch  eine 

Nebenbuhlerin  in  solcher  Lage  an  ihrer  Seite  den  Blicken 
23reis  gab ;  sie  glaubte  sicher,  sobald  es  ihr  gut  dünkte,  werde 
sie  über  alle  günstigen  Eindrücke  der  S  t  e  w  a  r  t  den  Sieg 
davon  tragen.“  Grammont’s  Memoiren  S.  87 — 88. 

1)  „Grammont’s  Memoiren“  S.  88,  S.  112. 

2)  ibidem  S.  328. 

3)  „Der  alte  CaiTingford  und  der  tolle  Crofts,  diese 
kecken  Witzlinge  tragen  ihr  bei  jeder  Gelegenheit  ziemlich 
verfängliche  Geschichten  vor  .  .  .  Ich  weiss  keine  Geschichten 
und  wenn  ich  welche  wüsste,  so  habe  ich  nie  das  Talent, 


51 


cynisclie  Schamlosigkeit  aus.  Hamilton  bemerkt,  dass  das 
Hade-Negligee  für  die  Hofdamen  vorzüglich  dazu  verwendet 
wurde,  um,  ohne  den  Anstand  zu  verletzen,  ihre  Eeize 
auszustellen.  Miss  Stewart  war  von  ihrer  Überlegenheit 
-so  sehr  überzeugt,  dass  man  nur  eine  andere  Dame  am 
Hofe  wegen  ihrer  schönen  Beine  oder  Arme  zu  loben 
brauchte,  um  sie  gleich  zu  augenscheinlicher  Demon¬ 
stration  zu  veranlassen.  „Ja,  mit  einiger  Gewandtheit, 
glaube  ich,  würde  es  nicht  allzuschwierig  sein,  sie,  ohne 
dass  sie  dabei  etwas  ahnte,  bis  zu  voller  Nacktheit  zu 
treiben.“  Hamilton  schenkte  ihr  ein  sehr  hübsches 
Pferd,  um  ihre  vollendete  Anmut  beim  Reiten  geniessen 
zu  können.  Der  König  liebte  nämlich  von  allen  Jagden 
am  meisten  die  Falkenpartien,  weil  die  Damen  bequem 
daran  teilnehmen  konnten,  und  befand  sich  oft,  von  allen 
Schönen  des  Hofes  umgeben,  auf  einer  solchen  Jagd. 
Häufig  gaben  diese  Jagdpartien  den  Damen  die  Veran¬ 
lassung,  bei  wilden  Ritten  absichtlich  oder  unabsichtlich 
ihre  geheimen  Reize  blicken  zu  lassen.  Hamilton  be- 

sie  vorzutragen.  Ich  war  deshalb  mitunter  verlegen,  wenn 
sie  es  von  mir  verlangte.  Einst  als  sie  mich  quälte, 
sprach  ich:  Ich  weiss  keine,  mein  Fräulein.  —  So  er- 
tinden  Sie  eine,  sagte  sie.  —  Das  verstehe  ich  noch  weniger, 
aber,  wenn  Sie  es  wünschen,  will  ich  Ihnen  einen  Traum  er¬ 
zählen,  der  ausserordentlicher  ist,  als  man  sie  gewöhnlich 
erlebt.  —  Das  erweckte  ihre  Neugier,  und  diese  musste  gleich 
befriedigt  sein.  Ich  erzählte  ihr  also,  das  lieblichste  Wesen 
von  der  Welt,  dem  ich  leidenschaftlich  zugethan  sei,  wäre  des 
Nachts  zu  mir  gekommen.  Darauf  entwarf  ich  ihr  eigenes 
Bild  unter  der  Hülle  dieser  wundervollen  Schönheit,  aber  ich 
sagte  auch,  da  die  Göttliche  mich  in  der  günstigsten  Absicht 
besucht,  so  hätte  sie  sich  auch  nicht  mit  zweckloser  Grausamkeit 
benommen.  Das  war  noch  nicht  hinreichend,  die  Wissbegier 
der  Stewart  zu  stillen;  ich  musste  ihr  fast  alle  einzelnen 
Ounstbezeugungen  malen,  welche  dies  zärtliche  Phantom 
mir  zuwandte;  sie  schien  dabei  weder  überrascht  noch 
verlegen  und  liess  mich,  auf  die  Erdichtung  aufmerksam 
lauschend,  die  Beschreibung  einer  Schönheit  oft  wiederholen.“ 
ibidem  S.  270. 


Sflneibt  aiulj  sokli  eine  Szene  mit  der  Stewart.  Im 
Jnlire  1GG7  verliess  die  Letztere  den  Hof,  um  den  Herzog 
\on  Richmond  zu  heiraten,  worüber  Evelyn  in  seinem 
Tagebncbe  unter  dem  2G.  April  16G7  beliebtet.^) 

Neben  Miss  Stewart  war  H  a  m  i  1 1  o  n  ’  s  Schwester, 
die  sj)ätere  Gemahlin  des  Chevalier  de  Grammont  der 
„  H  anptster n  “  am  Hofe  K  a  i- 1  ’  s  1 1.  Miss  H  a  m  i  1 1  o  n  war 
ein  edles  und  reines  Müdcben.  Ibi‘  Bruder  entwirft  von 
ihr  die  bdgunde  klassische  Schilderung,  wohl  die  beste 
überhaupt  in  den  „Meniuii  es  de  Grammont“ ;  „Miss 
Hamilton  war  in  dem  glficklichen  Alter,  avo  die  Beize 
ucs  weiblichen  Geschlechts  &ich  entfalten.  Sie  Imtte  den 
schönsten  Wuchs,  einen  herrlichen  Busen  und  die  wohl- 
geformtesten  Arme;  sie  war  schlank  und  lieblich  in  allen 
ihien  Bewegungen.  In  Beziehung  auf  Kleidung  und 
Kopfputz  Avar  sie  das  Muster  des  Geschmacks,  dem  alle 
Damen  nachstrebten.  Ihre  Stirn  Av;.r  offen,  Aveiss  und 
glatt,  ihr  HaarAAmchs  reich  und  jenem  natürlichen  Ordnen 
iügsam,  das  sich  nidit  beliebig  nachbilden  lässt.  Eine 
Frische,  Avelche  künstliche  Farben  nicht  ersetzen  können, 
belebte  ihren  Teint.  Ihre  Augen  waren  nicht  gross,  aber 
lebhaft,  und  ihre  Blicke  drückten  alles  aus,  Avas  sie  sagen 

1)  Die  Ceraidassuiig  zu  dieser  Jkirat  gab  eine  Uuber- 
vasclumg-  der  S  t  e  av  a  r  t  vnd  des  T 1  crzogs  yoii  \{  i  c  li  m  o  ii  d 
durcli  den  König  infolge  einer  Entliülinng  der  C  a  s  1 1  e  in  a  i  n  e. 
Hamilton  erzählt:  ,.]cs  Avar  nahe  an  iMitternaelit.  D^r 
König  fand  die  Kammerfrauen  seiner  Geliebten ;  sie  A’erbeugten 
sich  ehrfurchtsvoll  bei  seinem  Eintritt  und  sagten  ihm  ganz 
leis ',  Miss  StcAvart  wäre,  seitdem  er  sie  Auu‘’nssen,  sehr 
niiAvohl  gcAvoialen,  aber  nach  dem  Zubettegehen  schlummern 
sie,  Gott  sei  Dank,  sanlt.  „Das  muss  ich  sdien“  rief  er, 
indem  er  die  ihm  im  den  Weg  Tretende  zurückst ies^.  Er 
fand  die  StcAA’art  Avirklich  im  Dette,  aber  sie  schlief  keines- 
Avegs.  Der  Ile: zog  von  Kichmond  sass  am  Kopfende  und 
'Avar  wohl  noch  weniger  im  Schlummer ‘.  ibidem  S.  275. 


Avollte.  Ihr  Mund  war  reizend  und  der  Umriss  ilires 
Gesiclits  vollendet.  Eine  kleine,  zart  zurückgebogene 
Nase  war  nicht  der  letzte  Schmuck  ihres  lieblichen 
Antlitzes.  Mit  einem  Wort,  nach  Haltung,  Miene  und 
ollem  über  die  Gestalt  ausgegossenen  Zauber  glaubte  der 
Chevalier  Grammont  nur  günstige  Schlüsse  auf  die 
anderen  Beize  ziehen  zu  können.  Ihr  Geist  entsprach 
der  Erscheinung.  Sie  strebte  nicht  durch  eine  unpassende 
Munterkeit,  deren  Ausbrüche  nur  blenden,  in  der  Unter¬ 
haltung  zu  glänzen;  ebenso  vermied  sie  jene  schleppende 
Bedeweise,  die  bloss  einschläfert;  ohne  sich  im  Sprechen 
zu  übereilen,  sagte  sie  stets  das  Nötige.  Wunderbar 
wusste  sie  Achtes  vom  falschen  Schimmer  zu  unterscheiden 
und  weit  entfernt  mit  ihrem  Urteil  bei  jeder  Gelegenheit 
zu  kokettieren,  blieb  sie  zurückhaltend,  aber  bestimmt 
und  treffend  in  ihren  Entscheidungen.  Ihre  Gesinnungen 
waren  voller  Adel,  und  wenn  es  die  Gelegenheit  heischte, 
stolz  bis  zum  höchsten  Masse.  Doch  war  sie  vom  eigenen 
Wert  weniger  durchdrungen,  als  dies  sich  bei  ihren 
Eigenschaften  erwarten  Hess.  So  ausgestattet  musste  sie 
wohl  Liebe  gewinnen,  doch  suchte  sie  dieselbe  nicht 
auf;  denn  sie  war  streng  in  der  Sichtung  derer,  welche 
die  Blicke  zu  ihr  erheben  konnten.“  A 

Am  Hofe  der  Herzogin  von  York  glänzten  besonders 
die  Geschwister  Jennings  und  Miss  Anne  Temple. 
Miss  Frances  Jennings, ‘A  die  ältere  von  den  beiden 

G  ibidem  S.  94 — 95. 

„Mit  der  Blüte  der  .lugend  geschmückt  war  Miss 
Jennings  von  blendender  Weisse,  ihr  Haar  das  lierrlicliste 
Blond.  Ein  lebhaftes,  seeleovolles  Wesen  bewahrte  ihre  Haut¬ 
farbe  vor  jener  matten  Eintönigkeit,  welche  sonst  mit  auffallend 
liellem  Teint  verbunden  zu  sein  pllegt.  Ilir  Mund  ^var  nicht 
ganz  klein,  aber  es  war  dennoch  der  lieblichste  Mund  von 
der  Welt.  Die  Natur  hatte  ihn  mit  unaussprechlichen  Reizen, 


54 


Schwestern  zeichnete  sich  nach  Macaula}"  durch 
Schönheit  und  Leichtfertigkeit  aus.  Sie  war  aber  sehr 
vorsichtig  gegenüber  den  Anträgen  und  Lockungen  des 
Herzogs  von  York.  Sie  war  erst  mit  George  Hamilton ^ 
einem  Bruder  von  Anthony  Hamilton  verheiratet^ 
später  mit  dem  Herzog  von  Tyrconnel  und  starb  erst 
1730  in  ihrem  82.  Lebensjahre. 

Berühmter  als  sie  ist  ihre  Schwester  Sarah,  die 
nachmalige  Herzogin  von  Marlborough,  die  Freundin 
und  spätere  Gebieterin  der  Prinzessin  Anna,  Tochter 

mit  ihrem  anmutsvollsten  Zauber  geschmückt.  Der  Umriss 
des  Gesichts  war  rein  und  der  keimende  Busen  glänzend  weiss, 
wie  das  Gesicht.  Die  ganze  Erscheinung  gab  mit  einem  Wort 
die  Idee  der  Aurora  oder  auch  der  PTühlingsgöttin  verkörpert 
wieder,  wie  die  Dichter  sie  in  ihren  edelsten  Gebilden  malen. 
Da  es  indess  ungerecht  wäre,  wenn  ein  Wesen  alle  Wunder 
der  Schönheit  ohne  den  geringsten  Schatten  in  sich  vereinte, 
so  liessen  Arme  und  Hände,  um  dem  Ganzen  zu  entsprechen^ 
etwas  zu  wünschen  übrig.  Die  Nase  war  nicht  von  vollendeter 
E'einheit,  und  auch  die  Augen  strahlten  keine  verzehrenden 
Blicke,  während  Mund  und  alles  Andere  tausend  Pfeile  zum 
Herzen  sandten.  —  Mit  diesem  lieblichen  Aeussern  sprühte  sie 
Geist  und  Leben.  Ihre  Manieren  und  jede  Bewegung  waren 
stets  überraschend  neu.  Wenn  sie  gefallen  wollte,  war  die 
Sprache  hinreissend,  und  wollte  sie  spotten,  fein  und  treffend 
in  Wendungen;  da  jedoch  ihre  Phantasie  sie  oft  überwältigte 
und  sie  die  Worte  hinwarf,  ehe  der  Gedanke  entwickelt  war, 
so  gaben  ihre  Ausdrücke  den  Sinn  mitunter  zu  stark,  mitunter 
zu  schwach  wieder.“  ibidem  S.  191 — 192. 

0  „Sie  war  mit  einigen  für  Personen  ihres  Alters  sehr 
heilsamen  Grundsätzen  gewaffnet.  Der  erste  lautete,  man 
müsse,  um  am  Hofe  mit  Erfolg  aufzutreten,  jung,  und  um  ihn 
mit  Anstand  zu  verlassen,  nicht  zu  alt  sein ;  sodann  könne 
man  dort  seine  Stellung  nur  durch  würdevolle  Festigkeit  oder 
durch  imposante  Schwächen  erhalten;  und  an  einem  so  gefahr¬ 
vollen  Orte  müsse  man  vor  allem  dahin  streben,  das  Herz  nur 
mit  der  Hand  zu  verschenken.“  Hamilton  schildert  in  sehr 
amüsanter  Weise  die  zahlreichen  Versuche  des  Herzogs  von 
York,  diese  spröde  Schönheit  für  sich  zu  gewinnen.  Auch 
der  König  fasste  Interesse  für  dieselbe,  wurde  aber  durch  dio 
eifersüchtige  Stewart  von  seinem  Plane  abgebracht. 


55 


des  Herzogs  von  York.  Sie  war  zwar  nicht  so  schön, 
wie  ihre  Schwester  F  r  a  n  c  e  s ,  aber  anziehender.  Ihr 
Gesicht  war  nach  Macaulay  ausdrucksvoll,  ihre  Gestalt 
entbehrte  keines  weiblichen  Keizes,  und  die  Fülle  ihres 
schönen  Haares,  welches  noch  nicht  nach  der  barbarischen 
Sitte  entstellt  war,  deren  Einführung  sie  noch  erlebte,  war 
das  Entzücken  zahlreicher  Bewunderer.  John  Churchill 
verliebte  sich  in  sie,  obgleich  sie  arm  war,  und  gewann 
dadurch  jene  mächtige  und  einflussreiche  Lebensgefährtin, 
der  er  zum  grossen  Teil  seine  unerhört  glänzende  Lauf¬ 
bahn  verdanktet)  —  Miss  Temple^),  die  spätere  Gattin 
des  Sir  Charles  Lyttleton,  war  besonders  das  Ziel  der 
Bemühungen  des  berüchtigten  Kochester  und  der  Tribade 
Hohart,  deren  Konkurrenz  Hamilton  sehr  ergötzlich 
schildert. 

Unter  dem  Namen  einer  Miss  W armes tree  schildert 
Hamilton  die  Mary  Kirk,  eine  Schwester  der  Herzogin 
von  Oxford.  Sie  wurde  später  vom  Hofe  verbannt  und 

Ygl.  Macaulay  III.  S.  279  ff;  ein  merkwürdiges  Buch  über 
das  spätere  Leben  und  Lieben  der  Herzogin  von  M ar  1  b  o  r  o  u  g  h 
ist  die  „Histoire  secrete  de  la  Beine  Zarah,  et  des  Zaraziens“ 
2  Teile  1709;  deutsch  u.  d.  T.  „Die  entdeckte  Geheime  Histoire 
von  der  Königin  Sahra  und  denen  Sahracenen,  oder  die  Herzogin 
von  Marlb  orough  demasquiret  etc.“  Haag  1712  (2  Teile). 

„Ungefähr  von  gleichem  Alter  war  Miss  Teinple  im 
Verhältnis  zu  ihr  (Miss  Frances  Jennings)  brünett.  Ihr 
Wuchs  war  hübsch.  Dabei  besass  sie  schöne  Zähne,  sprechende 
Augen,  frischen  Teint,  ein  angenehmes  Lächeln  und  eine 
seelenvolle  Miene.  So  weit  das  Aeussere;  das  Uebrige  ist 
schwer  anzugeben;  denn  sie  war  einfach  und  prahlerisch  zu¬ 
gleich,  leichtgläubig,  argwöhnisch,  gefallsüchtig,  si:)röde,  aber 
von  sich  eingenommen  und  sehr  albern.“  Dabei  beteuerte 
Bo  che  st  er,  dass  sie  sehr  viel  Geist  besitze  und  zeigte  ihr 
irgend  ein  neues  Gedicht,  worin  ihr  „Alles,  was  mit  ihren 
Beizen  wetteifern  konnte,  zu  Füssen  gelegt  wurde,  um  Huldi¬ 
gung  zu  leisten.  Dergleichen  Einflüsterungen  verdrehten  ihren 
kleinen  Kopf,  dass  es  ein  wahres  Elend  war,  es  mit  anzusehen.“ 
Grammont  S.  192;  S.  195. 


56 


heiratete  Sir  Thomas  Yeriion.  Ihre  Schönheit  vergleicht 
Hamilton  mit  derjenigen  der  MiddletonJ)  Lady 
Chesterfield^),  die  schon  im  Alter  von  25  Jahren  starb, 
eine  Cousine  des  Grafen  von  Hamilton,  Miss  Wells, 

„Unter  der  Königin  Ehrenfräulein  gab  es  eine  Miss 
Warniestree.  Ihre  Schönheit  Avar  von  der  eben  genannten 
sehr  verschieden.  Gut  gewachsen,  blond  und  weiss  hatte  die 
Mid  die  ton  in  Manieren  und  Kedeweise  etwas  Gesuchtes, 
Anspruchvolles.  Sie  hüllte  sich  in  ein  mattes  Schmachten, 
das  nicht  nach  Jedermanns  Appetit  war.  Bei  den  znrten  Ge¬ 
fühlen,  denen  sie  WTrte  zu  leihen  strebte,  ohne  sie  zu  ver¬ 
stehen,  schlief  man  ein  und  sie  langweilte,  wenn  sie  glänz<m 
wollte.  vSich  selbst  damit  C{uälend  peinigte  sie  die  Zuhörer 
und  ihr  Ehrgeiz,  für  einen  Schöngeist  gelten  zu  wollen,  hat  ihr 
nur  den  Kuf  einer  langweiligen  Person  verschaffr,  welcher  ihre 
Reize  dauernd  überlebte.  —  Die  Andere  war  brüuett;  ihr 
Wuchs  war  nicht  sonderlich,  ihr  Ansehen  nicht  imponierend, 
aber  bei  sehr  lebhaften  Farben  zeigte  sie  Augen  voller  Eener, 
herausfordernde  Blicke,  die  nichts  unterliessen,  um  zu  gewinnen 
und  alles  versprachen,  um  zu  fesseln.  Die  Folge  hat  nur  zu 
sehr  bewiesen,  dass  sie  die  kühnsten  Verheissungen  noch 
übertraf.“  Grammont  S.  86—87. 

„Dies  war  eine  der  lieblichsten  Frauen,  die  sich  nur 
denken  lässt.  Wenn  auch  nicht  gross,  hatte  sie  doch  den 
reizendsten  AVuchs.  Sie  war  blond  und  von  blendender  Weisse 
mit  dem  ganzen  Feuer  und  Reiz  einer  Brünette.  Aus  grossen 
blauen  Augen  strahlten  ihre  verführerischen  Blicke.  Ihre  Be¬ 
wegungen  waren  anziehend',  ihr  Geist  munter  und  einnehmend; 
aber  ihr  der  Liebe  stets  offenes  Herz  hatte  für  Treue  wenig  Sinn, 
für  Aufrichtigkeit  kein  zartes  Gewissen.“  ibidem  S.  114 — 115. 

3)  ,,Sie  war  ein  grosses  Mädchen,  schön  zum  Malen, 
kleidete  sich  mit  Geschmack  und  hatte  den  Gang  einer  Göttin; 
ihr  Gesicht,  so  hübsch  gebildet,  wie  nur  denkbar,  liess  inöess 
noch  kalt.  Das  Schicksal  hatte  über  ilire  Züge  einen  so  völlig 
unbestimmten  Ausdruck  verbreitet,  dass  man  in  das  Auge 
eines  träumenden  Hammels  zu  sehen  glaubte.  Das  gab  eine 
schlechte  Idee  von  ihrem  Geiste,  und  leider  entsprach  der 
Geist  dieser  Idee  nur  allzu  treu.  Da  sie  aber  frisch  war  und 
jungfräulich  schien,  so  wollte  der  König,  durch  Miss  Stewmrt 
im  Punkt  des  Geistes  nicht  verwöhnt,  untersuchen,  ob  die 
Sinne  bei  Aliss  AVells  nicht  besser  ihre  Rechnung  fänden,  als 
der  Koijf  bei  ihrem  \Trstande  Die  Probe  ward  ihm  nicht 
schwer.  .  .  Alan  behauptete,  sie  habe  etwas  zu  wenig  Wider¬ 
stand  gezeigt  und  sich,  ohne  stark  bedrängt  zu  sein,  auf  Gnade 
und  Ungnade  ergeben;  andere  meinten.  Seine  Majestät  be- 


57 


Mistress  Wetenliall')  und  Miss  Boynton^)  seien  als 
die  letzten  aus  diesem  Kreise  schöner  und  leichtfertiger 
Frauen  genannt. 

Die  Herren  dieses  Hofes  gaben  den  Frauen  an 
Leichtsinn  nicht  nur  nichts  nach,  sondern  übertrafen  sie 
noch  darin.  Man  kann  zweifeln,  wer  in  Hamilton’ s 
klassischer  Schilderung  besser  getroffen  ist,  die  Frauen 
oder  die  Männer.  Selten  ist  auf  so  kleinem  Kaume  eine 
Fülle  von  so  verschiedenen,  eigenartigen  Gestalten  ver¬ 
einigt  worden. 

Im  Mittelpunkte  der  „Memoires  de  Granioni“  steht 
der  Chevalier  de  Gramont  selbst.  Philibert,  Che¬ 
valier  (später  Comte)  de  Gramont  (oder  Grammont) 
wurde  1621  als  Sohn  von  Antoine  von  G  r  a  m  m  o  n  t, 
dem  Zweiten  dieses  Namens  und  als  ein  Enkel  der 
„schönen  Corisande“  (Gräfin  Diane  de  Guiche),  einer 

klage  sich  ausserdem  über  weitere,  noch  weniger  fesselnde 
Ei  leichterungeii.  lieber  diesen  Vorfall  niacbte  der  Herzog 
von  Buckingliam  ein  Couplet,  worin  der  König  iin  Gespräche 
mit  Pr  Ogers,  dem  vertrauten  Diener  seiner  geheimen  Freuden 
aufgefülirt  wird.“  ibidem  vS.  185 — 186.  Dies  obscöne  Couplet, 
ein  Anagramm  mit  dem  Wort  „ Wells“-Brunnen  teilt  Hamilton 
mit. 

Diese  Dame  war,  was  man  treffend  eine  echt  englische 
Schönheit  zu  nennen  pllegi",  ihr  Teint  wie  aus  Lilien  und 
Bosen,  aus  Schnee  und  IMilch;  Arme,  Hände,  Busen  und  Fiisse 
wie  aus  Wachs  gebildet  ;  alles  das  aber  ohne  Seele  und  Leben. 
Das  Gesicht  war  das  niedlichste  Bild,  aber  es  Avar  immer 
dasselbe  Antlitz;  man  konnte  meinen,  sie  ziehe  es  jeden 
Morgen  aus  einem  Kästchen  und  stecke  es,  ohne  es  am  Tage 
gebraucht  zu  haben,  Abends  wieder  ein.  Genug,  die  Natur 
hatte  eine  Puppe  aus  ihr  gemacht,  und  eine  Puppe  bis  zum 
Grabe  blieb  die  liebliche  Mistress  W^etenh  al  1.“  ibidem  S.  229. 

„Ihrer  schmächtigen  zarten  Gestalt  gab  ein  hübscher 
Teint  und  grosse  starre  Augen  in  der  Ferne  einen  Glanz,  den 
sie  näher  veidor.  Sie  spielte  die  schmachtende,  sprach  matt 
und  schleppend  und  hatte  den  Tag  über  zwei  bis  drei  Ohn 
machten.“  ibidem  S.  214. 


58 


Jugendgeliebten  Heinrichs  IV.  von  Frankreich,  geboren. 
Er  diente  mit  Auszeichnung  unter  Conde  und  Türen  ne 
im  dreissigjährigen  Kriege  und  in  den  Kriegen  Lud¬ 
wigs  XIV.,  und  machte  sich  am  Hofe  dieses  Königs  bald 
bekannt  durch  seine  zahlreichen  Liebschaften  und  eine 
geistreiche  Frivolität.  Der  Graf  von  Bussy-Eabutin 
erzählt  darüber  Mancherlei  in  seiner  berühmten  „Histoire 
Amoureuse  des  Gaules^b  Er  schildert  unseren  Helden 
folgendermassen :  „Der  Chevalier  hatte  lachende  Augen, 
eine  wohlgeformte  Nase,  einen  hübschen  Mund  mit  einem 
Grübchen  im  Kinn,  welches  eine  angenehme  Wirkung 
machte;  sein  Gesicht  hatte  etwas  sehr  Feines.  Sein  Wuchs 
war  ziemlich  gut,  wenn  er  nicht  ein  wenig  gebückt 
gegangen  wäre.  Sein  Wesen  war  galant  und  zartfühlend. 
Indessen  verliehen  oft  nur  Ton  und  Miene  bei  ihm  dem, 
was  er  sagte,  Wert,  während  sie  in  eines  anderen  Munde 
nichts  bedeutet  haben  würden.  Denn  er  schrieb  nur 
mittelmässig  und  er  schrieb  doch,  wie  er  sprach.^)  Obgleich 
es  überflüssig  sein  mag,  zu  bemerken,  dass  ein  Neben¬ 
buhler  unbequem  ist,  so  war  doch  der  Chevalier  dies  bis  zu 
dem  Punkte,  dass  eine  arme  Dame  deren  lieber  vier  oder 
fünf  Andere  auf  dem  Halse  gehabt  hätte,  als  ihn  allein. 
Er  war  stets  lebendig,  auf  dem  Platze  und  schien  kaum 
zu  schlafen.  So  wurde  es  einem  Pärchen,  bei  dem  er 
den  Störenfried  spielte,  nicht  möglich,  von  ihm  unbe¬ 
obachtet  zu  bleiben.  Übrigens  war  er  der  beste  Mensch 
von  der  Welt.  .  .  .  Wenn  er  sein  Ziel  verfehlte,  zog  sich 
der  Chevalier  nicht  etwa  sacht  zurück ;  er  hätte  sich  lieber 
töten  lassen,  als  dass  er  einem  Nebenbuhler  ruhig  ge- 

1)  Diese  Bemerkung  B  u  s  s  y  -  R  a  b  u  t  i  n  ’  s  erklärt  den  Um¬ 
stand,  dass  Hamilton  die  Memoiren  seines  Schwagers  be¬ 
arbeitete. 


59 


wichen  wäre.  Konnte  er  nnr  Verwirrung  nncl  Aufsehen 
erregen  nncl  die  Welt  überreden,  er  sei  verliebt,  so 
kümmerte  er  sich  wenig  um  die  Folgen.  Ein  Umstand, 
der  es  für  ihn  sehr  schwierig  machte.  Andere  von  der 
Wahrheit  seiner  Leidenschaft  zu  überzeugen,  war  der, 
dass  er  niemals  ernsthaft  redete ;  so  musste  also  ein 
weibliches  Wesen  sehr  von  sich  eingenommen  sein,  um 
an  seine  Liebe  zu  glauben.“  i)  Infolge  einiger  scharfer 
Äusserungen  gegen  den  Cardinal  Mazarin  und  eines 
Versuches,  dem  Könige  die  Geliebte  wegzukapern,  wurde 
er  vom  französischen  Hofe  verbannt  und  ging  im  Jahre  1662 
nach  England.  Er  war  schon  von  Frankreich  her  mit 
der  königlichen  Familie  und  den  meisten  Herren  vom 
Hofe  bekannt.  Er  hatte  sich  nur  noch  bei  den  Damen 
einzuführen.  „Dazu  bedurfte  es  keines  Dolmetschers; 
sie  sprachen  alle  hinlänglich  französisch,  um  sich  ver¬ 
ständlich  zu  machen  und  von  dem,  was  man  ihnen  zu 
sagen  hatte,  nichts  zu  verlieren.“  Bald  war  denn  auch 
der  Chevalier  bei  allen  beliebt.  Er  war  gegen  jedermann 
freundlich,  gewöhnte  sich  an  die  Sitten,  speiste  von  allen 
Gerichten,  lobte  alles  und  versetzte  so  ganz  England  in 
Entzücken.  Besonders  machte  er  dem  Könige  den  Hof, 
spielte  oft  mit  ihm,  wobei  er  dank  seiner  schlauen  Trics 
niemals  verlor.  „Er  war  täglich  zu  Tische  ausgebeten ; 
wer  ihn  als  Gast  bei  sich  sehen  wollte,  musste  seine 
Einladung  also  acht  oder  zehn  Tage  zuvor  bestellen.  Auf 

9  „Histoire  Amoiireiise  des  Gaules“.  Par  le  Comte  de 
R u s s y - R a b  11 1 i n  edit.  par  Auguste  Poiteviu,  Paris  1857 
Bd.  I  S.  92;  93;  95. 

Diese  kleinen  Betrügereien  beim  Spiel  galten  dann  als 
für  sehr  nobel.  Es  war  ein  „vice  de  grand  seigneiir“,  in  dem 
aber  auch  die  Damen  sehr  excellierten.  Vgl.  B  ii  s  s  y  -  R  a  b  ii t  i n 
a.  a.  0.  S.  93  Anmerkung  1. 


60 


<lie  Dauer  wurde  eine  so  überhäufte  Artigkeit  freilich 
unbequem;  doch  einem  Manne  seiner  Art  schienen  diese 
Ptlichten  unerlässlich  und  da  ihn  die  ersten  Hofleute 
einluden,  so  fügte  er  sich  mit  guter  Manier  der  Not¬ 
wendigkeit  und  behielt  sich  nur  die  Freiheit  vor,  des 
Abends  bei  sich  zu  Hause  zu  speisen.“  Bei  diesen  Abend¬ 
soupers  in  seinem  Hause  versammelte  er  gewöhnlich  den 
erlesensten  Teil  der  Hofgesellschaft  um  sich.  Niemals 
fehlte  dabei  der  berühmte  Saint-E  vremond,  der 

h  Charle.s  de  S  aiiit-D  enis,  Heigneur  de  Saint 
Evreinond  wurde  1613  in  der  Normandie  geboren,  studierte 
erst  die  Rechte,  nabin  S])äter  Militärdienste  und  stieg  bis  zum 
Feldmarschall  auf.  Auch  er  musste  sich  wegen  einer  Satire 
auf  den  Pyrenaeenvertrag  von  1659  im  Jahre  1661  nach  England 
flüchten,  wo  er,  abgesehen  von  einem  kurzen  Aufenthalt  in 
Holland  bis  zu  seinem  Rode  (1703)  blieb.  Er  schrieb  zahl¬ 
reiche  philosophische  und  litterarhistorische  AYerke,  die  sich 
durch  einen  klassischen  Stil  auszeiclinen,  sowie  durch  eine 
heitere  Lebensphilosophie.  Er  wurde  von  Karl  II.  durch 
eine  Pension  unterstützt,  hauptsächlich  aber  ''urch  seine 
Freundin,  die  Herzogin  von  Mazarin,  Hortensia  Mancini 
gefördert.  Die  letztere  ist  von  Macaulay  an  jener  Stelle 
ges -bildert  worden,  wo  er  von  dem  Ausbruche  der  tötlichen 
Krankheit  Karls  II.  spricht,  und  da  sie  am  Hofe  eine  grosse 
Rolle  spielte,  teile  ich  IMacaulay’s  WTrte  mit.  „Hortensia 
M  ancini,  Herzogin  von  Mazarin,  Nichte  des  grossen  Car¬ 
dinais,  hat  sich  früh  aus  ilirein  Heimatlande  an  den  Hof  be¬ 
geben,  wo  ihr  Oheim  die  erste  Stelle  einnahm.  Seine  Macht 
und  ihre  eigenen  Reize  hatten  einen  Schwarm  von  erlauchten 
Bewerbern  um  sie  versammelt.  Karl  selbst  hatte  während 
seines  Exils  ihre  Hand  aber  vergeblich  zu  gewinnen  gesucht. 
Keine  Gabe  der  Natur  oder  des  Glückes  schien  ihr  zu  fehlen; 
ihr  Gesicht  strahlte  in  der  reichen  Schönheit  des  Südens,  ihr 
Verstand  war  schnell,  ihr  Benehmen  voll  Liebreiz,  ihr  Rang- 
hoch,  ihr  Vermögen  unermesslich;  aber  ihre  unregierlichen 
Leidenschaften  hatten  diese  Güter  in  ebenso  viele  Flüche  ver¬ 
wandelt.  Sie  hatte  das  Unglück  einer  nicht  befriedigenden 
Ehe  unerträglich  gefunden,  war  von  ihrem  Gemahl  geflohen, 
hatte  ihre  grossen  Reichtümer  im  Stiche  gelassen,  und,  nach- 
ilem  sie  Rom  und  Piemont  durch  ihre  Abenteuer  in  Erstaunen 
gesetzt,  ihren  Aufenthalt  in  England  genommen.  Ihr  Haus 
Avar  der  beliebteste  Versammlungsort  für  Männer  von  Geist 


61 


über  Grammont  eine  väterliche  Obhut  ausübte  und  ihu 
von  manclien  tollen  Streichen  zurückhielt.  Einmal  sagte¬ 
er  zu  ihm:  „Wer  ausser  Euch  hat  je  daran  gedacht,  sich 
auf  einer  Treppe  in  den  Hinterhalt  zu  legen,  um  einen 
Glücklichen,  der  mit  dem  einen  Fuss  schon  im  Zimmer 
der  Geliebten  war,  am  andern  wieder  zurückzuziehen !. 
So  aber  machtet  Ihr  es  mit  Eurem  Freunde,  dem  Herzog 
von  Buckingham,  als  er  sich  bei  der  Nacht  zu  der  — 
schlich,  und  Ihr  warT  nicht  einmal  sein  Nebenbuhler“. 
Nach  vielen  Liebeleien,  die  Hamilton  uns  schildert^ 
wurde  der  Chevalier  de  Grammont  endlich  durch  die- 
Beize  der  Miss  Elizabeth  Hamilton  gefangen  ge¬ 
nommen,  heiratete  sie  und  verliess  mit  ihr  England  im 
Jahre  1669  und  lebte  fortan  in  Frankreich.  Im  Jahre 
1696  wurde  er  gefährlich  krank.  Ludwig  XIV.,  der 
seine  Freigeisterei  und  seinen  Leichtsinn  kannte,  schickte 
den  Marquis  de  Dangeau  zu  ihm,  um  ihn  an  Gott  zu 
erinnern.  Grammont  wandte  sich  zu  seiner  Gemahlin 
und  rief:  „Passen  Sie  auf,  Gräfin,  scnist  piellt  Dangeau 
Sie  noch  um  meine  Bekebrung.“  Damals  scheint  das- 
Gerücht  von  seinem  Tode  verbreitet  gewesen  zu  sein. 
Ninon  de  LEnclos  sagt  darüber  in  einem  Schreiben 
an  St.-Evr  emon  d :  „Er  ist  so  jugeiidlicb,  und  ich 


und  Welt,  welche  um  ilires  l.äclmhis  und  ihrer  Tafel  willen 
die  häuligen  Ausbrüche  ihies  Uebermuts  und  ihrer  ühleii 
Imune  ertrugen.  R  o  c  h  e  s  t e  r  und  G  o  d  o  1  p h  i  n  vergassen  nicht 
selten  in  ihrer  Gesellschaft  die  Sorgen  um  den  Staat.  Barillon 
und  St. -Eyremond  fanden  an  ihrer  Seite  Trost  ihr  ihre 
lauge  Verbannung  aus  Ihnds  V^ossius’  Gelehrsamkeit  und 
W  aller’ s  Geist  waren  täglich  beschäftigt,  ihr  zu  schmeicheln 
und  sie  zu  unterhalten;  aber  ihr  krankes  Gemiit  bedurfte 
stärkerer  Reizmittel  und  suchte  dieselben  in  der  Galauterie,. 
im  Basset  und  in  irischem  Branntwein  ^  Macaulay  a.  a.  0, 
Bd.  II  S.  167- 1G8. 


62 


finde  ihn  so  munter,  als  ehemals,  wo  er  noch  die  Leute 
hasste,  wenn  sie  erkrankten,  und  sie  erst  wieder  lieh 
gewann,  Avenn  sie  gesund  geworden.“  Er  starb  erst  am 
30.  Januar  1707  im  Alter  A^on  86  Jahren.  Saint- 
Evremond  hatte  schon  zu  Lebzeiten  des  Freundes  die 
berühmte  Grab  schritt  auf  ihn  verfasst,  in  der  er  in  eleganten 
Versen  die  Persönlichkeit  dieses  galant  homme  schildert; 

Passant,  tu  vois  ici  le  comte  de  Grammont, 

Le  heros  eternel  du  vieux  Saint-Evremond. 

Suivre  Conde  toute  sa  vie 

Et  courir  les  memes  hasards 

Qu’il  courait  dans  les  champs  de  Mars, 

Des  plus  A^aillans  guerriers  pouvoit  faire  PeiiAfie. 

Yeux-tu  des  talents  pour  la  Cour? 

Ils  egalent  ceux  de  la  guerre; 

Eaut-il  du  mmfite  en  amour? 

Qui  fut  plus  galant  sur  la  terre? 

Pailler  saus  etre  medisant, 

Plaire  sans  faire  le  plaisant; 

Garder  son  meme  caractere, 

VieillaixL  epoux,  galant  et  pere, 

C’est  le  merite  du  heros 

Que  je  depeins  en  peu  de  mots. 

Alloit-il  souvent  ä  confesse? 

Entendoit-il  vepres,  sermon  ? 

S’appliquoit-il  ä  Poraison? 

II  en  laissoit  le  soin  ä  la  comtesse. 


63 


II  peilt  revenir  iin  Conde; 

II  peilt  revenir  un  Türen  ne, 

Un  comte  de  Grammont  en  vainest  demande: 
La  n a t ii r e  a u r o i t  t r o p  de  p e i n e. 

Neben  G r a m m o n t  tritt  inHamilton’s  Schilderung 
besonders  Jakob,  Herzog  von  York  hervor,  der  nach¬ 
malige  König  Jakob  II.  (geboren  den  15.  Oktober  1633, 
gestorben  in  der  Verbannung  den  6.  September  1701). 
Macaiilav’s  klassisches  Geschichtswerk  behandelt  die 

t. 

Eegieriingszeit  dieses  Fürsten,  dessen  Wesen  und  Charakter 
lins  durch  die  Kunst  dieses  genialen  Historikers  vertrauter 
geworden  sind,  eingehender  als  die  Persönlichkeit  irgend  eines 
anderen  Herrschers.  Nie  vorher  und  nachher  ist  eine  voll¬ 
kommenere  Psychologie  eines  Königs  geliefert  worden.  Weder 
M  0  m  m  s  e  n  s  König  P  y  r  r  h  o  s,  noch  C  a  r  1  y  1  e  ’  s  F riedrich 
der  Grosse,  noch  Lanfrey’s  Napoleon  reichen  an  dieses 
Meisterwerk  heran.  Die  Gestalt  dieses  finsteren,  bigotten 
Wollüstlings  ist  für  die  Ewigkeit  mit  dem  ehernen  Griffel 
des  Geschichtschreibers  gemeisselt  worden.  Macaulay’s 
König  Jakob  H.  ist  ein  Monument.  Er  entwickelt 
den  Charakter  des  Fürsten  in  seinen  Handlungen,  nur 
gelegentlich  giebt  er  einen  Anblick  der  Persönlichkeit 
desselben.  „Obgleich  ein  Wollüstling,  war  Jakob  fleissig, 
methodisch,  liebte  die  Autorität  und  Geschäfte.  Sein 
Verstand  war  ausnehmend  träge  und  eng,  sein  Gemüt 
starr,  hart  und  unversöhnlich“.  B  i  s  c  h  o  f  B  u  r  n  e  t  be¬ 
merkt:  „In  seiner  Jugend  war  der  Herzog  durch  Tapferkeit 
ausgezeichnet;  Marschall  Turenne  hob  ihn  so  hervor, 


Darstellung  nach  „Grainmont’s  Memoiren“  S.  81 — 82 
84 — 85 ;  B  ii  s  s  y  -  R  a  b  n  t  i  n  a.  a.  0.  Bd.  I  S,  9 1  ff . 

2)  M  a  c  a  u  1  a  y  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  185. 


64 


(lass  er,  bis  seine  Ehe  ihn  herabzog,  den  König  fast  ver¬ 
dunkelte  und  als  der  Begabtere  von  Beiden  erschien. 
Von  Natur  war  er  offen  und  wahr  und  ein  treuer  Freund, 
bis  die  politischen  und  religiösen  Verhältnisse  seine  an¬ 
geborenen  Grundsätze  und  Neigungen  überwältigten  .  .  . 
Der  Herzog  von  Buckingham  gab  mir  einst  eine  kurze 
und  scharfe  Charakteristik  beider  Brüder,  die  um  so 
schneidender  scheint,  weil  sie  treffend  ist.  Der  König, 
sagte  er,  könnte,  wenn  er  nur  wollte,  die  Dinge  sehen, 
wie  sie  sind  und  der  Herzog  möchte  sie  so  sehen,  wenn 
er  nur  könnte.  Jakob  besass  kein  richtiges  Urteil  und 
er  folgte  zu  sehr  Anderen,  denen  er  vertraute;  gegen 
alle  sonstigen  Mahnungen  war  er  taub.  Mit  hohen  Be¬ 
griffen  von  der  königlichen  Würde  auferzogen,  hielt  er 
es  als  Grundsatz  fest:  Alle,  die  von  des  Königs  Meinung 
abweichen,  sind  im  Herzen  Rebellen.  Beständig  war  er 
in  eine  oder  die  andere  Liebesintrigue  verwickelt,  ohne 
in  seiner  Wahl  sorgfältig  zu  sein ;  dies  veranlasste  den 
König  Karl  zu  der  Äusserung:  er  glaube,  seinem  Bruder 
würden  die  Maitressen  von  den  Priestern  als  Busse  auf¬ 
erlegt.  —  Er  war  von  heftigem  und  rachsüchtigem. 
Temperament“ .  H  a  m  i  1 1  o  n  sagt  vom  Herzog  von  York, 
dass  man  ihm  einen  jeder  Probe  gewachsenen  Mut  zu¬ 
schrieb,  das  unverbrüchlichste  Festhalten  am  gegebenen 
Wort,  Sparsamkeit,  x4nmassung,  Fleiss,  Stolz,  ein  jedes 
an  seiner  Stelle.  Ein  genauer  Beobachter  der  Vorschriften 
des  Rechts  und  der  Pflichten,  galt  er  als  Freund  für  treu, 
als  Feind  für  unversöhnlich.  So  hart  und  herbe  auch  das 
Gemüt  dieses  Prinzen  war,  stand  er,  wie  Macaulay  sagt, 
kaum  weniger  unter  dem  Einfluss  weiblicher  Reize,  als 
dies  rücksichtlich  seines  lebendigeren  und  liebenswürdigeren 
Bruders  der  Fall  war.  „Die  Schönheit  jedoch,  welche 


65 


die  Lieblingsdamen  Karl ’s  ausgezeichnet  hatte,  verlangte 
Jakob  nicht,  Barbara  Palmer,  Eleanor  Gwynn 
und  Louise  von  Querouaille  gehörten  zu  den  schönsten 
Frauen  ihrer  Zeit.  Jako  bhatte  noch  als  junger  Mann  seine 
Freiheit  aufgegeben, war  unter  seinenKang herabgestiegen  und 
hatte  durch  die  garstigen  Gesichtszöge  der  Anna  Hy  de 
das  Missfallen  seiner  Familie  erregt.  Zum  grossen  Er¬ 
götzen  des  ganzen  Hofes  wurde  er  seiner  hässlichen  Lebens¬ 
gefährtin  durch  eine  noch  hässlichere  Maitresse,  Arabella 
Churchill,  abspenstig  gemacht“. i)  Dr.  Havelock  Ellis 
hat  in  seinem  neuen  inhaltreichen  Werke  über  „Geschlechts¬ 
trieb  und  Schamgefühl“  in  einem  Anhänge  viele  inter¬ 
essante  neue  Fälle  über  die  Beziehungen  zwischen  Reli¬ 
giosität  und  Erotismus  mitgeteilt.  Er  hätte  auch 
Jakob  11.  als  ein  solches  Beispiel  anführen  können.  Bei 
diesem  paarten  sich  Frömmelei  und  Bigotterie  mit  einer 
unzähmbaren  Sinnlichkeit.  Er  wurde  weniger  wie  manche 
feingebildeten  Freigeister  nach  Art  A"on  Grammont  durch 
Schönheit,  anmutige  Formen  und  Bildung  gefesselt,  sondern 


1)  M  a  c  a  u  1  a  y  a.  a.  0.  Bd.  HI  S.  74.  —  Ob  Miss  Anna 
H  y  d  e  wirklich  so  hässlich  war,  ist  nach  anderen  Mitteilungen 
zweifelhaft.  Sie  war  aber  nach  Hamilton  unter  allen 
englischen  Damen  mit  der  stärksten  Esslnst  gesegnet.  Sie 
entschädigte  sich  durch  Schmausen  für  das,  was  sie  sich  auf 
der  andern  Seite  durch  Fasten  abgehen  Hess.  Der  Pierzog 
hingegen  überliess  sicli  unaufhörlich  neuen  Liebeshändeln, 
erschöpfte  sich  durch  Untreue  und  wurde  immer  magerer, 
während  seine  Gemahlin  sich  trefflich  nährte  und  fett  wurde. 
Arabella  Churchill  wird  in  Grammont’s  Memoiren  als 
eine  magere  und  blasse  Person  geschildert.  i\fau  konnte  nicht 
begreifen,  wie  der  Fürst  nach  seinen  Neigungen  für  eine 
(Ml  e  s  t  e  r  f  i  e  1  d  ,  eine  Miss  Hamilton  und  für  die  kleine 
J  e  n  n  i  11  g  s  ein  solches  Gesicht  erträglich  finden  konnte. 

H  a  V  e  1  0  c  k  p]  1 1  i  s  „Geschlechtstrieb  und  Scham¬ 
gefühl“  Leipz.  1900  (Appendix  (k)  S.  329—346. 


5 


D  üb  reu,  Das  Gescblechtslebeii  in  England.** 


66 


seine  Neigungen  waren  mehr  grober,  tierischer  Art.  Es 
war  das  Weibliche  an  sich,  der  „Odor  di  femina“,  die 
ihn  anzogen,  was  Hamilton  auch  in  Bezug  auf  das 
V erhältnis  J  a  k  o  b  ’  s  zur  Churchill  andeutet.  So  wurde 
er  der  „unvorsichtigste  Blickeschleuderer“  seiner  Zeit 
und  konnte  seine  Triebe  so  wenig  beherrschen,  dass  er 
oft  dieselben  coram  publico  befriedigte.  Hamilton  er¬ 
zählt  von  einer  sehr  gewagten  Situation,  in  welcher  der 
Herzog  und  Lady  Chesterfield  betroffen  wurden.^) 
Alle  Liebesverhältnisse  des  Herzogs  von  York  und  des 
späteren  Königs  zeigten  diese  Mischung  von  religiöser 
und  sinnlicher  Brunst  und  boten  so  etwas  Unerklärliches 
und  zugleich  Abstossendes  dar.  Dies  geht  auch  aus 
Macaula  y ’s  vortrefflicher  Schilderung  der  Liebe  Jak  ob ’s 
zu  Catharine  Sedley,  der  Tochter  des  berüchtigten, 
weiter  unten  noch  zu  erwähnenden  Charles  Sedley 
hervor.  Sie  hatte  des  Vaters  „Fähigkeiten  und  seine 
Unverschämtheit  geerbt;  persönliche  Reize  besass  sie  nicht, 
mit  Ausnahme  zweier  strahlender  Augen,  deren  Feuer 
Männern  von  feinem  Geschmack  wild  und  unvv eiblich 
erschien;  ihre  Statur  war  hager,  ihr  Gesicht  garstig. 
Karl,  obgleich  er  ihre  Unterhaltung  liebte,  lachte  über 
ihre  Hässlichkeit,  und  sagte,  dass  die  Priester  sie  ihrem 
Bruder  empfohlen  haben  müssten,  damit  er  Busse  thue. 


1)  „Madame  Yotre  cousine  jouait,  comme  je  yous  ai  dit. 
Le  diic  etait  assis  aiipres  d’elle.  Je  ne  sais  ce  que  sa  maiu 
etait  deYenue;  mais  je  sais  bien  qu’il  s’en  fallait  jusqu’au  coude 
qu’on  ne  liü  Yit  le  bras  tont  entier.  J’etais  derriere  eux  dans 
la  place  qne  la  Denham  Yenait  de  quitter.  II  me  Yit  en  se 
retOLirnaut,  et  fut  si  tfouble  de  ma  presence,  qu’il  pensa 
deshabiller  madame  de  Chesterfield  en  retirant  sa  main.  Je 
ne  sais  s’ils  se  sont  aper(,‘iis  qii’on  les  ait  decouYerts;  mais  je 
sais  bien  que  madame  Denham  mettra  bon  ordre  ä  ©e  que 
personne  ne  Pignore.“  Memoires  de  Gramont  S.  224, 


67 


Sie  wusste  sehr  gut,  dass  sie  nicht  schön  sei,  und  scherzte 
^selbst  über  ihre  Garstigkeit;  aber  trotzdem  liebte  sie  es, 
«ich  prachtvoll  zu  schmücken,  und  machte  sich  manchmal 
"zum  Gegenstand  des  Spottes,  wenn  sie  im  Theater  oder 
heim  Tanze  erschien,  bepflastert,  geschminkt,  gekleidet 
in  Brüsseler  Spitzen,  glänzend  von  Edelsteinen,  und  allen 
Liebreiz  eines  Mädchens  von  achtzehn  Jahren  für  sich 
in  Anspruch  nehmend.  Es  ist  nicht  leicht,  die  Natur 
ihres  Einflusses  auf  Jakob  zu  erklären.  Er  war  nicht 
mehr  jung,  war  ein  religiöser  Mann,  war  wenigstens 
geneigt,  für  seine  Religion  Anstrengungen  zu  machen  und 
derselben  Opfer  zu  bringen;  es  erscheint  fremdartig,  dass 
irgend  eine  Anziehungskraft  ihn  auf  einen  Lebensweg 
führte,  welchen  er  für  höchst  verbrecherisch  halten  musste, 
und  selbst  wenn  dies  möglich  wai‘,  wusste  Keiner,  worin 
diese  Anziehungskraft  bestand.  Catharine  selbst  war 
über  die  Heftigkeit  seiner  Leidenschaft  erstaunt.  „Es 
kann  nicht  meine  Schönheit  sein“,  sagte  sie,  „denn  er 
muss  sehen,  dass  ich  keine  habe;  und  es  kann  nicht 
mein  Geist  sein,  denn  er  selbst  hat  davon  zu  wenig,  um 
ZI!  wissen,  dass  ich  solchen  besitze.“^)  Religiöse  und 
erotische  Ekstasen  wechselten  in  diesem  Liebesverhältnisse 
in  einer  merkwürdigen  Weise  mit  einander  ab  und  be¬ 
einflussten  sich  gegenseitig.  Ich  kann  an  dieser  Stelle 
auf  das  in  mancher  Beziehung  so  lehrreiche  Liebesieben 
Jak  ob ’s  II.  nicht  näher  eingehen.  Wer  Macaulay 
gelesen  hat,  wird  mir  beistimmen,  dass  eine  genauere 
Untersuchung  dieser  Seite  des  Charakters  Jakob ’s  einen 
interessanten  Beitrag  zur  Psychologie  der  Liebe  darstellen 
würde. 


u  c  ii  11  i  a  y  a.  a.  O.  1kl.  iJl  S.  75. 


68 


Zahllose  Schriften,  Berichte  und  Anekdoten  aus  jener 
Zeit  heschäftigen  sich  mit  John  Wilmot,  Earl  of 
Koc bester,  gleich  berühmt  durch  die  Schärfe  seiner 
Satire  wie  durch  die  Zügellosigkeit  seiner  Ausschweifungen. 
In  litterarhistorischer  Beziehung  werde  ich  mich  mit 
diesem  merkwürdigen  Manne  im  zehnten  Kapitel  be¬ 
schäftigen.  Er  gehört  zu  den  am  meisten  charakteristischen 
Erscheinungen  der  Restaurationszeit.  Sein  kurzes  Leben, i) 
welches  ganz  in  die  Zeit  Karl’s  II.  fiel,  gewährt  ein 
treues  Bild  von  dem  wilden  Getriebe  jener  ausschweifenden 
Epoche.  Verschiedene  Zeitgenossen  Rochester’s  haben 
versucht,  eine  Charakterskizze  desselben  zu  entwerfen. 
So  hat  Robert  Wolseley,  Sohn  des  Sir  Charles 
Wolseley  von  Staffordshire,  ein  grosser  Lebemann,, 
Genosse  und  Bewunderer  Rochester’s  eine  sehr  warme, 
stellenweise  panegyrische  Schilderung  seines  Lebens  in 
der  Vorrede  zu  der  Ausgabe  von  Rochester’s  Tragödie 
„Valentinian“  von  1685  verfasst.'*^)  Hier  nennt  er  Rochester 
sowohl  das  ,, Entzücken  als  auch  das  Wunder  der  Männer, 
den  sanften  Liebling  (dove)  und  den  Gegenstand  der  Ver- 
n arrtheit  der  Frauen  “ .  A  p  h  r  a  B  e  h  n ,  von  der  R  o  c  h  e  s  t  e  r 
gerade  nicht  viel  hielt,  nennt  ihn  trotzdem  den  „grossen, 
den  göttlichen  Rochester“.^)  Bischof  B  u  r  n  e  t ,  der 
dem  in  den  letzten  Lebenstagen  von  Gewissensskrupeln 
heimgesuchten  Earl  Beistand  leistete,  war  der  Ansicht, 
dass  das  Hofleben  seine  ursprünglich  edle  Natur  corrumi)irt 

1)  Er  wurde  geboren  den  10.  April  1647  und  starb  den 
26.  Juli  1680. 

-)  „t^alentinian:  A  Tragedy.  As  ’tis  Alter’d  by  tlie  late 
Earl  of  R  o  c  h  e  s  t  e  r  ,  And  Acted  at  the  Tlieatre-Royal.  Together 
witli  a  pretäce  eoncerning  the  Autbor  and  bis  Writings.  By 
One  0  f  H  i  s  F  r  i  e  n  d  s.  London  !  685. 

3)  Apbra  Beim  „Poems  upon  Several  Occasions“,' London 
1697  -S.  59. 


69 


habe.  „Den  eigentümliclien  Reiz  seines  Humors  erreicht 
keiner.  Er  ergab  sich  den  tollsten  Streichen,  ging  in 
<len  Strassen  als  Bettler  verkleidet  umher,  machte  als 
Bedienter  die  Cour  und  schlug  als  italienischer  Markt¬ 
schreier  eine  Bretterbühne  auf.  Einige  Jahre  lang  war 
•er  stets  berauscht  und  stiftete  überall  Unfug.  Der  König 
liebte  der  Unterhaltung  wegen  seine  Gesellschaft  mehr 
als  seine  Person,  und  der  Lord  erwiderte  dies  Gefühl  in 
gleichem  Masse.  Er  rächte  sich  durch  Satiren.  Er  hielt 
einen  Diener,  der  den  ganzen  Hof  kannte,  staffierte  den 
Menschen  mit  Soldatenrock  und  Muskete  aus  und  hielt 
ihn  als  Schildwache  den  ganzen  Winter  durch  jede  Nacht 
un  den  Thüren  solcher  Damen  aufgestellt,  die  er  in 
Liebeshändel  verwickelt  glaubte.  Ein  militärischer  Posten 
wird  nicht  beachtet;  man  glaubt  ihn  im  Dienst.  Auf 
diese  W^eise  kam  der  Lord  durch  seine  Pseudo -Wache 
hinter  alle  Geheimnisse.  Hatte  er  hinreichenden  Stoff 
gesammelt,  so  zog  er  sich  aufs  Land  zurück  und  schrieb 
einen  oder  zwei  Monate  lang  Satiren.  Einst  im  ange¬ 
trunkenen  Zustande  wollte  er  dem  König  ein  solches  gegen 
eine  Dame  verfasstes  Produkt  überreichen;  aber  durch 
Zufall  gab  er  ihm  ein  gegen  den  Monarchen  selbst  ge¬ 
richtetes  Libell.  —  Er  verfiel  bei  Krankheiten  in  Gewissens- 
Skrupel.  Am  Schlüsse  seines  Lebens  war  ich  viel  um 
ihn  und  bin  überzeugt,  er  würde,  hätte  er  sich  erholt, 
von  seinen  Fehlern  zurückgekommen  sein.“^)  Burnet 
handelt  noch  genauer  über  Charakter  und  Lebensende 
dieses  wilde.i  Genies  in  einer  besonderen  Schrift  „Some 
Passages  in  the  Life  and  Death  of  the  Right  Honourable 
John  Earl  of  Roch  ester  “,  die  imTodesjahre  Rochester’s 

9  Gilbert  Burnet  „History  of  liis  owii  Pime“  Bd.  i, 
S.  372  cit.  nach  Grammont  (Erläut.)  S.  332 — 333. 


70 


erschien  (London  1680).^)  Hier  erzählt  er,  dass  der  Ver¬ 
storbene  ihm  gesagt  habe,  er  sei  einmal  fünf  Jahre  hin¬ 
durch  beständig  betrunken  gewesen.  Zwar  hätte  man 
dies  äusserlich  nicht  immer  bemerken  können.  Doch  sei 
sein  Blut  so  entflammt  gewesen,  dass  er  niemals  vollständig 
Herr  seiner  selbst  gewesen  sei.  Diesem  Zustande  entsprach 
auch  das  wilde,  ausschweifende  Leben  Rochester’s,  das- 
eine  einzige  Aufeinanderfolge  von  tollen  Streichen  darstellt. 
Seine  unzähligen  Liebesaffären  hielten  die  vornehme  und 
die  bürgerliche  Welt  Londons  in  beständiger  Aufregung, 
Er  war  Stammgast  in  allen  Bordellen,  betrieb  das  Verführen 
der  Frauen  als  Sport,  fand  sein  Vergnügen  am  schmutzigsten 
Klatsch,  der  obscönsten  Satire,  an  Prügeleien,  Gelagen 
und  Hanswurstiaden.  Durch  den  Mund  der  Hobart  in 
einem  Gespräche  mit  der  Temple  schildert  Hamilton 
diesen  „geistreichsten,  aber  gewissenlosesten  Mann  in 
England“  nicht  unzutreffend :  „Er  ist  für  unser  Geschlecht 
allein  gefährlich,  aber  in  so  hohem  Grade,  dass  ein 
weibliches  Wesen  ihn  nur  dreimal  anhören  darf,  und  ihr 
Ruf  ist  verloren.  Es  ist  unmöglich,  dass  ihm  eine  Frau 
entgehe,  denn  in  seinen  Schriften,  auf  dem  Papier  besitzt 
er  sie  gewiss,  wenn  auch  nicht  in  Wirklichkeit,  und  in 
unserem  Zeitalter  bleibt  sich  das  in  den  Augen  der  Welt 
ganz  gleich.  Man  muss  zugeben,  es  ist  nichts  so  ver¬ 
führerisch,  als  die  feine  Art,  wie  er  sich  der  Seele  be¬ 
mächtigt.  Er  geht  auf  Ihren  Geschmack  ein,  scheint  alle- 
Ihre  Gefühle  zu  teilen  und  während  er  kein  Wort  von 
dem,  was  er  sagt,  glaubt,  macht  er  Sie  Alles  glauben,, 
was  er  sagt.  Ich  will  wetten,  dass  Sie  ihn  nach  seinen 
Reden  für  den  ehrlichsten,  offensten  Mann  auf  Erden 

0  Keuausgabe  mit  Einleitung  von  Lord  Ronald  G  o  w  e  iv 
London  1875. 


halten.  Eigentlich  begreife  ich  nicht  recht,  was  er  mit 
seiner  Aufmerksamkeit  für  Sie  bezweckt.  Es  ist  wahr, 
(lass  Ihnen  die  Huldigung  der  ganzen  Welt  gebührt. 
Allein  wenn  es  ihm  nun  auch  gelungen  wäre,  Ihr  Köpfchen 
zu  bestricken,  so  wüsste  er  mit  dem  reizendsten  Wesen  amHofe 
nicht  einmal  etwas  anzufangen.  Dafür  haben  seine  Ausschwei¬ 
fungen  mit  Hülfe  aller  Stadtdirnen  längst  gesorgt“.^)  P  epys 
erzählt  in  seinem  Tagehuche  eine  Entführungsgeschichte. 
Roc bester  entführte  eine  Mistress  Mailet,  eine  grosse 
Schönheit  und  reiche  Erbin  bei  Charing  Cross,  als  sie 
mit  ihrem  Grossvater,  Lord  Hai  ly,  nach  Hause  fuhr,  und 
steckte  sie  mit  Gewalt  in  eine  sechsspännige  Kutsche,  in 
der  zwei  Frauen  sie  empfingen.  Er  wurde  aber  bald  ver¬ 
haftet  und  in  den  Tower  geschickt.  So  lange  er  bei 
Hofe  lebte,  war  er  überhaupt  mindestens  ein  Mal  jährlich 
verwiesen  worden.  Denn  kaum  hatte  er  ein  Witz  wort 
auf  der  Zunge  oder  Federspitze,  so  brachte  er  es  unter 
die  Leute.  Seine  kaustischen  Sarkasmen  verschonten 
weder  die  Minister,  noch  den  König  und  seine  Maitressen. 
Trotzdem  rief  Karl  H.  ihn  immer  wieder  an  den  Hof. 
Roc  bester ’s  Liebesabenteuer  sind  in  verschiedenen, 
zum  Teil  obscönen  Werken  behandelt  worden;  ebenso  sein 
angeblich  reuiges  Lebensende.  Einen  würdigen  Partner 

C  Grammont’s  Memoiren  S.  201 — 202. 

2)  Vgl.  „The  Singular  Life,  Amatorv  Adventiires  and 
Extraordinary  Intrigues  of  John  Wilmot,  The  Renowned 
Earl  of  Rochester“  (London  circa  1864);  J.  G.  ]\T.  Ruther¬ 
ford  „The  Adventiires  and  Intrigues  of  the  Duke  of 
Buckingham ,  Charles  the  S  e  c  o  n  d  and  the  Earl 
Rochester“  London  1857  (beide  Werke  sind  apokryph); 
„The  Libertine  OverthroMm“  London  1680.  J.  Ley  „The  Two 
Noble  Converts,  or  the  Earl  of  Marlbor ough  and  the  Earl 
ofRochester,  their  dying  requests  and  remonstrance“  London 
1681;  „The  Repentance  and  Happy  Death  of  the  celebrated 
Earl  of  Rochester“  London  1830  (Publikation  der  „London 


72 


fand  Röchest  er  hei  seinen  Ausschweifungen  in  seinem 
Freunde,  dem  Herzoge  von  Buckingham. 

George  Villiers,  Herzog  von  Buckingham 
wurde  am  30.  Januar  1627  geboren  und  starb  am 
16.  April  1688,  wurde  unter  der  Obhut  Karls  I.  erzogen, 
ging  nach  des  Königs  Hinrichtung  nach  Frankreich, 
sicherte  sich  aber  die  Rückkehr  nach  England,  indem  er 
sich  mit  der  Tochter  des  Generals  Fair  fax  verheiratete. 
Unter  der  Restauration  wurde  er  Minister  und  Günstling 
Karls  H.  Dessen  Nachfolger  Jakob  verbannte  ihn  vom 
Hofe.  Buckingham  war  ein  Mann  „voll  von  Geist 
und  Feuer“  (Hamilton),  der  aber  in  toller  Genusssucht 
.seine  unermesslichen  Güter  verschwendete,  ein  echter 
Repräsentant  der  gesunkenen  menschlichen  und  politischen 
Moral  der  englischen  Restaurationsepoche“.  Lord  Orford 
(H.  Walpole)  sagt  von  ihm:  „Wenn  dieser  ausser¬ 
ordentliche  Mann  mit  der  Schönheit  und  dem  Geiste 
eines  Alcibiades  begabt,  den  Presbyterianer  Fair  fax  und 
den  aussoh weifenden  König  Karl  auf  gleiche  Weise  be¬ 
zaubern,  wenn  er  ebenso  den  witzigen  Fürsten  wie  dessen 
gravitätischen  Kanzler  verspotten  konnte,  wenn  er  das 
Verderben  seines  Landes  mit  einer  Cabale  von  schlechten 
Ministern  anbahnte,  oder  nicht  minder  grundsatzlos  des 
Landes  Wohl  mit  falschen  Patrioten  erstrebte,  so  bedauert 
man,  dass  solche  Gaben  ohne  allen  Beisatz  von  Tugend 

Religioiis  Tract  Society“);  ferner  Nachrichten  über  R.  in  der 
„Eccentric  Biograpliy“  London  1826;  Kapitän  A.  Smith ’s 
„School  of  Venus“  London  1716  (2  Bde.);  Pepys’  Tagebuch, 
Grammont’s  Memoiren:  11.  Walpole  „A  Catalogue  of  the  Royal 
and  Noble  Authors  of  England“  London  1798.  E.  D.  Forgues 
hat  in  der  „Revue  des  deux  Mondes  (August  1857  S.  826  ff  und 
Septbr.  1857  S.  161  ff)  eine  auch  von  Ta  ine  für  seine  englische 
Litteratur  benutzte  Studie  über  Roche  st  er  als  Mensch  und 
Dichter  veröffentlicht. 


73 


verloren  gingen;  aber  wenn  Alcibiades  Alcliymist  wird, 
wenn  er,  ein  habsüchtiger  Träumer  nach  Seifenblasen 
jagt,  wenn  der  Ehrgeiz  nur  ein  Zeitvertreib  wird,  und 
die  schlimmsten  Pläne  nur  elenden  Zwecken  dienen,  — 
so  lässt  gerechte  Betrachtung  alles  Nachdenken  über 
diesen  Charakter  verschwendet  erscheinen“.  Bischof 
B  u r  n  e  t  ’  s  Urteil  lautet:  „Er  war  nicht  den  Wissenschaften 
■ergeben,  eine  Zeit  lang  nur  beschäftigte  er  sich  mit 
Chemie  und  glaubte  der  Entdeckung  des  Steines  der 
Weisen  nahe  zu  sein,  welches  die  gewöhnliche  Folge  hatte, 
d.  h.  er  musste  teuer  dafür  bezahlen.  Ohne  Sinn  für 
Religion,  Tugend  oder  Freundschaft  lagen  ihm  nur  Ver¬ 
gnügungen,  tolle  Streiche  oder  Ausschweifungen  am 
Herzen.  Er  blieb  keiner  Sache  treu,  weil  er  sich  selbst 
nicht  treu  war;  er  konnte  nie  einen  Gedanken  fest  ver¬ 
folgen,  kein  Geheimnis  bewahren,  noch  auch  sein  Ver¬ 
mögen,  damals  das  grösste  in  England,  zu  Rate  halten. 
In  der  Nähe  des  Königs  aufgewachsen,  hatte  er  lange 
grossen  Einfluss  auf  diesen,  sprach  aber  über  ihn  zu  aller 
Welt  mit  Verachtung  und  zog  sich  endlich  bleibende  Ungnade 
zu.  Der  Wahnsinn  des  Lasters  erschien  in  diesem  Manne 
in  ausserordentlichem  Grade  verkörpert;  er  ward  zuletzt 
verächtlich,  arm  und  siech,  und  seine  Geistesgaben 
schwanden,  so  dass  man  ihn  endlich  mied,  wie  man  ihn 
früher  gesucht  hatte“.  In  wüsten  und  rohen  Excessen 
Avar  Buckingham  Meist  er  wie  sein  Freund  R  o  c  h  e  s  t  e  r. 
Einst  mieteten  sie  zusammen  ein  Wirtshaus  an  der  Strasse 
nach  Newmarket,  avo  sie  die  Männer  regalierten  und  die 
Frauen  schändeten.  Als  alte  Frau  verkleidet  begab  sich 
Ro  ehester  in  das  Haus  eines  Geizhalses,  entführte  seine 


Grammont’s  Memoiren  (Erl.)  S.  308 — 309, 


74 


Frau  und  scdienkte  dieselbe  Buckingliam.  Der  Gatte 
erhängte  sich,  sie  ,,aber  fanden  den  Spass  köstlich“. 
Als  die  hässliche  und  ungestalte  Lady  Muskerry  auf 
einem  Balle  ein  ,, untergestopftes  Kissen“  verlor,  folgte 
ihr  der  Herzog  von  Buckingham,  hob  es  sorgsam  auf, 
drückte  es  in  die  Brustklappen  seines  Leibrockes,  und, 
indem  er  das  Geschrei  eines  neugeborenen  Kindes  nach¬ 
machte,  suchte  er  sogleich  unter  den  Ehrenfräiilein  eine 
Amme  für  den  armen  kleinen  Muskerry. Am  meisten 
hat  Buckingham  seinen  Namen  befleckt  durch  die 
traurige  Affäre  mit  dem  Lord  Shrewsbury,  dessen 
Gemahlin  er  verführte,  und  den  er  dann  unter  den  rohesten 
L^mständen  im  Duell  tötete.  M  a  c  a  u  1  a  v  berichtet  darüber : 

t/ 

,,Das  Haupt  der  Familie  (Shrewsbury)  war  zur  Zeit 
der  Restauration  Francis,  elfter  Earl,  ein  Katholik. 
Sein  Tod  war  von  Umständen  begleitet  gewesen,  die  selbst 
in  jenen  ausschweifenden  Zeiten,  welche  unmittelbar  dem 
Sturze  der  puritanischen  Tyrannei  folgten,  Abscheu  und 
Mitleid  erregt  hatten.  Der  Herzog  von  Buckingham 
war  auf  der  irren  Bahn  seiner  unerlaubten  Liebesabenteuer 
für  einen  Augenblick  durch  die  Gräfin  Shrewsburv 
angezogen.  Sie  ward  leicht  gewonnen;  ihr  Gemahl  forderte 
den  Verführer  und  fiel.  Einige  sagen,  dass  das  entartete 
Weib  in  der  Kleidung  eines  Mannes  dem  Kampfe  bei¬ 
wohnte,  und  Andere,  dass  sie  den  triumphierenden  Liebhaber 
an  ihr  Herz  drückte,  als  noch  von  seinem  Hemde  das 
Blut  ihres  Ehemannes  rann“.  Pepys  ei  zählt  in  seinem 
Tagebuche,  dass  Lord  Shrewsbury  „durch  und  durch 


Taine  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  U). 
Grammont’s  Memoiren  S.  237 — 238. 
Macanlay  a.  a.  0.  Bd.  Hf  S.  851. 


-  /D  — 

gestossen‘‘  Avard  nnd  alle  Teilnehmer  am  Duell  verwundet 
wurden. 

Dies  sind  die  berühmtesten  Männertypen  der  Re¬ 
staurationszeit.  Die  übrigen  Lebemänner,  die  in  „Gram- 
mont’s  Memoiren“  verkommen,  sind  der  Nachwelt  weniger 
bekannt,  obgleich  sie  in  Beziehung  auf  wüstes  Leben 
ihrer  Vorbilder  Avürdig  sind.  Nur  wenige  von  ihnen 
seien  noch  an  dieser  Stelle  genannt.  So  der  ,, schöne“ 
Henry  S  i  d  n  e  y ,  Kammerjunker  des  Herzogs  von  Y  o  r  k , 
in  den  sich  die  Herzogin  verliebte,  den  Bischof  Burnet 
sehr  milde  beurteilt,  indem  er  nur  seine  ungemessene 
Vergnügungssucht  tadelt,  den  aber  Macaulay  etwas 
schärfer  mitnimmt,  indem  er  ihn  den  „Schrecken  der 
Ehemänner“,  den  „Liebling  der  Weiber“  und  ,, versunken 
in  ein  wollüstiges  Leben  und  in  Trägheit“  nennt, 

1)  Wie  es  damals  bei  J)iiellen  zuging,  erläliren  wir 
ebenfalls  durch  Pe])ys,  der  unter  dem  Juli  1667  erzählt: 
„Sir  Henry  Beiasses  und  Tom  Porter,  die  besten 
Freunde  von  der  Welt,  unterhielten  sich  zusammen,  und 
„Sir  Beiasses  sprach  ein  wenig  lauter  als  gewöhnlich 
zu  Tom  Porter,  indem  er  ihm  eine  Mitteilung  machte. 
Da  sagte  einer  aus  der  Gesellschaft,  der  in  der  Nähe  stand: 
Was?  Zanken  sie  sich  vielleicht,  dass  sie  so  laut  reden?  — 
Sir  H.  Be  11a  SS  es,  der  dies  gehört  hatte,  erwiderte:  „Durchaus 
nicht,  und  Ihr  möget  wissen,  dass  ich  niemals  Streit  antänge 
ohne  zuzuschlagen.  Lasst  Euch  das  gesagt  sein,  das  ist  so 
mein  Brauch.“  —  „Wie!“  sagte  Tom  Porter,  „schlagen?  Ich 
möchte  den  Mann  in  England  sehen,  der  es  wagen  würde, 
mir  einen  Schlag  zu  geben.  Da  gab  ihm  Sir  Beiasses  eine 
Ohrfeige,  und  nun  ging  es  zum  Zweikampf.  Als  Tom  Porter 
erfuhr,  dass  der  Wagen  des  Sir  Beiasses  angekommen  sei, 
verliess  er  das  Kaffeehaus,  wo  er  auf  Nachricht  gewartet  hatte, 
hielt  die  Kutsche  an  und  liiess  Sir  Belass  es  austeigen  — 
„Gut“,  sagte  Sir  Beiasses,  „aber  nicht  Avahr,  Ihr  werdet 
mich  nicht  an  fallen,  während  ich  aussteige.“  „Nein“, 
erwiderte  To  m  Porter.  —  Da  stieg  er  aus  und  beide  zogen. . . 
Sie  wurden  beide  verwundet,  und  Sir  H.  Belass  es  so  stark, 
dass  er  zehn  Tage  später  an  den  Wunden  starb.“ 

2)  Macaulay  a.  a.  0.  Bd.  IV  S.  14. 


76 


F einer  der  effemiiiierte  H  a  r  r  y  J  e  r  m  y  n ,  ^)  B  r  o  u  ii  k  e  r ,  -) 
der  Dichter  Dorset,  den  Horace  Wal  pole  den 
„glänzendsten  Kavalier“  an  dem  üppigen  Hofe  Karl ’ s  II. 
nennt  und  über  dessen  Liaison  mit  Nell  G  w  y  n  n  Pep  y  s 
unter  dem  13.  Juli  1667  berichtet,  sowie  von  ihrem 
gemeinsamen  lustigen  Leben  mit  Charles  Sedley  im 
Kings-Head-Gasthofe,  endlich  dieser  letztere  Schöngeist, 


1)  „Sie  hatte  von  Jermyii  als  einem  wahren  Helden  in 
Liebesabenteuern  gehört.  Wenn  die  Pri  ce  ihr  die  Verhältnisse 
<ler  Herzogin  von  Cleveland  schilderte,  nannte  sie  seinen 
Namen  oft  und  verschwieg  dabei  die  Schwäche,  welche  der 
Held  bei  ernsten  Zusammenkünften  an  den  Tag  legen  sollte, 
nicht.  Dadurch  war  indess  ihre  Begierde  nicht  vermindert, 
einen  Mann  zu  sehen,  dessen  ganzes  Wesen  eine  lebendige 
Trophäe  der  Damengunst  und  aller  möglichen  Siege  über  das 
schöne  (Geschlecht  sein  musste.“'  Grammont  S.  219  —  „Des 
Königs  arme  Höflinge  konnten  mit  eines  Jermyn  reicher 
Ausstattung  und  Pracht  nicht  wetteifern,  und  bekanntlich  führen 
diese  Dinge  in  der  Liebe  oft  ebenso  weit  nls  persönlicher  Wert.“ 
ibid,  S.  78.  Auch  Lady  Castlemaine  fand  Gelegenheit,  sich 
von  der  geringen  Virilität  dieses  Gecken  zu  überzeugen. 

„A^on  allen  Hofmännern  hegte  dieser  am  wenigsten 
Achtung  für  das  schöne  Geschlecht  und  hatte  mit  dessen  Kuf 
das  allermindeste  Erbarmen.  Er  war  iricht  mehr  jung,  sehr 
Aeusseres  nicht  einnehmend,  allein  bei  sehr  viel  Geist  besass 
er  eine  unbegrenzte  Neigung  zu  den  AVeiberrr.  Ueber  den 
eigeneir  AAArt  war  er  sich  vollkommen  klar;  er  sah  wohl  ehr, 
er  k(')nne  nur  iroch  bei  denen,  die  es  auf  seinerr  Beirtel  ab- 
geseherr,  sein  Glück  machen,  und  lag  deshalb  mit  allen 
andern  im  Kampfe.  Eine  Stunde  von  London  hatte  er  ein 
Landhaus,  welches  immer  mit  einigen  Grisetten  möbliert  war, 
übrigens  war  er  ein  sehr  guter  Alann  und  der  erste  Schauspieler 
im  ganzen  Reich,  ibid.  S.  226. 

3)  „Er  (Dorset)  war  in  der  That  ein  merkwürdiger  Alanrr. 
ln  seiner  Jugerrd  war  er  einer  von  den  berüchtigten  AAhistlingen 
der  wilden  Zeit  gewesen,  welche  der  Restauration  folgte,  der 
Schrecken  der  Wächter  der  City,  hatte  viele  Nächte  in  dem 
AVachthause  zugebracht,  und  wenigstens  einmal  eine  Zelle  in 
Newgate  bewohnt.  Seine  Leidenschaft  für  Betty  Mori ce  und 
für  Nell  Gwynn  hatte  der  Stadt  Stoff  zur  Unterhaltung  und 
zum  Skandal  in  reichem  Masse  gewährt.  Doch  mitten  aus 
Tliorheiten  und  Lastern  ragten  sein  mutiger  Geist,  sein  scharfer 


77 


der  die  Zügellosigkeit  seiner  Schriften  nur  durch  die 
Zügellosigkeit  seines  Betragens  übertraf. 

Das  Verhältnis  der  Männer  und  Frauen  von  der 
Art,  wie  wir  sie  kennen  gelernt  haben,  unter  einander 
musste  das  denkbar  roheste  sein.  Der  niedrigste  Klatsch 
und  die  boshafteste  und  unflätigste  Verleumdung  waren 
die  Mittel,  die  Männer  und  Frauen  in  den  oft  ungleichen 
Liebeskämpfen  gegen  einander  gebrauchten.  Die  Frauen 
veracliteten  die  Männer  nicht  weniger  als  sie  von  diesen 
selbst  verachtet  wurden.  Die  Weiberehre  wurde  mit 
Füssen  getreten.  Wie  empörend  ist  z.  B.  die  systematische 
Verleumdungsaktion,  welche  gegen  Miss  Hy  de  in  Scene 
gesetzt  wurde,  um  Jakob  II.  davon  abzubringen,  sie  zu 
heiraten.  Da  sagt  ein  Talbot  aus,  dass  sie  ihm  im 
Kabinet  ihres  Vaters  eine  so  lebhafte  Zusammenkunft 
gewährt  habe,  dass  sie  beide  auf  die  Sachen,  die  auf  dem 
Tische  standen,  weniger  achteten,  als  auf  das,  was  sie 
beschäftigte,  und  so  hätten  sie  eine  ganze  Flasche  voll 


\Trstand  lind  seine  natürliche  Herzensgnte  hervor.“  Macaulay 
III,  35'2 — 353.  Macaulay  rühmt  auch  das  hervorragende 
Verständnis  dieses  Verfassers  äusserst  witziger  Satiren  für 
Kn  st  und  Litte  ratur. 

y  „Die  Sittlichkeit  Sedley’s  war  von  der  Art,  dass  sie 
selbst  in  jenem  Zeitalter  grossen  Anstoss  erregte.  Bei  einer 
(ielegenheit  zeigte  er  sich  nach  einem  wilden  Gelage  auf  dem 
Balkon  einer  Schenke  in  der  Nähe  von  Govent  Garden  und 
redete  zu  den  vorbeigehenden  Leuten  in  einer  so  unzüchtigen 
und  gottlosen  Sprache,  dass  er  durch  einen  Hagel  von  Ziegel¬ 
stücken  ins  Haus  getrieben,  wegen  Misdemeanour  verfolgt  und 
zu  einer  schweren  Geldstrafe  verurteilt  ward,  auch  von  dem 
Gerichtshof  des  Kings  Bench  in  schneidenden  Ausdrücken  einen 
Verweis  erhielt. Macaulay  III  S.  74.  Ein  ander  Mal  liefen 
Sedley  und  Dorset  halbnackt  in  der  Nacht  durch  die  Strassen 
(Pepys).  Als  rler  Lichter  Hy  de  an  Sedley  die  Frage  richtete, 
ob  er  das  Buch  „der  vollkommene  Gentleman“  gelesen  habe, 
erwiderte  derselbe:  Seine  Lordschaft  aus  dem  Spiele  lassend, 
habe  er  wohl  mehr  Bücher  gelesen  Avie  der  Frager. 


78 


Dinte  auf  eine  fünf  Seiten  lange  Depesche  iimgestürzt, 
worauf  des  Königs  Affe,  dieses  Vergehens  angeklagt,  auf 
längere  Zeit  in  Ungnade  gefallen  sei“.  Jermyn  nannte 
mehrere  Orte  langer  und  glücklicher  Zusammenkünfte 
mit  der  Hy  de.  Beide  bekannten  aber,  nur  die  „kleinen 
Freuden  der  Liebe“  genossen  zu  haben.  Aber  Killegrew 
sagte  gerade  heraus,  dass  er  die  höchste  Gunst  der  Miss 
Hy  de  genossen  habe.  „Er  war  von  munterem,  schalk¬ 
haftem  Sinn  und  wusste  seinen  Geschichten  durch  anmutige 
pikante  Züge  einen  hübschen  Anstrich  zu  geben.  Ihm, 
sagte  er,  hätte  die  Schäferstunde  in  einem  ganz  anderen 
Kabinet  gelacht,  das  zu  einem  von  Liebeshändeln  weit 
entfernten  Zwecke  gerade  über  dem  Wasser  eingerichtet 
wäre;  zu  Zeugen  hätten  sie  drei  oder  vier  Schwäne  gehabt, 
die  leicht  auch  manches  Andere  Glück  wahrgenommen 
haben  könnten,  da  die  Dame  oft  in  dies  Kabinet  ginge 
und  sich  sehr  darin  gefiele.“ 

Schamlos  waren  die  Unterhaltungen  über  die  Beize 
des  anderen  Geschlechts,  seien  sie  nun  von  Männern  oder 
von  Frauen  geführt.  Letztere  unterhielten  sich  mit  Vorliebe 
über  die  plwsische  Tüchtigkeit  berühmter  Liebeshelden. 
Erstere  unterzogen  die  Beschaffenheit  der  weiblichen  Körper 
einer  eingehenden  Analyse.  Männer  überliessen  ihre 


1)  „Grammont'.'s  .Memoiren“  S.  134 — 135. 

2)  „Lady  (i  h  e  s  t  e  r  fi  e  l  d  ist  angeiiehiii,  mau  muss  das 
einräumeii,  aber  es  fehlt  yiel  an  dem  Wunder  von  Schönheit, 
wofür  sie  sich  Indt.  wissen,  dass  sie  hässliche  Füsse  hat, 
aber  nicht,  dass  ihre  Beine  noch  hässlicher  sind.“  —  Bitte 
sehr,“  sagte  11  a  milton  leise.  —  Der  Lord  setzte  seine  Zer¬ 
gliederung  fort:  „Ihr  Bein  ist  kurz  und  dick,  und  um  diesen 
Fehler,  so  gut  es  geht,  zu  verbergen,  trägt  sie  fast  stets  grün¬ 
seidene  Strümpfe.“  —  Hamilton  konnte  nicht  begreifen,  wo 
zum  Teufel  das  Alles  hinauswolle,  und  C  h  e  st  e  rh  e  i  d,  ihn 
erratend,  sprach  weiter:  „Einen  Augenblick  Geduld:  gestern 


Ehefrauen  guten  Freunden  zur  gefälligen  Benutzung,  wie 
dies  Mr.  C  o  o  k  e  gegenüber  Sir  William  Baron  tliat. 

Andererseits  nahmen  betrogene  Ehemänner  bisweilen 
eine  seltsame  Bache,  die  „ohne  Gift  und  Eisen“  doch 
gründliche  Genugthuung  schatten  konnte.  So  suchte 
Southesk  an  den  verruchtesten  Orten  die  „abscheulichste 
Krankheit,  die  dort  zu  finden  ist;  es  gelang  ihm  seine 
Bache  aber  nur  zur  Hälfte ;  denn  nachdem  er  die  schwersten 
Kuren  durchgemacht,  um  das  Übel  wieder  los  zu  werden, 
gab  seine  Frau  Gemahlin  ihm  allein  sein  Geschenk  zu¬ 
rück,  da  sie  mit  dem,  für  welchen  es  so  gewandt  bereitet 
war,  keinen  Umgang  mehr  pflog“.  “■^)  Der  Marquis  von 
F 1  a  m  a  r  e  n  s  konnte  von  Glück  sagen,  dass  Lady  Southesk 
ihm  ausser  ihrem  Herzen  nicht  noch  „ein  anderes  Geschenk^*“ 
verehrte. 


war  ich  bei  Miss  Stewart,  nach  der  Audienz  dieser  ver¬ 
wünschten  Moskowiten.  Uer  König  war  gerade  eingetreten, 
und  als  hätte  der  Herzog  geschworen,  mich  diesen  Tag  überall 
zu  verfolgen,  trat  auch  er  eine  Minute  später  ein.  Die  ünter- 
lialtung  drehte  sich  um  das  seltsame  Aeussere  der  fremden 
(tesandten.  Ich  weis  nicht,  wie  der  tolle  Cr  oft  s  dazu  kam, 
zu  sagen,  die  Moskowittni  hatten  lauter  schöne  Frauen  und 
alle  ihre  Weiber  hätten  schöne  Beine;  genug,  der  König  be¬ 
hauptete,  es  gäbe  nichts  Schöneres,  als  das  Bein  der  Miss 
Stewart.  Um  den  Ausspruch  zu  bethätigen,  zeigte  sie  es  bis 
über  das  Knie.  Man  wollte  sich  niederwerfen,  um  sein  Eben- 
]nass  anzubeten;  denn  es  giebt  wirklich  nichts  Schöneres; 
aber  der  Herzog  allein  fing  an,  es  zu  bekritteln ;  er  meinte,  es 
wäre  etwas  zu  dünn,  und  behauptete,  nichts  sei  so  reizend,  als 
ein  etwas  kürzeres  und  stärkeres  Bein  und  schloss  endlich: 
kein  Bein  ohne  grünseidene  Strümpfe  könne  Gnade  finden. 
Nach  meiner  Ansicht  hiess  das  sagen :  er  habe  ein  solches 
kürzlich  gesehen  und  sein  Kopf  sei  noch  ganz  voll  davon.“ 
ibidem  S.  147. 

*)  Mrs.  M  a  n  1  e  \  ’s  „Atalantis*‘  S*  485. 

‘b  ibidem  S,  139. 

3)  S.  175. 


80 


Häufig ei eigneten  sich  Eifersuchtsszenen  zwischen 
den  verschiedenen  Damen,  und  besonders  zwischen  des- 
Königs  zahlreichen  Maitressen. 

Schwangerschaften  und  Niederkünfte  waren 
alltägliche  Ereignisse.  Die  stolze  Warmestree,  „offenbar 
in  der  Zeitrechnung  getäuscht,  nahm'  sich  die  Freiheit, 
mitten  am  Hofe  niederzukommen“,  und  Miss  Bellenden,, 
durch  dieses  Beispiel  gewarnt,  hatte  einige  Zeit  nachher 
die  Klugheit,  den  Hof  zu  verlassen,  ehe  sie  fortgewiesen 
wurde.  Lady  Castlemaine’s  Aussehen  war  ,, durch 
eine  dritte  oder  vierte  Schwangerschaft  entstellt,  welche 
der  König  noch  auf  seine  Kechnung  zu  nehmen  die 
Güte  hatte.“ 

P  e  p  y  s  hörte  von  Kapitän  F  e  r  r  e  r  s ,  da^s  „vor  ungefähr 
einem  Monate  bei  einem  Hofballe  eine  Dame  während 
des  Tanzes  ein  Kind  habe  fallen  lassen“.  Man  trug  es 

Grammont  schenkte  dem  König  eine  prachtvolle 
Karosse  mit  Glasfenstern,  „die  Königin  glaubte,  dieses  prächtige 
Gebäude  könne  ihr  Glück  bringen,  und  wollte  sich  deshalb 
mit  der  Herzogin  von  York  zuerst  darin  zeigen.  Lady 
Castle  niai ne,  die  sie  fahren  sah,  stellte  sich  vor,  man  müsse 
in  dieser  Karosse  schöner  aussehen  wie  in  einer  andern,  und 
bat  den  König,  ihr  den  Y^Yinderwagen  zu  leihen,  um  damit  am 
ersten  schönen  Tage  im  Hyde-Park  zu  glänzen.  Miss  Stewart 
hatte  denselben  Wunsch  und  verlanote  ihn  für  den  nämlichen 
'tag.  Da  es  nun  kein  Mittel  gab,  zwischen  beiden  Göttinnen 
zu  entscheiden,  deren  frühere  Freundschaft  sich  in  Todhass 
gewandelt  hatte,  so  war  der  König  in  grosser  Verlegenheit ; 
denn  jede  wollte  durchaus  die  erste  sein.  Lady  Castlemaine 
war  guter  ITofthung  und  drohte  vor  der  Zeit  niederzukommen, 
wenn  ihre  Nebenbuhlerin  den  Vorzug  erhielte.  Miss  Stewart 
beteuerte,  sie  werde  sich  nie  in  jenen  Zustand  versetzen  lassen, 
wenn  man  sie  hintan  stelle.  Die  letzte  Droliung  trug  über  die 
erste  den  Sieg  davon  und  die  Wut  der  Castlemaine  war 
so  gross,  dass  sie  fast  Wort  gehalten  hätte ;  auch  behauptet 
man,  der  Triumph  habe  der  Rivalin  ein  Avenig  \on  ihrer  Un¬ 
schuld  gekostet“  ibidem  S.  119. 

2)  ibidem  S.  183,  S.  184. 

3)  ibiilem  S.  259. 


81 


in  einem  Tasclientuclie  weg.  Der  König  behielt  es  un¬ 
gefähr  eine  Woche  in  seinem  Kabinet  und  secierte  es 
unter  groben  Spässen  und  Witzen“,  i)  Die  Königin  fühlte 
nur  zu  gut,  dass  ihr  Gemahl  sich  um  legitime  Kinder 
wenig  bemühen  werde,  so  lange  seine  reizenden  Maitressen 
ihm  natürliche  Nachkommen  brächten.  ‘^) 

Die  Vergnügungen  jagten  einander  an  diesem 
Hof  der  üppigsten  Wollust.  Besonders  beliebt  waren  die 
Ausritte,  bei  denen  die  Damen  alle  ihre  Reize  glänzen 
liessen.  „Bald  gab  es  Spazierritte,  wo  die  Schönen  des 
Hofes,  hoch  zu  Ross  ihre  Reize,  zuweilen  mit,  zuweilen 
ohne  Erfolg,  aber  immer  nach  Kräften  entfalteten“,^) 
wobei  auch  Miss  Arabella  Churchill  einmal  Gelegenheit 
hatte,  dem  Herzog  von  York  den  Contrast  zwischen 
ihrem  Gesichte  und  ihrem  Körper  zu  zeigen.^)  Pepys 
sah  einmal  die  ganze  Schaar  dieser  schönen  Damen  von 
einem  Spazierritte  zurückkehren,  folgte  ihnen  in  den  Hof 
von  Whitehall,  beobachtete,  wie  sie  einander  ihre  Hüte 
mit  den  grossen  Federn  aufsetzten  und  anprobierten,  hörte, 
wie  sie  lachten.  „Es  war  der  schönste  Anblick,  was  ihre 
grosse  Schönheit  und  ihre  Kleider  betrifft,  den  ich  je  in 
meinem  Leben  gehabt  habe.  Aber  vor  allen  ist  jetzt 
Miss  Stewart,  in  diesem  Kleide,  mit  dem  aufs  Ohr  ge¬ 
setzten  Hute  mit  roten  Federn,  mit  ihrem  süssen  Auge, 
kleiner  römischen  Nase  und  herrlichem  Wüchse,  das 
Schönste,  was  ich  je  gesehen  habe.“  In  der  That  liebte 


Ta  ine  a.  a.  0.  Bd.  11  S.  23. 

2)  Grammont  S.  262. 

ibid.  S.  116. 

4)  ibid.  S.  247. 

J.  H.  Jesse  „Literary  and  Historical  Memorials  of 
London“  Lond.  1847  Bd.  11  S.  207. 

Dühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England.**  6 


82 


der  König  Miss  Stewart  am  meisten,  wenn  sie  zu 
Pferde  sass.  —  Auch  gab  es  wunderbare  Wasserpaitien. 
Von  den  Stufen  des  an  der  Themse  liegenden  Palastes 
von  Wbiteball  stieg  der  Hof  herab,  um  sich  auf  dem 
Flusse  einzuschiffen,  wenn  „an  Sommerabenden  Hitze  und 
Staub  die  Spazierfahrt  im  Parke  nicht  gestatten.  Eine 
Unzahl  von  offenen  Fahrzeugen,  mit  allen  reizenden  Er¬ 
scheinungen  vom  Hofe  und  aus  der  Stadt  angefüllt,  geben 
den  königlichen  Barken  das  Geleit.  Habei  giebt  es  Fest¬ 
mahle,  Musik  und  Lustfeuerwerke.  Auch  der  Chevalier 
Grammont  nahm  immer  Teil  daran  und  fast  jederzeit 
verherrlichte  er  die  Fahrt  durch  eine  Überraschung  pracht¬ 
voller  oder  galanter  Art.  Zuweilen  waren  es  ganze  Vocal- 
und  Instrumentalkonzerte,  zu  dem  er  die  Künstler  heimlich 
aus  Paris  hatte  kommen  lassen,  und  die  plötzlich  auf  dem 
Wasser  ihre  Töne  anstimmten,  oft  auch  darstellende 
Künstler,  ebenfalls  aus  Frankreich  herbeigeholt,  um  in 
London  die  Feste  des  Königs  zu  verherrlichen“.^)  — 
Eine  Zeit  lang  waren  nächtliche  Gelage  bei  Miss 
Warme  stre  sehr  en  vogue,  und  alle  diese  Feste  wurden 

ibidem  S.  116 — 117. 

„Um  alles  in  der  Welt  hätte  die  Gouvernante  der 
Fräulein  nicht  anders  als  in  Zucht  und  Ehren  die  bequeme 
Aufseherin  ges])ielt:  doch  gestattete  sie,  dass  bei  Miss 
W  armestre  nach  Belieben  zu  Nacht  gegessen  werde,  ver¬ 
steht  sich:  in  ihrem  Beisein  und  in  guter  Absicht.  Die  gute 
Dame  liebte  frische  Austern  und  verachtete  keineswegs  die 
spanischen  Weine.  Sie  fand  also  regelmässig  bei  jeder  Mahl¬ 
zeit  zwei  Fässchen  Austern,  das  eine  zum  gemeinschaftlichen 
Verzehren  und  das  andre  zum  Mitnehmen.  Sobald  sie  ihre 
gehörige  Portion  Wein  genossen  hatte,  empfahl  sie  sich  der 
Gesellschaft.  Ungefähr  um  die  Zeit,  als  der  Chevalier  Gram¬ 
mont  die  Augen  auf  Miss  AVarmestre  geworfen  hatte, 
führte  man  dieses  heitre  Leben  auf  ihrem  Zimmer.  Der 
Himmel  weis«,  wie  viele  Schinkenpasteten,  Flaschen  Wein  und 
andre  Dinge  auf  seine  Kosten  dort  verzehrt  wurden.“  ibidem 
S.  180—181. 


83 


verschönt  durch  die  lieblichen  Töne  der  Guitarre.^) 
Auch  Geschenke^)  und  Liebespfänder spielten 
eine  grosse  Rolle  bei  diesen  leichtfertigen  Unterhaltungen. 

Bei  alledem  war  das  am  meisten  Verderbliche,  dass 
diese  vornehme  Gesellschaft  ihre  Laster  ins  Volk  hineintrug» 
Wohl  keine  Epoche  in  der  Geschichte  der  öffentlichen 
Sittlichkeit  lässt  so  deutlich  den  unheilvollen  Einfluss 
einer  korrumpierten  höheren  Gesellschaft  auf  die  Volks- 


„Es  gab  am  Hofe  einen  durch  sein  Guitarreuspiel 
berühmten  Italiener,  Francisco.  Er  besass  wirklich  musika¬ 
lisches  Genie  und  (lariim  hat  er  auch  allein  aus  der  Guitarre 
etwas  machen  können;  sein  Spiel  war  so  zart  iintl  anmutig, 
dass  er  dem  undankbarsten  Instrument  Harmonie  verliehen 
hätte.  Es  muss  dabei  bemerkt  ^verden,  dass  nach  seiner  Manier 
zu  spielen  ausserordentlich  schwierig  war.  Des  Königs  Ge¬ 
schmack  an  diesen  Compositionen  hatte  das  Instrument  so  in 
Aufnahme  gebracht,  dass  alle  Welt  gut  oder  schlecht  darauf 
spielte  und  auf  dem  Toilettentisch  der  Damen  war  so  sicher 
eine  Guitarre  zu  tinden,  wie  Schminke  und  Schönheits¬ 
pflästerchen“.  ibidem  S.  143. 

„Taschenspiegel,  besetzte  Etuis,  Aprikosen-Ronbons, 
Essenzen  und  andere  kleine  Liebesartikel  kamen  von  Paris 
allwöchentlich  mit  irgend  einem  neuen  Anzug  für  ihn  selbst; 
in  Hinsicht  wertvollerer  Dinge  indfess,  wie  Ohrgehänge,  Diaman¬ 
ten  und  schöne  Himmelsgaben  in  baaren  Guineen,  diese  fanden 
sich  alle  in  natura  in  der  Stadt  Ijondon  vor,  und  die  Schönen 
führten  sie  sich  zu  Gemüt,  als  wären  sie  wer  weiss  wie  weit 
hergekommen.“  ibidem  S.  87. 

®)  Als  Dongan,  den  Miss  Price  zärtlich  geliebt  hatte, 
gestorben  war,  fand  sich  in  seinem  Nachlasse  ein  versiegeltes, 
an  die  Price  adressirtes  Kästchen.  Da  diese  die  Entgegen- 
nähme  desselben  ablehnte,  fand  die  Eröffnung  im  Zimmer  der 
Herzogin  von  York  in  Gegenwart  mehrerer  Damen  statt.  „Es 
fanden  sich  darin  alle  nur  erdenklichen  Liebespfändchen,  und 
sie  waren  sämmtlich  von  der  zärtlichen  Miss  Price.  Man 
konnte  nicht  begreifen,  Avie  ein  einziges  menschliches  Wesen 
so  viel  Material  habe  liefern  können ;  denn  ausser  den  Portraits 
gab  es  alle  Arten  von  Haaren,  und  in  den  mannigfachsten 
Geflechten.  Darauf  kamen  drei  oder  vier  Packete  Briefe  von 
so  feurig  zärtlichem  Inhalte,  dass  man  nach  den  ersten  beiden 
nicht  weiter  zu  lesen  wagte:  Inbrunst  und  Schmachten  waren 
-darin  zu  natürlich  ausgedrückt.“  ibid.  S.  188. 


6* 


84 


Sitten  erkennen  wie  diese,  welche  ein  besonderes  Vergnügeir 
darin  fand,  stetige  Fühlung  mit  dem  gewöhnlichen  Bürger 
und  Leuten  aus  niederem  Stande  zu  behalten.  —  Von. 
dem  skandalösen  Benehmen  Sedley’s  u.  A.  inmitten 
des  Volkes  habe  ich  schon  berichtet.  Rochester  liess¬ 
sich  einmal  eine  Zeit  lang  in  der  City  nieder  in  der 
anfänglichen  Absicht,  sich  in  die  Geheimnisse  der  Bürger 
einweihen  zu  lassen  d.  h.  er  wollte  „unter  verändertem 
Namen  und  in  fremder  Tracht  an  ihren  Festen,  Partien 
und  gelegentlich  an  dem  Genüsse  ihrer  Frau  Gemahlinnen 
Teil  nehmen.  Da  sich  sein  Geist  allen  Richtungen  an- 
bequemte,  so  musste  man  sehen,  wie  er  in  die  dichte 
Hülle  der  reichen  Aldermänner  und  in  die  zartere  ihrer' 
liebenden  und  prunkhaften  Hälften  eindrang.  Er  ward, 
zu  allen  Festen  geladen,  und  während  er  mit  den  Männern 
gegen  die  Fehler  und  Schwächen  der  Regierung  deklamierte,, 
half  er  ihren  Frauen  über  die  Hofdamen  und  Maitressen 
des  Königs  den  Text  lesen.  Er  behauptete  in  ihrem 
Sinne,  dieser  schändliche  Missbrauch  nage  am  Mark  des 
armen  Volkes;  die  schönen  Damen  der  City  gäben  denen 
des  Westendes  gar  nichts  nach,  und  doch  fände  in  ihrem 
Stadtteile  ein  braver  Ehemann  an  einer  Frau  vollkommen 
Genüge;  endlich  ihr  Murren  noch  überbietend  meinte  er,, 
er  sei  erstaunt,  dass  noch  nicht  Feuer  vom  Himmel  auf 
Whitehall  gefallen  sei  und  es  zerstört  habe,  weil  man 
dort  Taugenichtse  wie  Rochester,  Killegrew  und 
Sidney  dulde,  die  da  behaupteten,  alle  Männer  in  London 
seien  Hahnreie  und  ihre  Weiber  geschminkt.  Dergleichen 
machte  ihn  in  männlichen  Kreisen  so  beliebt  und  gesucht,, 
dass  er  der  Schlaraffengelage  und  der  Zudringlichkeit  der 
Kaufleute  bald  müde  wurde“,  i)  Miss  F r  a n  c  e  s  J  e  n  n  i  n  g s. 


ibidem  S.  221. 


85 


and  Miss  Price  verkleideten  sich  als  Orangenmädchen, 
lind  boten  in  der  Stadt  ihre  Früchte  feil,  wobei  sie  allerlei 
Abenteuer  erlebten,  über  die  Hamilton  berichtet. 
Übrigens  waren  diese  Verkleidungen  der  Hofdamen  häufig. 
-^Selbst  die  Königin  mischte  sich  als  Bäuerin  auf  Jahr¬ 
märkten  unter  das  Volk.  Bischof  Biirnet  erzählt:  „In 
jener  Zeit  verfiel  der  Hof  auf  die  ausgelassensten  Mum¬ 
mereien;  König  und  Königin  und  der  ganze  Hof  gingen 
verkleidet  umher,  zogen  in  fremde  Häuser  und  tanzten 
da  unter  tollen  Spässen.  Dabei  waren  sie  kaum  zu  er¬ 
kennen,  wenn  man  nicht  um  das  Geheimnis  wusste.  Sie 
liessen  sich  in  gewöhnlichen  Mietssänften  umherführen. 
Einmal  verloren  sich  die  Träger  der  Königin,  indem  sie 
diese  nicht  kannten,  von  ihr.  So  blieb  die  Fürstin  ver¬ 
lassen  und  wusste  sich  nicht  zu  helfen.  Eine  Mietskutsche 

« 

brachte  sie  nach  Whitehall  zurück“.-) 

Aber  diese  Vertraulichkeiten  gingen  noch  weiter. 
John  Evelyn  erzählt  von  grossen  Ladies,  die  sich  in 
Tavernen  von  solcher  Art  traktieren  liessen,  dass  eine 
Courtisane  sich  kaum  herablassen  würde,  ein  derartiges 
Lokal  aiifzusuchen.  „Aber  noch  mehr  werdet  Ihr  erstaunt 
sein,  wenn  ich  Euch  versichere,  dass  sie  ihre  grossen 
Gläser  in  der  Kunde  trinken,  Gesundheiten  ausbringen, 
nach  der  Geige  tanzen,  freigebig  Küsse  austeilen  und 
das  als  einen  ehrbaren  Zeitvertreib  bezeichnen.“^)  De 
C  0  m  i  n  g  e  s,  der  französische  Gesandte  am  Hofe  Karls  H. 
berichtet,  dass  Excesse  in  Tavernen  und  Bordellen  von 
Leuten  von  Rang  begangen  wurden  blos  in  wollüstigen 


1)  ibid.  S.  223—228. 

„Grammont’s  Memoiren“  (Erläut.)  S.  330. 

3)  Georgia  na  Hill  „\Vomen  in  Englisli  Life“  London 
1896  ßd.  I  S.  184. 


—  8G  — 

Absichten,  und  dass  selbst  Frauen  aus  vornehmem  Stande 
es  ihrem  Galan  nicht  verweigerten,  ihn  dorthin  zu  be¬ 
gleiten,  um  spanischen  Wein  zu  trinken,  i) 

In  seinen  „Literary  and  Historical  Memorials  of 
London“,  die  er  oft  durch  eigene  eingestreute  Verse  belebt, 
giebt  J.  H.  J  e  s  s  e  eine  poetische  Schilderung  des  Lebens 
und  Treibens  der  Eestaurationszeit,  die  als  passender 
Abschluss  dieses  Abschnittes  hier  ihren  Platz  finden 
möge : 

„Live  while  we  live“,  the  frolic  monarch  cries; 

Away  with  thought  in  joy’s  delicious  hours, 

Of  love  and  mirth,  of  melody  and  fiowers ! 

Lo !  on  the  ear  voluptuous  music  falls, 

The  lamps  are  flashing  on  the  mirrored  walls; 

How  rieh  the  odours,  and  how  gay  the  rooms 
With  sparkling  jeweis  and  with  waving  plumes! 

Bright  names  that  live  in  history’s  page  we  trace, 
Hyde’s  mournful  lok,  and  Monmouth’s  angel  face; 
Portsmouth’s  dark  eye,  and  Cie veland’s  haughty 

cliarms 

That  chained  a  monarch  to  her  snowy  arms; 

There  royal  Catherine  cheeks  the  jealous  tear, 

While  pleads  her  lord  in  beauty’s  fiattered  ear; 

There  gleams  the  star  on  graceful  Villiers’  breast,. 
Here  the  grouped  courtiers  laugh  at  Wilmot’s  jest: 
There  glittering  heaps  of  tempting  gold  entice 
The  wealthy  fool  to  chance  the  dangerous  dice; 

Here  floats  joung  beauty  through  the  graceful  dance,. 
Feigns  the  fond  sigh,  or  throws  the  wanton  glance; 


L  ibidem  S.  187. 

2)  J.  II.  Jesse  a.  u.  0.  Bd.  H  S.  201 — 205. 


87 


There  tlie  soft  love-song,  to  3^011  group  apart, 

Steels  witli  delicious  sweetness  o’er  tlie  lieart; 

The  easy  monarch  glides  frora  fair  to  fair, 

Hints  tlie  warm  wish,  or  hreatlies  tlie  amoroiis  prayer. 


2.  Die  Gesellsclialt  des  18.  und  I!).  .Jahrhunderts. 

Die  Wirkung,  welche  die  Zeit  der  Restauration  auf 
das  Gesellschaftsleben  in  England  ausgeübt  hat,  war  eine 
ungeheure.  Die  Formen  des  höheren  geselligen  Lebens, 
wie  sie  sich  unter  Karl  II.  gestaltet  hatten,  haben  sich 
im  grossen  und  ganzen  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten. 
So  änderte  die  Vertreibung  der  Stuarts  nichts  an  dem 
Charakter  des  englischen  High  Life.  Der  Beginn  des 
18.  Jahrhunderts  lässt  dieselben  Neigungen  der  vor¬ 
nehmen  Gesellschaft  erkennen,  nur  veredelt  und  im  Laufe 
des  18.  Jahrhunderts  immer  mehr  durch  geistige  Interessen 
verfeinert  und  bestimmt.  Paul  Heu  sei  bemerkt  in 
seiner  interessanten  Studie  über  die  englischen  sozialen 
Zustände  am  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts:  „Eine  Wieder¬ 
kehr  der  puritanischen  Sittenstrenge  war  nicht  zu  befürchten. 
Es  war  und  blieb  ein  weltliches  Geschlecht,  das  viel 
mehr  darauf  sah,  in  der  Welt  fortzukommen,  als  den 
Weg  zum  Heil  zu  suchen.  Aber  die  Religion  wurde 
nicht  mehr  verspottet,  vornehmer  Müssiggang  wurde  ge- 
geisselt“.  Trotzdem  konstatiert  Heu  sei  noch  als  Haupt¬ 
charakteristikum  dieser  Periode,  die  „Abwesenheit  des 
Hauptelements  unseres  heutigen  Lebens“,  der  Arbeit, 
obgleich  es  nicht  melir  so  schlimm  war  wie  in  der  Zeit, 
welche  uns  das  Tagebuch  von  Pepys  so  treu  schildert.^) 

b  P.  llensel  „Engli.sclie  sociale  Zustände  zu  Anfang  des 
18.  Jalnliunderts“  Neue  Heidelb.  Jalirb.  181)9  S.  2—3. 


88 


Die  Abneigung  gegen  eine  regelmässige  Bescliäftigung 
herrschte  noch  während  des  ganzen  18.  Jahrhunderts  in 
der  vornehmen  Gesellschaft  Englands.  Und  haben  jene 
Kreise  im  19.  Jahrhundert  diese  Abneigung  überwunden? 

Die  Stuarts  hatten  durch  ihren  langen  Aufenthalt 
in  Frankreich  die  Vorliebe  für  französische  Sitten  und 
französisches  Wesen  mit  nach  England  gebracht,  und  in 
den  Personen  eines  G  r  a  m  m  o  n  t  und  S  a  i  n  t  -  E  v  r  e  m  o  n  d 
verkörperten  sich  diese  innigen  Beziehungen  zwischen  der 
französischen  und  englischen  Gesellschaft.  DieFranco- 
philie  ist  die  bemerkenswerteste  Hinterlassenschaft  der 
Restaurationsepoche.  Sie  giebt  —  das  ist  nicht  zu  ver¬ 
kennen  —  dem  18.  Jahrhundert  auch  in  England  einen 
eigentümlichen  Reiz.  Noch  haben  sich  für  diese  Epoche 
keine  englischen  Goncourts  gefunden.  Es  würde  nicht 
schwer  für  dieselben  sein,  ein  ebenso  reichliches  Material 
für  ihre  Schilderungen  zusammen  zu  bringen,  wie  es  die 
berühmten  französischen  Schriftsteller  gesammelt  haben. 
„There  is  an  irr esis tibi e  fascination  in  the  study 
of  the  men  and  women  of  the  eighteenth  Century  of 
France  and  England ;  they,  their  manners  and  customs 
have  disappeared  for  ever,  but  G  a  i  n  s  b  o  r  o  u  g  h  ’  s  gracious 
women,  Sir  Joshua  Reynolds ’s  charming  types,  and 
Romney’s  sensitive  heads,  have  in  England  immortalised 
the  reign  of  beauty  of  this  period“. 

Um  diese  das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  sich 
bemerkbar  machende  und  selbst  noch  unter  Georg’sIV. 
Regierung  anhaltende  Vorliebe  der  Engländer  für  Frank¬ 
reich  zu  erklären,  muss  daran  erinnert  werden,  dass  ihr 
besonders  in  den  ersten  Decennien  des  18.  Jahrhunderts 

1)  E.  S.  Roscoe  und  11  eien  CI  erg  ne  „George  Selwyn, 
bis  letters  and  his  life.“  London  1899  S.  21. 


89 


in  Frankreich  eine  Anglophilie  gegenüberstand.  Per¬ 
sönlichkeiten  wie  Gramm ont  und  selbst  ein  Saint- 
Evremond  waren  freilich  nicht  ausreichend,  um  solche 
tiefen  und  vor  allem  nachhaltigen  Sympathien  zwischen 
den  beiden  grossen  Nachbarvölkern  hervorzurufen.  Diese 
Sympathien  knüpfen  sich  erst  an  die  grossen  Namen  eines 
Voltaire  und  Montesquieu.  Drei  Jahre,  1 72G — 1728, 
weilte  Voltaire  in  England,  erlernte  die  Sprache  des 
Landes  vollkommen,  machte  sich  vertraut  mit  allen  litte- 
rarischen  und  philosophischen  Bestrebungen,  die  durch 
die  Namen  eines  D  r  y  d  e  n ,  A  d  d  i  s  o  n ,  Swift,  Steele, 
Pope,  Locke,  S haftesbury,  Bolingbroke  u.  A. 
mitbezeichnet  wurden,  lernte  durch  Newton  die  natur¬ 
wissenschaftliche  Methode  kennen.  Seine  „Lettres  anglaises“ 
legen  beredtes  Zeugnis  ab  von  dem  tiefen  Eindrücke, 
den  das  reiche  und  unter  dem  Schutze  einer  in  anderen 
Ländern,  und  besonders  in  Frankreich,  unerhörten  politischen 
Freiheit  emporblühende  England  auf  ihn  machte.^) 

h  Vortrefflich  schildert  Laiison  Voltaire’s  innige  Be¬ 
ziehungen  zu  England:  ,,L’Angleterre  n’a  pas  cree  Voltaire: 
eile  Pa  instruit.  II  aimait  trop  les  lettres  poiir  ne  pas  s’aper- 
cevoir  C[u’il  y  avait  lä  une  grande  litterature :  il  de'couvrit 
Shakespeare,  et  M  i  It  o  n,  et  des  comiques  de  la  Restauration, 
Mycherley,  Congreve.  L’e'poctue  de  la  reine  Anne  etait 
falte  pour  lui  plaire:  c’est  le  teinps  oü  Pineffa^able  originalite 
de  Pesprit  anglais  se  deguise  le  niieux  sous  le  goüt  decent  et 
la  severe  ordonnance  dont  nos  chefs-d’oeuvre  classiques 
donnaient  le  modele.  Ce  queDryden,  Addison  avaient  de 
francais,  Pinduisait  ä  goüter  dans  une  certaine  mesure  leurs 
C[ualite's  anglaises.  Dry  den  lui  donna  Pidee  d’un  drame  plus 
violent;  Addison,  par  son  „Caton“,  Pinstruisit  a  mortliser 
la  tragedie,  ä  y  poser  netteinent  la  these  philosoi:>hique.  Mais  il 
fut  frappe  plus  encore  du  developpeinent  scientificjue  que  de 
Pactivite  litteraire  :  sa  curiosite  vola  de  tous  cotes,  se  portant 
de  Newton  ä  Pinoculation.  I^es  Sciences  ne  Pavaient  guere 
preoccupe'  jüsqu’ici:  il  y  reconnut  Poeuvre  essentielle  de  la 
raison  et  son  arme  efficace.  .  .  Il  admira  dans  PAngleterre  un 
pays  oü  la  liberte  de  penser  etait  en  apparence  illimitee,  oü 


90 


Voltair e’s  Weltanschauung  ist  von  Windelband 
sehr  treffend  als  eine  Vereinigung  von  Newton’s  me¬ 
chanischer  Naturphilosophie,  Locke ’s  erkenntnis-theo¬ 
retischem  Empirismus  und  S  h  a  f  t  e  s  b  u  r  y  ’  s  Moralphilosophie 
unter  dem  Gesichtspunkte  des  Deismus  bezeichnet  worden. 

Die  glänzendste  Verherrlichung  englischer  Verhältnisse 
aber  war  in  Montesquieu ’s  berühmten  „Esprit  des 
Lois“  enthalten.  Auch  Montesquieu  hatte  sich  mehrere 
Jahre  in  England  aufgehalten  und  besonders  die  politischen 
Verhältnisse  des  Landes  studiert.  In  der  genannten  Schrift 
legt  er  dar,  dass  die  englische  Freiheit  darauf  beruhe, 
dass  die  Gesetze  die  höchste  Autorität  bildeten,  vor  der 
Alle  gleich  seien.  Die  englische  Staatsform  stellt  nach 
Montesquieu  das  Ideal  bürgerlicher  Freiheit  dar. 

Diesen  beiden  französischen  Denkern,  welche  als  haupt¬ 
sächliche  Vertreter  der  Anglophilie  in  Frankreich  betrachtet 
Averden  müssen,  steht  eine  viel  grössere  Anzahl  von 
Engländern  gegenüber,  Avelche  sich  während  kürzerer  oder 
längerer  Zeit  in  Frankreich  aufhielten  und,  in  die  Heimat 
zurückgekehrt,  die  Vorliebe  für  französisches  Wesen  in 
weite  Kreise  der  Gesellschaft  trugen.  Hier  Avaren  es 
Aveniger  die  Philosophen  —  Avenn  auch  z.  B.  Hume  und 


toutes  les  varietes  du  doute  et  de  la  negation  se  rencontraieiit : 
Swift  satirique  et  sceptique,  niais  croyaiit;  Pope  (leiste; 
Boliugbroke  brillainment  iiicredule;  Woolston  juibliant 
des  discours  contre  les  inn-acles  de  Je'sus-Cbrist,  ([udm  jury 
condamnait,  mais  oü  ([uantite'  de  geiitlemen  applaudissaient.“ 
(J.  Lanson  „Histoire  de  la  litte'rature  fran^aise“  3^  e'd.  Paris 
3  895  S.  6S4  —  «Wie  der  dortige  Aufenthalt,“  sagt  E.  Du  Bois- 
Reymond,  „aesthetiscli  und  politisch  für  ihn  fruchtbar  AA'ard, 
so  kehrte  er  auch  als  feuriger  Apostel  L  o  c  k  e’s  und  N  e  Avt  o  n’s 
nach  Frankreich  zurück.“  ^"oltaire  als  Naturforscher  in:  Kei^len 
Leipzig  1886  N.  I.  S.  7. 

B  R.  Falkenberg  „Beschichte  der  neueren  Philosophie“ 
?.  Autl.  Leipzig  1892  S.  199 


91 


Locke  von  ihrem  Aufenthalt  in  Frankreich  in  philosophischer 
Beziehung  nicht  wenig  beeinflusst  wurden  —  als  die 
Schöngeister  und  Lebemänner,  welche  dem  fran¬ 
zösischen  Geschmacke  in  Litteratur,  Kunst  und  Lebens¬ 
führung  huldigten.  Es  war  im  18.  Jahrhundert  eine 
beständige  Wanderung  dieser  englischen  Weltmänner 
nach  Paris,  um  dort  die  fashionable,  verfeinerte  Art  des 
Lebensgenusses  kennen  zu  lernen.  Roues  wie  George 
Selwyn,  der  Herzog  von  Queensberry  u.  A.  reisten 
häufig  dorthin,  blos  um  sich  dort  Kleider  anfertigen  zu 
lassen  oder  um  Handschuhe  einzukaufen.  Sie  brachten 
dann  auch  wohl  ein  Dutzend  von  Crt^billon’s  neuesten 
Romanen  mit,  um  sie  ihren  Freunden  in  der  Heimat  zu 
verkaufen.  Q  Überhaupt  war  im  18.  Jahrhundert  die 
Litteratur  anderer  Völker  ausser  der  französischen  in 
England  so  gut  wie  unbekannt.  Noch  am  Ende  des 
Jahrhunderts  herrschte  eine  vollkommene  Unkenntnis  der 
deutschen  Litteratur  in  England.  Nur  französische  Schrift¬ 
steller  wurden  gelesen. ‘Q  Auch  die  Kunst  des  Brief¬ 
schreibens  lernte  die  vornehme  Welt  von  den  Franzosen. 
Nicht  blos  Horace  Wal  pole,  der  mit  Madame  Du 
Deffand  in  jahrelanger  Korrespondenz  stand,  hat  eine 
Unmenge  durch  Stil  und  Inhalt  klassischer  Briefe  ge¬ 
schrieben,  sondern  es  ist  schon  oft  hervorgehoben,  dass 
auch  Lebemänner  wie  Lord  March  (Queensberry), 
Gilly  Williams,  Störer,  Lord  Carlisle,  Selwyn 
u.  A.  in  ihren  Briefen  eine  verschwendericclie  Fülle  von 
Geist,  Witz,  Lebhaftigkeit  und  Bildung  entfalten.  Lord 
Chesterfield’s  berühmte  „Briefe  an  seinen  Sohn“  sind 

9  P'ercy  Fitzgerald  „The  Life  of  (leorge  tlie  Fourth“ 
LoEdoii  1881  Rd.  1  S.  62. 

2)  v.^Scliütz  „Briefe  über  London“  S.  241.. 


92 


echt  französisch  in  Hinsicht  der  Lebensauffassung  und 
laxen  Moral,  die  in  ihnen  zum  Ausdrucke  kommt.  So 
gross  war  die  Vorliebe  für  Frankreich,  dass  ganze  Familien 
von  England  dorthin  übersiedelten  und  sich  dauernd  auf 
französischem  Boden  niederliessen.  Als  Lady  Mary 
Wortley  Alontague  in  Frankreich  reiste,  fand  sie 
englische,  schottische  und  irische  Familien  in  allen 
Provinzstädten.  In  Dijon  wohnten  allein  sechzehn  englische 
Familien  von  Eang. 

Die  französischen  „Salons“  wurden  eifrig  von  den 
vornehmen  Engländern  besucht,  und  es  war  besonders 
Madame  du  D  eff  and,  welche  diese  Beziehungen  zur 
englischen  Gesellschaft  eifrig  pflegte.  Sie  war  mit 
George  Selwyn  befreundet,  mehr  aber  noch  mit 
Horace  Walpole,  der  sie  17()5  kennen  lernte,  als  sie 
beinahe  70  Jahre  alt  war. 

Horace  Walpole,  der  typischeste  Vertreter  des 
englisch-französischen  Geistes  im  18.  Jahrhundert,  wurde 
als  der  jüngste  Sohn  des  Ministers  Sir  R  o  h  e  r t  W a  1  p  o  1  e 
am  5.  Oktober  1717  geboren,  empfing  seine  Erziehung 
in  Eton  zusammen  mit  dem  Dichter  Gray  und  George 
Selwyn,  später  in  King’s  College,  Cambridge.  Schon 
im  Alter  von  22  Jahren  bereiste  er  Frankreich  und 
Italien,  war  seit  1741  Parlamentsmitglied  und  zog  sich 
1707  vom  politischen  Leben  zurück.  Im  Jahre  1791 
bekam  er  durch  den  Tod  seines  Neffen  den  Titel  eines 
Earl  von  Orford.  Er  starb  den  2.  März  1797  in  seinem 
Hause  in  Berkeley  Square  und  wurde  in  Houghton  (in 
Norfolk),  dem  Begräbnisplatze  seiner  Familie  zur  Ruhe 
bestattet.  Unter  seinen  litterarischen  Werken  ragen  vor 


0  H.  D.  Traill  „Social  England“  London  1896  Bd.  S.  154. 


93 


allem  seine  unvergleichliclien  Briefe  hervor,  die  durch 
Geist  und  Grazie  die  gdeichzeitigen  Briefe  französischer 
Autoren  beinahe  übertreften  und  an  die  verschiedensten 
Personen  gerichtet  sind.  Vor  allem  ist  sein  über  15  Jahre 
sich  erstreckender  Briefwechsel  mit  Madame  du  Deffand 
berühmt.  Jesse  nennt  ihn  ,,the  most  charming  writer, 
apart  from  works  of  imagination,  of  any  in  our  language“, 
und  berichtet,  dass  Miss  Berry,  die  letzte,  aber  am 
meisten  geliebte  Freundin  des  Lord  Orford  noch  in  der 
letzten  Zeit  seines  Lebens  seine  Conversation  ebenso 
glänzend  wie  originell  fand.  —  Walpole  war  ganz  in 
Frankreich  zu  Hause,  fühlte  sich  aber  mehr  in  den 
Kreisen  der  schönen  Litteratur,  als  in  denjenigen  der 
materialistischen  Philosophen  heimisch.  Eine  sehr  an¬ 
ziehende  Schilderung  der  französischen  Gesellschaft  ent¬ 
wirft  er  in  einem  Briefe  an  George  Selwyn  vom 
2.  Dezember  1765,  wo  er  auch  erzählt,  dass  er  nicht  gern 
die  Diners  beim  Baron  Holbach  mitmache,  bei  denen 
ihm  der  Kopf  durch  ein  neues  System  von  „antediluvia- 
nischer  Sündflut“  verdreht  werde,  welche  erfunden  sei, 
um  die  Ewigkeit  der  Natur  zu  beweisen.  Das  sei  alles 
,, Unsinn  über  Unsinn“,  ,,Kurz,  ich  mag  die  Jesuiten  lieber 
als  die  Philosophen.“-)  Walpole,  der  in  seinem 
Landhause  in  Strawberry  Hill  ein  ganzes  Kunst-,  Litteratur- 
und  Kuriositätenmuseum  eingerichtet  hatte ,  erscheint 
durch  seinen  ausgebreiteten  Briefwechsel,  durch  seine 
leidenschaftliche  Liebe  zum  Vergnügen  und  zur  Geselligkeit, 
durch  seine  mannigfaltigen  litterarischen  Bestrebungen  so 
recht  als  der  Mittelpunkt  dieser  schöngeistigen  Lebewelt 

1)  J.  II.  Jesse  „George  Selwyn  and  bis  contemporaries“ 
New.  Edit.  London  1882  Bd.  II  S.  3. 
ibidem  Bd.  H  S,  9. 


94 


mit  ihrer  ausgesprochenen  Francophilie.  Trefflich  hat  Lord 
Byron  in  der  Vorrede  zu  „Marino  Faliero“  die  litterarische 
Bedeutung  Walpol e’s  charakterisiert.  Er  sagt  dort: 
„Gegenwärtig  ist  es  Mode,  H  o  r  a  c  e  W  a  1  p  o  1  e  herabznsetzen, 
erstens  weil  er  ein  Peer  und  zweitens  weil  er  ein  Gentleman 
war;  abgesehen  von  seinen  unvergleichlichen 
Briefen  und  dem  „Schloss  von  Otranto“  ist  er  ültimus 
Romanorum  in  der  Tragödie  durch  sein  treffliches  Stück: 
,,Uie  geheimnisvolle  Mutter“,  eine  Tragödie  vom  höchsten 
Wert  und  kein  winselndes  Liebesstück.  Er  ist  der  Vater 
der  ersten  romantischen  Erzählung  und  der  letzten  Tragödie 
unserer  Sprache,  und  verdient  sicherlich  eine  höhere 
Stellung,  wie  irgend  ein  gegenwärtig  lebender  Schriftsteller, 
wer  es  auch  sein  mag.“  i) 

Im  18.  Jahrhundert  sog  England  jene  Sympathien 
für  den  alten  Erbfeind  ein,  welche  es  bis  auf  die  neueste 
Zeit  bewahrt  hat  und  z.  B.  während  des  deutsch-fran¬ 
zösischen  Krieges  in  so  eklatanter  Weise  an  den  Tag  legte. 
Die  Kultur  der  englischen  Aristokratie  war  im  18.  Jahr¬ 
hundert  eine  wesentlich  französische,  schon  vor  der  Re¬ 
volution.  Während  und  nach  derselben  kam  auch  durch 
die  französische  Emigration  die  grosse  Masse  des  Volkes 
mit  den  Franzosen  in  eine  nähere  Berührung.  Des 
„französischen  Viertels“  in  London,  um  Leicester  Square 
herum,  habe  ich  schon  im  ersten  Bande  gedacht.  Dass 
die  Franzosen  jener  und  auch  späterer  Zeiten  die  Uii- 
sittlichkeit  in  London  sehr  befördert  haben,  erkennen 
selbst  französische  Schriftsteller  an.^)  Ich  habe  bei  der 
Besprechung  der  ausländischen  Prostitution  in  London 

b  „Lord  Byron’s  sämmtliche  Werke“  übersetzt  von 
Mehreren.  Stuttg.  1839  Bd.  II  S.  82. 

Vgl.  z.  B.  F.  Remo  „La  vie  galante  en  Angleterre“  S.  250. 


95 


ebenfalls  schon  (im  ersten  Bande)  diese  Verhältnisse  be¬ 
leuchtet.  Gegenwärtig  scheint  eine  Abnahme  dieser 
francophilen  Neigungen  in  England  vorhanden  zu  sein, 
und  von  den  Franzosen  wird  besonders  die  englische 
Königin  beschuldigt,  dass  sie  diese  Abneigung  durch  ihre 
bekannte  Vorliebe  für  alles  Deutsche  nähre.  In  wie  weit 
dieser  Vorwurf  begründet  ist,  bleibe  dahingestellt,  i) 

Neben  der  Francophilie  ist  es  die  Sentimentalität, 
welche  im  Leben  der  englischen  Gesellschaft  als  eine 
eigentümliche  Erscheinung  hervortritt.  Der  Begriff  des  Sen¬ 
timentalen  ist  ein  spezifisch  englischer.  Es  war  Laurence 
Stern  e’s  sentimentale  Reise“  (Sentimental  Journey),  welche 
als  erstes  litterarisches  Produkt  der  Sentimentalität  diese 
Empfindungsweise  gewissermassen  populär  machte.  Schiller 
hat  in  seiner  herrlichen  Abhandlung  über  „naive  und 
sentimentalische  Dichtung“  vortrefflich  den  Begriff  der 
Empfindsamkeit  entwickelt.  Der  naive  Dichter  empfindet 
natürlich,  der  sentimentalische  empfindet  das  Natür¬ 
liche.  Jener  ist  ein  Nachahmer  der  Wirklichkeit, 
dieser  ein  Darsteller  des  Ideals,  welches  er  in  die 
Natur  hineinverlegt.  Die  naiven  Dichter  sind  die  Kinder 
der  Natur,  die  sentimentalischen  ihre  Liebhaber.  Jene 
lieben  sie  kindlich  und  einfach,  diese  mit  Begeisterung 
und  Schwärmerei.  Der  sentimentalische  Dichter,  „re¬ 
flektiert  über  den  Eindruck,  den  die  Gegenstände  auf 
ihn  machen,  und  nur  auf  jene  Reflexion  ist  die  Rührung 
gegründet,  in  die  er  selbst  versetzt  wird  und  uns  versetzt. 
Der  Gegenstand  wird  hier  auf  eine  Idee  bezogen,  und 


1)  Iin  18.  Jahrüimdert  wurden  auch  englische  Mädchen 
häutig  in  französischen  Klöstern  erzogen.  \'gl  Miss  Bellamy 
„Memoires“  trad.  de  l’Anglais.  Paris,  an  VTI,  Bd.  I  S.  28. 


96 


nur  auf  dieser  Bezielmug  beruht  seine  dichterische  Kraft.“ 
K.  Fischer  bemerkt,  dass  Schiller ’s  Begriff  des  Sen- 
timentalischen  sich  nicht  mit  dem  des  Sentimentalen 
decke.  Jenes  sei  eine  wahre  Empfindungsweise,  dieses 
Empfindelei,  die  immer  gemacht  und  unwahr  sei.  Das 
Sentimentale  sei  eine  unechte  Abart  des  Sentimentalischen.^) 
Indessen  ist  der  Übergang  zwischen  beiden  ein  fliessender. 
Was  Sterne  in  der  ,, Empfindsamen  Eeise“  über  diese 
Anschauungsweise  sagt,  kann  man  sowohl  sentimental 
als  auch  sentimentalisch  nennen.  Dort  heisst  es  z.  B. : 
Welche  grosse  Masse  von  Begegnissen  kann  in  seiner 
kleinen  Spanne  Leben  Einer  umfassen,  der  sein  Herz  an 
Allem  Teil  nehmen  lässt,  und  der,  da  er  Augen  hat  zu 
sehen,  was  ihm  Zeit  und  Gelegenheit  beständig  darbieten, 
wie  er  seines  ^Veges  zieht.  Nichts  vorübergehen  lässt,  das 
er  sich  nicht  auf  ehrliche  Weise  aneignet  ....  Ich  be- 
daure  den  Mann,  der  von  Dan  nach  Bersaba  reisen  kann 
und  ausrufen,  ’s  ist  Alles  dürr,  —  so  ist  es  auch,  und 
so  ist  die  ganze  Welt  für  den,  der  sich  um  die  Früchte 
nicht  mühen  will,  welche  sie  darbietet.  Fürwahr,  sagte 
ich,  und  schlug  freudig  meine  Hände  zusammen,  wäre 
ich  in  einer  Wüste,  auch  da  würde  ich  etwas  finden,  das 
meine  Sympathie  hervorrufen  sollte;  —  fände  ich  nichts 
besseres,  so  wendete  ich  sie  einer  süssen  Myrthe  zu,  oder 
suchte  eine  melancholische  Cypresse  auf,  sie  damit  zu 
umfassen;  —  ich  labete  mich  in  ihrem  Schatten,  und 
grüsste  sie  freundlich  für  ihren  Schutz ;  ich  schnitt 
meinen  Namen  in  ihre  Rinde,  und  schwöre,  sie  wären 


b  Schillers  sämtliche  Werke.  Mit  Einl.  yon  K.  G  o  e  dek  e. 
Stuttgart  1887  (J.  G.  Cotta)  Bd.  XII  S.  158. 

b  K.  Fischer  „Schiller  als  Philosoph“  2.  Aufl.  Heidelberg 
1891  Bd.  H  S.  178. 


97 


die  lieblichsten  Bäume  in  der  ganzen  Wüste.  Wenn  ihre 
Blätter  welkten,  würde  ich  mich  in  Trauer  versenken; 
und  wenn  sie  sich  freuten,  würde  ich  mich  mit  ihnen 
freuen.“  i)  Hier  ist  Sentimentalisches  und  Sentimentales, 
wahre  und  unwahre  Empfindsamkeit  auf  eine  geschickte 
Weise  mit  einander  vermischt.  In  einem  Briefe  aus  dem 
Jahre  1764  bezeichnet  Sterne  als  den  Zweck  seiner 
„empfindsamen  Keise“,  „uns  die  Welt  und  unsere  Mit¬ 
geschöpfe  mehr  lieben  zu  lehren,  als  wir  es  thun,  dem¬ 
gemäss  werden  meistenteils  jene  sanftem  Leidenschaften 
und  Neigungen  darin  behandelt,  die  soviel  dazu  beitragen.“^) 
Thackeray  hat  ebenfalls  in  seiner  vortrefflichen  Cha¬ 
rakteristik  des  Menschen  Sterne  auf  die  Mischung  von 
wahrer  und  falscher  Empfindung  in  dessen  Werken  hin¬ 
gewiesen.  Er  sagt:  „Alle  seine  Briefe  an  sich  sind  kunstlos, 
gütig,  liebevoll  und  nicht  empfindsam,  wie  sich  auch  in 
seinen  Schriften  hundert  schöne  Seiten  nicht  nur  voller 
überraschenden  Humors,  sondern  voller  ächter  Liebe  und 
Güte  finden.  Ein  gefährlicher  Handel,  in  der  That,  der 
Handel  eines  Mannes,  der  seine  Thränen  und  sein  Lachen, 
seine  Erinnerungen,  seine  persönlichen  Freuden  und 
Schmerzen,  seine  eigenen  Gedanken  und  Gefühle  zu  Markte 
bringt,  auf  Papier  geschrieben,  für  Geld  zu  haben.  Über¬ 
treibt  er  seinen  Kummer,  um  seines  Lesers  Mitleid  für 
eine  falsche  Empfindsamkeit  zu  gewinnen?  —  Heuchelt 
er  Unwillen,  um  sich  in  einem  tugendhaften  Charakter 
darzustellen  ?  —  Ersinnt  er  Schlagantworten,  um  für  einen 
Witzkopf  gelten  zu  können?  Stiehlt  er  von  anderen 

9  Laurence  Sterne  „Empfindsame  Reise  durch 
Frankreich  und  Italien“  Deutsch  von  Dr.  F.  Ilörlek,  Leipzig 
(Reclam)  S.  28 — 29. 

2)  W.  M.  Thackeray  „England’s  Humoristen“  Deutsch 
von  A.  V.  Müller,  Hamburg  1854  S.  275. 


Dühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England.** 


7 


98 


Autoren  und  legt  den  Diebstahl  auf  die  Kreditseite  des 
eigenen  Kufes  für  Reichtum  an  Geist  und  Gelehrsamkeit? 
Heuchelt  er  Originalität?  Zwingt  er  sich  zu  Wohlwollen 
oder  Menschenhass?  Ruft  er  die  Götter  der  Gallerie  an, 
durch  Knalleffekte  und  gemeinen  Köder  um  ihren  Beifall 
sich  mühend?  —  Wie  gross  ist  das  Bedürfnis  an  Malerei 
und  Emphase  im  schönen  Gewerbe  der  Bühne,  und  wie¬ 
viel  an  Schwulst  und  Schminke  benötigt  die  Eitelkeit  des 
SchausiDielers ?  Seine  Zuhörerschaft  traut  ihm;  kann  er 
sich  selbst  trauen?  Wie  viel  war  überlegte  Berechnung 
und  Trug?  —  wie  viel  falsche  Empfindsamkeit  —  wie 
viel  wahres  Gefühl?  Wo  fing  die  Lüge  an?  und  wusste 
er  es?  Und  wo  hörte  die  Wahrheit  auf  in  der  Kunst 
und  im  Plane  dieses  Mannes  von  Genius,  dieses  Schau¬ 
spielers,  dieses  Quacksalbers?  Vor  längerer  Zeit  war  ich 
in  der  Gesellschaft  eines  französischen  Schauspielers,  der 
nach  Tische  aus  eignem  Antrieb,  französische  Lieder  von 
jener  Gattung,  die  man  ch  an  so  ns  grivoises  zu  nennen 
pflegt,  zu  singen  begann,  die  er  meisterhaft,  wenn  auch 
zum  Missvergnügen  der  meisten  Anwesenden,  vortrug. 
Als  er  diese  beendet  hatte,  begann  er  eine  empfindsame 
Ballade  —  der  Gesang  war  so  reizend,  dass  alle  Anwesenden 
davon  gerührt  waren,  hauptsächlich  aber  der  Sänger  selbst, 
dessen  Stimme  zitterte  und  dessen  Auge  die  Bewegung 
füllte,  so  dass  er,  als  sein  Gesang  beendet  war,  in  Schluchzen 
und  wirkliche,  echte  Thränen  ausgebrochen  war.  Ich 
vermute,  dass  auch  Sterne  diese  künstlerische  Em¬ 
pfindsamkeit  eigen  war;  er  pflegte  beständig  zu  schluchzen 
in  seinem  Studirzimmer,  und  als  er  fand,  dass  seine 
Thränen  ansteckend  waren  und  ihm  bedeutende  Volks¬ 
tümlichkeit  verschafften,  bildete  er  diese  gewinnbringende 
Gabe  des  Weinens,  aus,  verwertete  sie  und  weinte  bei 


99 


jeder  Gelegenheit.  Ich  gestehe,  dass  ich  den  wohlfeilen 
Tropfenfall  dieser  Quellen  weder  sehr  schätze  noch  achte. 
Er  ermüdet  mich  mit  seiner  unaufhörlichen  Unruhe  und 
seiner  unbehaglichen  Anforderung  an  meine  Empfindsamkeit 
oder  Lachfähigkeit.  Ich  sehe  sein  Auge  mir  immer  in 
das  Antlitz  gerichtet,  um  seinen  Effekt  zu  beobachten, 
und  bin  dabei  ungewiss,  ob  ich  ihn  für  einen  Betrüger 
und  Attitüdenmeister  halte  oder  nicht;  beständig  drängt 
«r  und  fleht  mich  an.  „Sieh’  doch  meine  Empfindsamkeit 
—  gestehe  jetzt,  für  wie  gewandt  Du  mich  hältst  —  jetzt 
weine  aber,  dem  kannst  Du  nicht  widerstehen.“  Q 

Der  zweite  Hauptvertreter  der  englischen  Empfind¬ 
samkeit  ist  Samuel  Richardson  (1680 — 1761).  Er 
ist  der  Begründer  des  sentimentalen  Familienromans,  der 
sich  mit  den  gewöhnlichen  Konflikten  des  Privatlebens 
befasste.  Richardson  „suchte  die  alltägliche  Wirklichkeit 
mit  ihren  edlen  Gefühlen,  ihren  guten  Thaten,  ‘ihrer 
schönen  Menschlichkeit,  aber  auch  mit  ihrer  Not,  ihrem 
Laster,  ihrer  Gemeinheit.  Er  lebte  in  dem  Elemente, 
das  Schiller  verabscheute.  Er  erhob  nicht,  sondern 
rührte  nur  und  weckte  das  Mitleid  auch  für  die  Schurken. 
Richardson  wirkte  auf  Deutschland  mittelbar  noch 
mnmal  durch  Rousseau.  Der  sentimentale  Roman  hatte 
•ein  klassisches  Erzeugnis  aufzuweisen:  Goethes  „Werther“.^) 
Richardson ’s  „Pamela“,  „Clarissa  Harlowe“  und  „Sir 
Charles  Grandison“  sind  die  typischen  Vorbilder  dieser 
sentimentalen  Romane. 


G  W.  M.  Thackeray  a.  a.  0.  S.  280—282. 

2)  Wilhelm  Scherer  ,, Geschichte  der  deutschen  Litte- 
ratur“  7.  Aufl.  Berlin  1894  S.  671.  Vgl.  auch  die  glänzende 
Studie  Yon  E  rieh  Schmidt  „Richardson, Rousseau  und  Goethe“, 
Jena  1875. 


100 


Die  Sentimentalität  als  eine  künstliche,  krankhafte 
Empfindlingsweise  verbreitete  sich  wie  eine  Epidemie  über 
Europa.  Das  Ungesunde  in  der  empfindsamen  Betrachtung 
aller  Dinge  musste  besonders  auf  sexuellem  Gebiete 
heiTortreten.  Die  Liebe  mit  Sentiment  war  mehr  Sache 
des  Kopfes  als  des  Herzens.  Durch  Beflexion  suchte  man 
den  Genuss  zu  erhöhen.  Charakteristisch  ist  in  dieser 
Beziehung  ein  Brief,  den  Sterne  unter  dem  23.  Mai  1765 
schrieb  und  in  dem  es  heisst:  ,,Es  freut  mich,  dass  Sie 
verliebt  sind,  das  wird  Sie  wenigstens  vom  Spleen  befreien, 
der  von  einer  schlimmen  Wirkung  auf  den  Mann  sowohl,, 
wie  auf  das  Frauenzimmer  ist;  ich  selbst  muss  sogar  stets 
eine  Dulcinea  im  Kopfe  haben,  es  bringt  Einklang  in  die 
Seele;  und  in  diesen  Fällen  ist  es  mein  erstes  Bestreben, 
die  Dame  daran  glauben  zu  machen,  oder  vielmehr,  ich 
fange  damit  an,  mich  selbst  glauben  zu  machen,  dass  ich 
verliebt  bin  —  betreibe  aber  die  Angelegenheit  ganz  auf 
französische  Weise,  1’ am our,  sagt  man  dort,  n’est  rien 
Sans  Sentiment.  Ungeachtet  sie  aber  nun  so  viel 
Lärmen  um  das  Wort  machen,  verbinden  sie  keine  genaue 
Idee  mit  ihm.  So  viel  über  den  Gegenstand,  den  man 
die  Liebe  heisst. Thackeray  meint  mit  Keclit,  dass 
es  nicht  eine  Seite  in  Stern  e’s  Schriften  —  haupt¬ 
sächlich  kommt  aber  wohl  „Tristram  Shandy“  in  Betracht 
—  gebe,  auf  der  sich  nicht  etwas  fände  das  ,, besser 
nicht  da  wäre,  eine  verborgene  Verderbtheit  — 
eine  Andeutung  wie  von  einer  unreinen  Gegenwart.“ 
Ähnlich  urteilte  Coleridge  über  Sterne.  Louis 
Sebastien  Mercier,  der  in  seinem  „Nouveau  Paris“- 


0  W.  M.  Thackeray  a.  a.  0.  S.  275. 
2)  ibidenl  S.  288. 


101 


eine  gute  Stelle  über  Sentimentalität  hat,  bezeichnet 
sogar  dieselbe  als  die  „Kunst,  sich  von  der  Tugend  zu 
emancipieren.“  Es  heisst  dort:  „Quelque  temps  avant 
la  revolution,  les  gens  du  bon  ton  avaient  adopte  une 
certaine  philosophie  sentimentale,  qui  etait  l’art  de 
se  dispenser  d’etre  vertueux.  Cette  philosophie 
avait  son  Jargon,  sa  sensibilite,  son  accent,  ses  gestes 
meine.  Le  zele  simule,  les  modulations  tendres,  les 
expressions  affectueuses  qui  composaient  Fexterieur  des 
personnes  de  la  bonne  compagnie,  au  recit  d’une  action 
immorale  ou  des  disgraces  de  la  vertu,  ont  fait  donner 
ä  cette  sensibilite  feinte  et  sterile  le  nom  de  la  sen- 
siblerie.“!)  —  Ein  anderer  geheimer  Untergrund  der 
Sentimentalität  war  der  Pessimismus,  die  damals  so 
häulige  Ursache  des  Überdrusses  am  Leben  und  der 
Selbstmorde.  (Siehe  weiter  unten  über  diese.) 

Die  Sentimentalität  des  18.  Jahrhunderts  äusserte 
sich  oft  auf  eine  sonderbare  Weise,  die  wir  heute  kaum 
noch  verstehen.  Die  Thränenbäche,  die  z.  B.  in  unseres 
M  i  1 1  e  r  ’  s  rührseligen  Schriften  unaufhaltsam  tliessen, 
Hessen  auch  in  Wirklichkeit.  Als  Casanova  dem  grossen 
Voltaire  und  der  Madame  Denis  und  einer  bei  ihnen 
versammelten  Gesellschaft  eine  rührende  Stelle  aus  dem 
„Orlando  furioso“  des  Ariosto  vordeklamierte,  da  modulierte 
er  seine  Intonationen  nach  dem  Gefühl,  welches  er  seinen 


0  L.  S.  Mercier  „Le  nouveau  Paris“  Brunswick  1800  Bd. 
IL  S.  172—173. 

2)  Miss  Bellainy  sagt:  „Die  Genüsse,  welche  das  Leben 
unseren  Sinnen  in  grossen  Zwischenräumen  bietet,  sind  oft 
täuschend,  fast  immer  zweifelhaft  und  niemals  dauerhaft. 
Aber  die  Schmerzen  sind  sichei',  sie  scheinen  sich 
mehr  mit  unserem  Leben  zu  id  entificieren.“  Memoires 
Bd.  II  S.  27-28. 


102 


Zuhörern  eiiiflössen  wollte.“  „Man  sah,  man  fühlte  die 
Gewalt,  die  ich  mir  anthat,  meine  Thränen  zurückznhalten, 
und  in  den  Augen  aller  standen  Thränen,  aber  zuletzt 
brachen  meine  Thränen  so  reichlich  hervor,  dass  alle 
meine  Zuhörer  schluchzten.  > —  Herr  von  Voltaire  und 
Madame  Denis  fielen  mir  um  den  Hals,  allein  ihre  Um¬ 
armungen  konnten  mich  nicht  unterbrechen,  .  .  .  Voltaire 
rief:  „Ich  habe  es  doch  immer  gesagt:  das  Geheimnis, 
Thränen  zu  erwecken,  ist,  selbst  zu  weinen.  Aber  es 
bedarf  der  wahren  Thränen,  und  um  sie  zu  •  vergiessen, 
muss  die  Seele  tief  ergriffen  sein.“  i) 

Ein  noch  merkwürdigeres  Beispiel  von  Sentimentalität 
findet  sich  in  den  „Serails  de  Londres“,  einer  Schrift, 
die  etwa  für  die  vornehme  englische  Gesellschaft  des 
18.  Jahrhunderts  die  Bolle  spielt,  die  „Grammont’s 
Memoiren“  für  diejenige  des  17.  Jahrhunderts  spielen. 

Es  wird  dort  erzählt,  dass  ein  Graf  das  Bordell  der  Mrs. 
Dubery  nur  in  der  Absicht  zu  besuchen  pflegte,  um  dort 
eine  sentimentale  Unterhaltung  mit  einem  Freudenmädchen 
zu  führen,  wofür  er  ihr  eine  Zwanzigpfundnote  überreichte. 
Die  Ursache  dieser  merkwürdigen  Caprice  war  sexuelles 
Unvermögen.  Er  suchte  gleichsam  einen  Ersatz  für  die  » 
rein  physischen  Genüsse  in  dieser  sentimentalen  Unter¬ 
haltung  mit  einer  Dirne.  Hier  tritt  ganz  offenbar  die 
Sentimentalität  als  ein  Faktor  sexueller  Befriedigung  auf, 
als  ein  sexuelles  Surrogat  und  Aequivalent  der  natürlichen 
Geschlechtsthätigkeit,  wodurch  der  krankhafte  Charakter 


1)  Jacob  Casanova  von  Seingalt’s  Memoiren 
Deutsch  von  L.  von  Alvensleben  und  C.  F.  Schmidt, 
Leipzig  0.  L  Bd.  XI  S.  33. 

2)  „Les  Serails  de  Londres“  Brüssel  o.  J.  (Neudruck) 
S.  160—162. 


103 


und  das  künstliche  Raffinement  dieser  Seelenregungen 
aufs  deutlichste  bewiesen  wird. 

,  Eine  glückliche  Anwendung  fand  die  englische  Sen¬ 
timentalität  in  der  Gartenkunst,  welche  unter  dem 
Einflüsse  dieser  Empfindungsweise  eine  gründliche  Um¬ 
gestaltung  erfuhr.  Es  war  natürlich,  dass  gerade  auf 
diesem  Gebiete  die  Sentimentalität  eine  praktische  Be- 
thätigung  fand.  Denn  kein  Volk  besitzt  so  viel  Natursinn, 
lebt  so  in  und  mit  der  Natur,  wie  das  englische.  Not¬ 
wendig  musste  das  milde,  feuchte  Klima,  welches  eine 
so  Herrliche  Vegetation,  ein  so  entzückendes  Grün  hervor¬ 
bringt,  den  Sinn  für  die  Eindrücke  der  Natur  öffnen  und 
verfeinern.  England’s  wunderbare  Landschaft,  wie  sie 
z.  B.  in  Beaumont’s-  und  Fletcher’s  ,, Treuer 
Schäferin“  in  klassischer  Weise  geschildert  wird,  ist  wie 
Taine  sagt  „stets  frisch,  entweder  von  blassen,  durch¬ 
sichtigem  Nebel  erfüllt  oder  von  der  wärmenden,  trock¬ 
nenden  Sonne  erleuchtet,  reich  an  Gräsern,  die  so  zart 
und  saftig  sind,  dass  man  trotz  ihres  Glanzes  und  ihrer 


1)  V.  Kralft-Ebing  bemerkt  über  die  Sentimentalität  in 
der  Liebe:  „Die  Liebe  des  schwach  Teranlagten  Menschen  ist 
eine  sentimentale.  Sie  führt  nach  Umständen  zu  Selbstmord, 
wenn  sie  nicht  erwidert  wird  oder  Hindernisse  findet,  während 
unter  gleichen  Verhältnissen  der  stark  Veranlagte  zum  ATr- 
brecher  werden  konnte,  .  .  Solche  Liebe  hat  einen  faden, 
süsslichen  Beigeschmack.  Sie  kann  damit  geradezu  lächerlich 
werden,  während  sonst  die  Aeusserungen  dieses  mächtigen 
(Jefühls-  in  der  Menschenbrust  Mitgefühl,  Achtung,  Grauen,  je 
nachdem,  erwecken.  Adelfach  wird  jene  schwache  Liebe  auf 
aecpiivalente  Gebiete  gedrängt  —  auf  Poesie,  die  aber  dann 
eine  süssliche  ist,  auf  Aesthetik,  die  sich  als  outrirt  erweist, 
auf  Religion,  in  welcher  sie  der  Alystik  und  religiösen  Schwär¬ 
merei,  bei  stärkerer  sinnlicher  Grundlage  dem  Sektenwesen 
bis  zum  religösen  hiiatchopn,  anheimfällt.“  R.  y.  Krafft- 
Ebing  „PsynsinAUa  exSauhalis“  10.  Auflage,  Stuttgart  1898. 
S.  10-11. 


104 


Blüte  überzeugt  ist,  sie  würden  morgen  welken“,  i)  Diese 
Landschaft  ist  geeignet  sentimentale  Empfindungen  zu 
wecken.  Als  Karl  Philipp  Moritz  in  der  Abendsonne 
Kichmond  erblickte,  da  rief  er  aus:  „0  Eiclimond!  Ricli- 
mond !  nie  werde  ich  den  Abend  vergessen,  wo  du  von 
deinen  Hügeln  so  sanft  auf  mich  herablächeltest,  und 
mich  allen  Kummer  vergessen  liessest,  da  ich  an  dem 
blumigten  Ufer  der  Themse  voll  Entzückung  auf  und 
niederging.  —  Wohl  mir,  dass  ich  jenem  melancholischen 
Gemäuer  noch  zu  rechter  Zeit  entflohen  bin ! 

0  ihr  blühenden  jugendlichen  Wangen,  ihr  grünen 
Wiesen,  und  ihr  Ströme,  in  diesem  glückseligen  Lande, 
wie  habt  ihr  mich  bezaubert !  Allein  dies  soll  mich  nicht 
abhalten,  auf  jene  dürren,  mit  Sand  bestäubten  Fluren 
zurückzukehren,  wo  mein  Schicksal  mir  den  Fleck  meiner 
Thätigkeit  angewiesen  hat.  Aber  die  Erinnerung  an  diese 
Szene  soll  mir  noch  manche  heitere  Stunde  gewähren.“^) 
In  einem  kleinen  Fremdenführer  über  die  Insel 
Wight  wird  das  Dorf  Bonchurch  folgendermassen  ge¬ 
schildert:  „Das  Dorf  Bonchurch  liegt  reizend  an  der 
Unterklippe,  ln  seinem  Bezirk  finden  sich  Szenen  von 
grösserer  Schönheit,  als  wie  sie  vielleicht  irgendwo  auf 
so  engem  Baume  verkommen.  Der  Seestrand  bietet  be¬ 
ständig  neue  interessante  Ansichten  dar;  neue  Über¬ 
raschungen  stellen  bei  jedem  Schritte  sich  ein.  Land¬ 
einwärts  zeigte  sich  eine  unübertroffene  Verbindung  von 
Erhabenem  und  Malerischem,  von  turmhohen  Wänden 
schimmernder  Kreide,  von  blumenduftenden  Thälern,  von 
Gärten  voll  der  seltensten  Pflanzen  und  der  ausgesuchtesten 

H.  T  a  i  n  e  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  420. 

‘h  C.  Ph.  Moritz  „Reisen  eines  Deutschen  in  England  iin 
Jahre  1782.  In  Briefen  an  Herrn  Direktor  Gedike.“  Berlin 
1783  S.  113—114. 


105 


Blumen.  Der  Eingang  in  das  Dorf  ist  überaus  lieblich. 
An  die  Strasse  grenzt  ein  stiller,  anmutiger  Teich,  an 
dessen  Busen  die  breiten  Blätter  der  Seelilie  ruhen,  und 
welcher,  unter  einem  vollkommenen  Gewölbe  von  Laub¬ 
werk  fortlaufend,  sich  unter  vorspringenden,  reich  mit 
Vegetation  bedeckten  Felsenmassen  einwärts  und  auswärts 
windet.  Die  Wand  der  Klippe  türmt  sich  bis  zur  Höhe 
von  400  und  500  Fuss  über  dem  Wanderer  empor,  und 
von  ihren  Seiten  hüpfen  kleine  Kinnsale  hervor  in  lebendigen 
Kaskaden,  welche  die  Luft  mit  harmonischen  Tönen  und 
mit  lieblicher  Frische  erfüllen.  Am  Rande  dieses  herrlichen 
Abgrundes  stehend,  muss  man  zugeben,  dass  das  Gemälde 
2U  unseren  Füssen  vollkommen  ist.  Die  Klippe  ist  ausser¬ 
ordentlich  stark  in  horizontale  Blöcke  zerrissen,  welche 
reich  mit  Moos  und  Epheu  bedeckt  sind;  hier  fliegt  eine 
Krähe  empor;  dort  baut  eine  Dohle  ihr  Nest;  von  Zeit 
zu  Zeit  schwebt  eine  Taube  dahin,  gleich  einer  Schnee¬ 
flocke  zwischen  den  grauen  und  schwarzen  Raben.  Und 
weithin  sich  ausbreitend  gleich  einer  Fläche  geschmolzenen 
Silbers  leuchtet  und  glänzt  allezeit  das  scheinbar  regungs¬ 
lose  Meer.  Nimm  rauhe  Felsen,  zerklüftete  Gesteine, 
omporsteigende  Klippen,  jähe  Abstürze,  das  weite  Meer, 
■ein  schlängelndes  Bächlein,  einen  stillen  Landsee,  ein 
blumenreiches  Thal,  reiches  Weideland,  die  Hütte  des 
Bauern,  den  Pachthof  und  die  prächtige  Villa;  füge  das 
tiefe  Kolorit  des  Himmelsgewölbes  hinzu ;  lausche  den 
Lauten  der  belebten  Natur;  bedecke  das  Ganze  mit  der 
warmen,  sommerlichen  Sonne  und  nenne  es  Bonchurch.“d) 
Das  ganze  südliche  England  macht  einen  ähnlichen 
Eindruck.  Die  Sanftheit  der  Landschaft,  die  malerische 

Ernst  Hallier  „Kulturgeschichte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts“  Stuttgart  1889  S.  549 — 550. 


106 


Vegetation,  der  Zauber  der  frischen,  leuchtenden  Farben 
müssen  tiefen  Eindruck  auf  das  Gemüt  machen.  Und  so 
war  es  kein  Wunder,  dass  die  sentimentale  Empfindung 
mit  besonderer  Vorliebe  auf  die  Naturschilderung,  Natur¬ 
betrachtung  und  Naturverschönerung  übertragen  wurde. 
Es  ist  kein  Zweifel,  dass  die  moderne  Landschaftsgärtnerei 
ursprünglich  ein  Produkt  der  Sentimentalität  ist. 

Als  Schöpfer  dieses  neuern  englischen  Gartenstiles 
wird  gewöhnlich  der  Maler  und  Architekt  William  Ke  nt 
(1684 — 1748)  angesehen,  der  die  Kegeln  der  Landschafts¬ 
malerei  auf  die  Gartenkunst  übertrug,  indem  er  den 
Garten  als  eine  idealisierte,  em p find ungs volle 
schöne  Landschaft  auffasste  und  diese  Idee  in  den  herrlichen 
Parks  und  Gärten  von  Charltonhouse,  Roushhain,  Essex 
und  Claremont  verwirklichte.  „Eine  stattliche  Villa,  Grotten, 
Einsiedeleien,  Tempelchen,  Ruinen,  Felsenpartien,  Spaliere, 
Gewächshäuser,  sparsam  angebracht  und  möglichst  vor 
den  Augen  versteckt,  Bäume  und  Buschwerk  mancherlei 
Art  und  Schattierung,  Hecken  und  labyrinthisches  Blumen¬ 
gewinde,  grüne  Flächen,  Anhöhen  mit  sanften  Abhängen 
und  freundlichen  Fernsichten,  silberhelle  Teiche  und 
schlangenartig  sich  windende  Bäche,  grüne  Wiesen  und 
Inseln,  auf  denen  Kühe  weiden,  Schwäne  und  Enten  aul 
den  Wassern,  Hirsche  und  Rehe  in  den  Büschen:  alle 
diese  Dinge,  in  einem  grossen  mehr  oder  weniger  be¬ 
grenzten  Bezirke  malerisch  wirkungsvoll  verteilt,  aber 
ohne  übertriebene  vorsätzliche  Zuthaten  der  Kunst  (wie 
im  französischen  Gartenstil),  bilden  in  ihrem  Gesamt- 
bestande  das  Ideal  eines  wahrhaft  Englischen  Gartens 
oder  einer  künstlerisch  gestalteten,  idealisierten  Gegend“.^) 

b  Artikel :  G  a  r  t  e  n  k  u  n  s  t  in  B  r  o  c  k  h  a  ii  s’  Konversa¬ 
tions-Lexikon  14.  Anfl.  Bd.  VII  S.  558. 


107 


Kent  strebte  ganz  besonders  in  seinen  Gartenanlagen 
die  Empfindsamkeit  des  18.  Jahrhunderts  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  J.  v.  Falke  hat  in  seiner  „Geschichte  des 
modernen  Geschmacks“  diese  Sentimentalität  in  der 
Gartenkunst  William  Kent’s  vortrefflich  geschildert. 

„Hier  stösst  der  Wanderer  auf  eine  verfallene  oder 
verbrannte  Strohhütte,  dort  auf  eine  Einsiedelei  aus  Eohr 
geflochten;  hier  liegen  einige  Hütten  beisammen,  denen 
die  Bewohner  fehlen,  dort  erhebt  sich  auf  einem  Hügel 
ein  kleiner  Temnel,  der  Freundschaft  oder  der  Zärtlichkeit 
gewidmet,  dort  senkt  eine  Trauerweide  über  einer  Urne 
oder  einem  grabähnlichen  Monument,  welches  dem  An¬ 
denken  eines  geliebten  oder  grossen  Todten  geweiht  ist, 
ihre  Zweige  in  das  stille  Wasser  hinab.  Und  überall 
lesen  wir  sinnbedeutende  Inschriften,  noetische  Herzens- 
ergüsse,  die  uns  in  das  Ohr  flüstern:  hier  sollst  du  träumen, 
an  dieser  Stelle  sollst  du  seufzen,  hier  eine  stille  Thräne 
der  Wehmut  vergiessen,  hier  wieder  in  Entzücken  und 
Enthusiasmus  geraten.  —  Das  heisst  ein  kindisches  Spiel 
mit  unseren  Gefühlen,  ein  kindisches  Spiel  mit  der  Natur 
treiben !  In  dieses  Extrem  verfiel  der  englische  Garten 
damals  im  ersten  Anlauf  seines  Natureifers“. 


2)  J.  V.  Falke  „Geschichte  des  modernen  Geschmacks^ 
Leipzig  1862  S.  339 — 340.  Auch  von  Schütz  hatte  im  vorigen 
Jahrhundert  beim  Anblick  der  englischen  Gärten  ähnliche 
Gedanken.  Er  sagt:  „Hier  sieht  man  kleine  Wälder,  dort 
Gesträuche  ausländischer  Stauden,  hier  Grotten  oder  Ruinen 
des  Altertums,  auf  der  anderen  Seite  sieht  man  Alleen,  kleine 
Bauernhütten  und  Wiesen,  auf  welchen  Heerden  weiden. 
Bald  kommt  man  an  rauschendes  Wasser  mit  künstlich  zer¬ 
brochenen  Brücken,  und  bald  sieht  man  ein  modernes  Gebäude, 
oder  auch  auf  einem  Hügel  einen  Tempel  der  Freiheit,  der 
Freundschaft  oder  der  Liebe  gewidmet,  mit  witzigen  Inschriften 
verziert.“  v.  Schütz  a.  a.  0.  S.  248 — 249. 


108 


Fürst  Hermann  v.  Pü ekler- Muskau  hat  in 
den  „Briefen  eines  Verstorbenen“  wohl  die  gründlichsten 
und  auch  in  aesthetischer  Hinsicht  befriedigendsten 
Schilderungen  der  englischen  Gärten  gegeben. 

Seit  alter  Zeit  spielen  die  grossen  Parks  in 
London  eine  ansehnliche  Bolle  in  dem  Leben  der  vor¬ 
nehmen  Gesellschaft,  Sie  sind  seit  der  Kestauration  die 
„eigentlichen  Tummelplätze  der  fashionablen  Welt  ge¬ 
wesen“, 2)  aber  wie  J  o  u  y  sich  treffend  ausdrückt  mehr  ,,Ben- 
dezvous  der  Eitelkeit“  als  eigentliche  Vergnügungsorte. 

Bodenberg  schildert  den  allgemeinen  Eindruck  der 
Londoner  Parks  folgendermassen :  ,,Die  Londoner  Parks 
sind  sehr  eigentümlich.  Man  kann  sie  weder  mit  den 
Champs  Elysees  vergleichen,  noch  mit  dem  Thiergarten 
von  Berlin.  Sie  sind  keine  Vorstadtsgärten.  Sie  liegen 
mitten  in  der  Stadt.  Sie  sind  überhaupt  keine  Gärten. 
Sie  sind  eine  verschwenderische  Mischung  von  Wiese, 
Wald  und  Wasser.  Die  weite  Ausdehnung  ihres  Aspekts 
ist  der  erste  Eindruck,  der  das  Auge  des  Beschauers  an¬ 
zieht.  Ihre  Farbe,  die  mit  der  Jahreszeit  wechselt,  ist 
der  zweite.  Die  Parks  von  London  hören  nie  auf,  grün 
zu  sein.  Die  Wärme  und  Feuchtigkeit  der  Luft  duldet 
keine  Schneedecke,  und  mitten  im  Winter  schimmert  das 
Grün  des  Basens  herauf.  In  der  guten  Jahreszeit  aber, 
wenn  die  Blumenbeete  wie  bunte  Edelsteine  in  der  grünen 
Fassung  des  Basenplatzes  erscheinen,  wenn  die  Trauer¬ 
esche  ihr  langes  feingefiedertes  Haar  in  den  duftver- 

y  Zu  erwähnen  ist  hier  auch  noch  William  Mason’s 
(1715 — 1797)  poetische  Apologie  und  Theorie  der  Englischen 
Gartenkunst“  („The  english  garden,  a  poem“  London  1772). 

2)  Julius  Rodenberg  „Alltagsleben  in  London“  Berlin 
1860  S  ^0 

3)  Jouy  „L’Hermite  de  Londres“  Bd.  I  S.  38. 


109 


schieierten  Spiegel  der  Seen  taucht,  wenn  das  mannigfach 
schattierte  Grün  der  verschiedenen  Baumgruppen  gedämpft 
ist  mit  dem  Wechsel  von  Licht  und  Schatten  und  die 
Perspektive  in  jenem  blauen  Hauche  verdämmert,  welcher 
die  Formen  des  Details  verwischt,  aber  die  Erscheinung 
des  Ganzen  auf  eine  wundervolle  Weise  vertieft  und 
erweitert:  dann  gewährt  der  Park  ein  Schauspiel  von 
Farben,  welches  zu  reich  und  in  seinen  Übergängen  zu 

zart  ist  für  die  Beschreibung . Nächst  der  Farbe 

entzückte  uns  der  Duft  des  Parkes.  Über  die  weiten,  von 
Häusern  nicht  eingeengten  Wiesenflächen  weht  er  be¬ 
ständig,  Man  atmet  ihn,  sobald  man  an  den  Band  des 
Parkes  tritt;  man  hat  eine  Empfindung  von  ihm,  wenn 
man  die  Strassen  entlang  fährt,  welche  an  den  Park 
grenzen,  als  ob  die  Brust  selber  sich  dehne.  Er  weitet 
die  Seele.  Er  streift  den  Spiegel  der  Seen,  und  hat  jene 
feuchte  Beimischung,  welche  so  weich  um  die  Stirn 
fächelt  .  .  .  Der  Engländer  liebt  über  Alles  den  unge¬ 
hinderten  Luftstrom,  welchen  die  oft  dumpfige  Laubmasse 
dieser  Alleen  ausschliesst.  Sein  Park  ist  ein  feiner 
Wiesenplan,  mannigfaltig  durch  die  Abwechselung  von 
Gartenanlagen,  Waldpartien  und  stattlichen  Palastfronten, 
welche  sich  an  der  Grenzlinie  zeigen;  still,  so  stille,  dass 
man  sich  aus  der  Mitte  dieser  Stadt  und  den  Haupt¬ 
strassen,  die  den  Londoner  Park  in  weitem  Umkreis  um¬ 
geben,  in  eine  fernabgelegene  Landschaft  versetzt  glaubt; 
träumerisch  von  jenem  blauen  Hauche,  der  um  den  Rand 
der  Seen  und  um  die  Baumkronen  flattert,  und  frisch 
von  jenem  immerwährenden  Dufte,  den  Blume  und  Wasser 
aushaucht.  Die  Parks  von  London  sind  die  Lunge,  durch 
welche  dieser  Riesenkörper  atmet.“ 

OJ.  Rodenberg  „Tag  und  Nacht -in  London“  Berlin 
1862  S.  44—46. 


110 


Der  älteste  aller  Londoner  Parks  ist  der  St.  James 
Park,  angelegt  unter  Heinrich  VIIL,  aber  bedeutend 
erweitert  und  mit  einer  Mauer  umgeben  unter  Karl  11. 
An  der  Nordseite  spielte  der  galante  Fürst  das  Mail-Spiel: 
Here  a  well  polisb’d  Mall  gives  ns  the  joy 
To  see  our  Prince  bis  matcbless  force  employ. 

Evelyn  begleitete  am  2.  März  1671  Karl  H.  durch 
den  St.  James  Park,  wobei  er  eine  „vertrauliche  Unter¬ 
haltung  zwischen  dem  Könige  und  Mrs.  Nelly  mit- 
anbörte.  Schon  damals  entwickelte  sich  in  diesem 
Parke  ein  höchst  galantes  Treiben.  „Wenn  Ihr  Geschmack 
an  der  Galanterie  hättet,  so  könnten  wir  eine  Tour  in 
die  Gärten  des  Palastes  thun,  da  sich  die  Laster  und  die 
Eitelkeit  vollend  gar  bloss  geben.  Ich  verwundere  mich, 
dass  noch  ehrliche  Leute  dahingehen  mögen,  weil  es  fast 
ein  öffentlicher  Marckt  ist,  allwo  sich  eine  unzehlbahre 
Menge  junger  Weibesbilder  auft  einen  Tag,  oder  eine 
Stunde,  nachdeme  sie  bezahlet  werden,  verkauften,  und 
nach  diesem  schändlichen  Handel  allen  denenjenigen,  die 
sie  sehen,  ein  Greuel  sind,  nicht  sowohl  wegen  dem 
Verlust  ihrer  Keuschheit,  dann  diese  Tugend  ist  eben 
heut  zu  Tage  nicht  sonderlich  mehr  Mode,  sondern  weil 
ihre  Leiber  angestecket  werden,  dass  man  sich  nicht 
mehr  zu  ihnen  nahen  kann.“^) 

Im  Jahre  1726  erwähnt  Küchelbecker  einen 
„artigen  Kanal“  in  St.  James  Park,  auf  dessen  „beyden 
Seiten  lustige  Alees  sind,  unter  deren  Schatten  man  sich 
bey  der  Sonnen-Hitze  rafrichiren  kan“. 

0  John  Tinibs  „Curiosities  of  London“  London  1855 
S.  589;  S.  592. 

2)  Mrs.  Manie y’s  „Atalantis“  S.  721. 

3)  J.  B.  Küchelbecker  „Der  nach  England  reisende 
Curieuse  Passagier“  Hannover  1726  S.  124. 


'  111 


Moritz  berichtet  von  den  sehr  belebten  Promenaden 
in  diesem  Parke  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts:  „Was  aber 
freilich  den  St.  James  Park  einigermassen  wieder  erhebt, 
ist  eine  erstaunliche  Menge  von  Menschen,  die  gegen 
Abend  bei  schönem  Wetter  darin  spazieren  geht.  So 
voll  von  Menschen  sind  bei  uns  die  besten  Spaziergänge 
niemals,  auch  in  den  schönsten  Sommertagen  nicht,  als 
hier  beständig  im  dicksten  Gedränge  auf-  und  niedergehen. 
Das  Vergnügen,  mich  in  ein  solches  Gedränge  fast  lauter 
wohlgekleideter  und  schöngebildeter  Personen  zu  mischen, 
habe  ich  heute  Abend  zum  ersten  Male  genossen“. 
Archenholtz  erzählt,  dass  die  siebzehn  Zugänge  des 
Parkes  von  Soldaten  und  Privatpersonen  um  10  Uhr  Abends 
verschlossen  wurden.  Man  konnte  aber  Schlüssel  zu  ge¬ 
wissen  Parkthoren  für  eine  Guinee  kaufen  und  so  die  Nacht 
im  Parke  zubringen.  Von  dieser  Vergünstigung  wurde 
auch  —  gewiss  meist  zu  sehr  wenig  lauteren  Zwecken  — 
reichlich  Gebrauch  gemacht.  So  wurden  im  Jahre  1780 
gegen  6500  solcher  Schlüssel  verkauft.  Heute  ist  dieses 
schöne  Privileg  nicht  mehr  zu  haben.  'Aber  noch  immer 
sind  „Liebespaare,  welche  unter  den  duftigen  Bosquets 
zu  lange  träumten,  oft  schon  die  ganze  Nacht  lang  in 
den  Park  eingeschlossen  worden.“^)  Nach  Remo  übt 
allerdings  jetzt  die  Polizei  eine  sehr  scharfe  Aufsicht  in 
dieser  Beziehung  aus.  Jeden  Abend  wird  der  St.  James 
Park  von  Polizisten  mit  Laternen  durchsucht.^) 

Der  Hyde  Park,  der  sich  von  Piccadilly  westwärts 
bis  Kensington  Gardens  erstreckt  und  zwischen  den 

0  Moritz  a.  a.  0.  S.  15. 

2)  J.  W.  Yon  Archenholtz  „England  und  Italien“ 
Leipzig  1787  Bd.  III  S.  220. 

3)  J.  Rodenberg  „Tag  und  Nacht  in  London“  S.  51. 

F.  Re'ino  a.  a.  0.  S.  219. 


112 


Strassen  des  Westens  und  dem  Bayswater  Viertel  liegt, 
war  ursprünglich  ein  „Thiergarten“  des  alten  Eittergutes 
Hyde,  welches  dem  Kloster  von  St.  Peter  in  Westminster 
gehörte,  bis  es  im  Jahre  1536  dem  König  Heinrich  VIII. 
überlassen  wurde.  Erst  im  17.  Jahrhundert  gewann 
der  Park  seinen  eigentlichen  Charakter  als  fashionabler 
Vergnügungsort.  In  „Grammont’s  Memoiren  heisst  es: 
„Wie  bekannt,  ist  Hyde-Park  der  Spazierort  für  London. 
In  der  milden  Jahreszeit  ist  derselbe  sehr  belebt;  es  ist 
der  Sammelplatz  des  Luxus  und  der  Schönheit.  Alles 
was  brillante  Wagen  oder  hübsche  Augen  hatte,  drängte 
sich  dahin,  und  der  König  missfiel  sich  dort  nicht“. 
Besonders  gern  feierte  man  zu  jener  Zeit  den  ersten  Mai 
im  Hyde  Park.  Am  1.  Mai  1661  ging  Evelyn  in  den 
Hyde  Park  „um  frische  Luft  zu  schöpfen;  dort  war  Seine 
Majestät  und  eine  ungeheure  Menge  von  Galans  und  vor¬ 
nehmen  Kutschen.  Denn  es  war  die  Zeit  der  allgemeinen 
Festlichkeit  und  Freude“.  Auch  wurden  damals  im  Hyde 
Park  Kennen,  besonders  Wagenrennen  veranstaltet,  wie 
Pepys  und  Evelyn  berichten.^)  Ebenso  grosse  mili¬ 
tärische  Rennen.  —  In  der  „Atalantis“  der  Mrs.  Manley 
kommt  der  Hyde  Park  unter  dem  Namen  „Prado“  vor. 
„Dies  ist  der  Ort,  allwo  die  Damen,  wann  sie  wohl  auff- 
geputzt  sind,  ihre  Pracht  sehen  lassen,  und  anstatt  der 
frischen  Lufft  den  Staub  einnehmen.  Diejenige,  so  erst 
vor  kurtzem  verheyrathet  worden,  lassen  allhier  ihre 
Equipage  sehen;  die  fremde  Schönheiten,  wann  sie  sich 
wollen  beschauen  lassen,  zeigen  sich  am  ersten  auff  dem 
Brato.  Ein  beglückter  Spieler,  welchen  man  nicht  lange 

J.  Timbs  „Curiosities  of  London“  S.  584. 

2)  Gramraont’s  Memoiren  S.  118. 

3)  J.  Timbs  a.  a.  0.  S. -584^585. 


113 


I 


vorher  ohne  Schuhe  gesehen,  und  dessen  Eock  an  den 
Einbogen  zerstossen  gewesen,  komt  hier  in  einer  schönen 
Carosse  mit  vielen  Laquaien  begleitet,  auffgezogen.  Die 
Weiber  der  Kaths- Herren  kommen  hieher,  damit  sie  die 
Moden  lernen,  und  mit  ihren  Edelgesteinen  denen  Hof- 
Damen  Neid  erwecken.  Die  Galans  laulfen  zu  dem  Prado 
ihre  Coquetten  zu  sprechen,  und  ein  Ehemann  würde 
wohl  übele  Zeit  haben,  wann  er  zu  gewissen  Tagen  seiner 
Frauen  nicht  erlaubte,  in  einer  Carosse  in  dem  Prado 
spazieren  zu  fahren.  Das  Frauenzimmer  von  dem  Lande, 
wann  es  von  ihrem  Ehemanne  Erlaubniss  erhalten  hat, 
nach  Angela  zu  kommen,  würde  nicht  vergnügt  seyn, 
wann  zwey  ausgemergelte  Pferde,  nachdem  sie  durch  alle 
schlimme  Wege  durchgetrieben  worden,  sie  nicht  auch 
durch  den  Prado  führten,  allwo  sie  durch  die  Hechel 
gezogen  wird.  Diejenige,  so  nicht  im  Stande  sind,  Kutsche 
und  Pferd  zu  halten,  schmeicheln  sich  bey  andern  ein,, 
dass  sie  mit  denenselben  fahren  dörffen.  In  Summa, 
alles  will  sich  auff  dem  Prado  sehen  lassen.  Es  ist  noch 
nicht  lang,  dass  ein  gewisser  Edelmann  seiner  Frauen 
erlaubet  hat,  mit  ihrem  Amant  einen  solchen  Contract 
auffzurichten,  dass  dieser,  gegen  etliche  Conditiones,  der- 
selbigen  eine  Leib-Renten,  ein  Edelgestein  an  ihren  Halss 
zu  hängen,  und  eine  offene  Carosse  auff  den  Prado  zu 
fahren,  verschaffen  sollte.  So  nothwendig  hält  man  diesen 
Auffzug“.  Man  führte  nach  Mrs.  Manley  die  Töchter 
zur  Oper  oder  in  den  Hyde  Park,  damit  sie  „Amants  be¬ 
kommen  sollen“.^)  Küchelbecker  bemerkt  aus  dem 
zweiten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  über  den  Hyde  Park: 
,,Von  Kensington  gehet  ein  Weg  durch  den  Hideparck, 

„Atalantis“  S.  C84. 

2)  ibidem  S.  689. 


•  Dühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England.** 


8 


114 


welches  eine  unvergleichliche  Promenade  ist,  und  worinnen 
sich  die  vornehmsten  Leute  divertiren.  Man  trifft  daselbst 
zuweilen  über  tausend  Carossen“.  i)  Bis  auf  den  heutigen 
Tag  hat  der  Hyde  Park  diesen  Charakter  eines  allgemeinen 
Rendezvous  der  vornehmen  Gesellschaft  bewahrt. 

Einzelne  Gegenden  und  Plätze  im  Hyde  Park  haben 
einen  ganz  besonderen  Ruf  erlangt.  Da  ist  zunächst  der 
berühmte  Reit-  und  Fahrweg  Rotten  Row,  der  sich  von 
Hyde  Pa  rk  Corner,  dem  alten  berühmten  Thor  am 
Ende  von  Piccadill}",  an  der  Südseite  des  Parkes  bis  nach 
Kensington  Gardens  erstreckt  und  den  Mittelpunkt  des 
Lebens  und  Treibens  während  der  Saison  bildet.  „Rotten 
Row,  von  Hydepark  nach  Kensington  Gardens  hinüber¬ 
führend  ,  gewährt  eine  der  schönsten  landschaftlichen 
Szenerien,  die  man  sich  denken  kann.  Unter  duftschweren 
Linden  und  Kastanien  führen  die  breiten  Fahrwege  über 
Rasengrund,  rechts  von  Wiesenhügeln,  an  welchen  die 
Schafe  weiden,  und  in  -weitem  Umkreis  von  Palästen  be¬ 
grenzt,  die  mit  ihren  phantastisch  kühnen  Umrissen  wie 
Memling’sche  Miniaturen  auf  dem  blauen  Hintergründe 
des  Himmels  verdämmern,  und  links  von  der  klaren, 
breiten  Serpentine  abgespiegelt,  einem  zum  See  erweiterten 
Flüsschen,  an  dessen  Ufern  dunkle,  üppige  Baumgruppen 
träumen  und  auf  dessen  Flut  sich  weisse  Schwäne  und 
weisse  Segel  wiegen.  Die  Stimmung  dieser  Landschaft 
hat  etwas  unsäglich  Traumhaftes.  Der  sanfte  Nebel,  der 
den  Glanz  der  Sonne  in  ein  blau-weisses  Licht  auflöst, 
mit  dem  er  sich  färbt,  setzt  sich  als  feine  duftige  Masse 
in  das  gesättigte  Grün  der  dichtbelaubten  Bäume  fest  — 
fern  herüber,  von  Piccadilly,  gleichfalls  vom  Nebel  zu 


♦ 


y  Kü  ch  el  b  e  cker  a.  a.  0.  S.  124. 


115 


einem  Scliattenbilde  vergeistigt,  schaut  von  ihrem  Triumph¬ 
bogen  die  Keiterstatue  Wellingtons,  und  so,  ganz  mit  der 
Empfindung,  die  man  bei  uns  in  einer  Morgenlandschaft 
vor  Sonnenaufgang  hat,  lässt  man  sich  —  ins  hohe  Gras 
gestreckt  —  das  fashionable  Treiben  Londons  vor  Sonnen¬ 
untergang,  die  Eeiter  und  Reiterinnen,  die  Wagen  und 
Karossen  vorüberziehen.  —  Die  Glorie  von  Hyde  Park  ist 
Rotten  Row;  ohne  Rotten  Row  kein  Hyde  Park!  .  .  Der 
Haupttag  für  Rotten  Row  ist  Freitag  und  die  Stunde  fünt 
Uhr  Nachmittags.  Fünf  Uhr  Nachmittags  und  Rotten 
Row !  Ein  Hurrah  für  Englands  Amazonen !  Der  Corso 
beginnt.  Ganz  Belgravia  scheint  sich  auf  schäumenden, 
bäumenden ,  stolznackigen  Stuten  durch  das  Marmor¬ 
thor  bei  der  Reiterstatue  Wellington’s  zu  ergiessen.  So 
weit  das  Auge  sehen  kann,  weit  hinaus  nach  Kensington, 
wo  die  Perspektive  des  Weges  sich  in  gefiederte  Birken 
verliert,  nichts  als  schäumende,  bäumende  Rosse,  ihre 
Häupter  schüttelnd,  sich  schwenkend,  und  die  blauäugigen, 
blondhaarigen  Mädchen  von  Alt-England  darauf  —  schlanke, 
biegsame  Gestalten,  in  knapp  anschliessendem  Tuchgewand 
von  Dunkelblau,  mit  Reiterhütchen  auf  dem  Kopf  und 
Feder  daran;  mit  gelben  Stulpenhandschuhen  auf  den 
zarten  Händchen  und  schwarzer  Reitgerte  zwischen  den 
langen,  feinen  Fingern  .  .  .  Wie  sie  das  Pferd  zügelt! 
Und  wie  das  Pferd  demütig  gehorcht !  Englands  Mädchen 
solltet  Ihr  zu  Pferde  sehen !  Wie  lieblich,  eine  Hand  zu 
küssen,  die  so  ein  Ross  zu  bändigen  weiss.  —  Welch  ein 
lustiges  Gewimmel  und  Getrappel  und  Schnaufen  und 
Lachen  rings  um  mich !  Dort  über  die  Brücke  kommen 
die  Truppen  von  Tyburnia  —  junge  Edelleute,  wie 
Athleten,  mit  ihren  Rossen  verwachsen,  flüsternd  mit  den 
Damen,  so  helläugig  und  so  schlank  um  die  Taille,  und 


8* 


116 


so  anmutig,  mit  feiner,  schmaler  Hand  ihre  feueräugige 
Stute  führend.  ’S  ist  ein  gefährlich  Geschlecht,  diese 
schönen  Pferdebändigerinnen  —  „those  pretty  horsebrea- 
kers“  —  diese  weiblichen  Rarey’s !  Und  fern  zwischen 
majestätischen  Ulmen,  jetzt  in  eine  Sandung  tauchend,, 
jetzt  in  eine  sanfte  Hebung  des  Weges  hinansteigend, 
verschwinden  sie  im  Glanze  der  untergehenden  Sonne. 
Aber  neue  sind  da  —  immer  neue  hier  am  Wasser,  welches 
auf  seiner  blanken,  vom  Abendrot  goldenen  Fläche  die 
bunte  Menge  wiederspiegelt,  und  hier  in  der  grossen 
Allee,  wo  der  breite  Schatten  der  Kastanien  über  ihnen 
zittert.  Alles  lebt  und  webt  von  Pferden  und  jungen 
Mädchen  und  jungen  Männern  —  und  Jockey’s  mit 
gelbem  Gurt  um  den  Leib  trotten  hinterdrein,  und 
Dandies  mit  dem  Lorgnon  im  Auge  traben  lustig  vorbei, 
hier  Galopp,  Bauch  an  der  Erde,  dorten  Schritt  —  und 
die  Musikbande  von  Ihrer  Majestät  Leibgarde  spielt  einen 
Walzer  dazu  und  im  Hintergrund,  unter  schwermütig 
herabhängenden  Weiden  glänzt  der  Serpentine  und  über 
seinen  goldenen  Wogen  treibt  ein  einsamer  Schwan  und 
ein  silbernes  Segel.  —  Auf  der  andern  Seite  ist  die 
Fahrstrasse  für  den  Corso  auf  Rädern.  Ich  stelle  mich 
an  das  Eisengitter,  wo  die  Müssiggänger  der  Stadt  stehen, 
mit  Pegtop- Hosen  und  kleinen  Dandystöcken,  über  die 
Brüstung  gelehnt,  die  Zuschauer  dieses  wundervollen 
Schauspiels.  In  jedem  Augenblick  ein  neues  Profil,  fein, 
scharfgeschnitten,  elegant  und  vornehm,  in  Glas  und 
Rahmen  gesetzt  durch  das  Wagenfenster.  Das  ist  doch 
eine  andere  Gallerie  von  Schönheiten,  begleitet  von  der 
munteren  Musik  des  Lebens,  umspannt  von  dem  blauen 
Sommerabendhimmel  und  umduftet  von  den  Wiesen  und 
Blumen  des  Parks  —  eine  andere  als  jene  in  Hampton 


117 


Court,  auf  kalter  zweihundertjähriger  Leinwand  an  den 
staubigen  Wänden  des  alten  Schlosses  —  trotz  meines 
Lieblings  Nelly  Gwynn.  Ei,  wenn  die  sich  in  die  bunten 
Haufen  mischen  könnte,  mit  ihrem  blauen  Mantel  — 
welch  eine  Figur  Aväre  das !  —  Vorwärts  rollt  die  Flut 
der  Fahrzeuge  —  Cabriolets  mit  Kutscher  und  Tiger 
(kein  bengalischer  Tiger,  sondern  ein  kleiner,  harmloser 
Page  im  blauen  Jäckchen  mit  Silberknöpfen)  —  die  alte 
ehrwürdige  Familienkutsche,  vollgepackt  mit  Kindern, 
Gouvernante  und  Pudel,  wie  eine  Arche  Noah,  macht  ihre 
Aufwartung.  —  Gigs  und  Phaetons,  deren  weisse  Zügel 
von  den  Händen  einer  jungen  Schönheit  regiert  werden, 
folgen,  und  Wagen  auf  Wagen,  alle  mit  dem  orthodoxen 
gelben  Regenschirmgrift  vorn,  unter  dem  hohen  Kutscher¬ 
sitz“.  2) 

In  der  Nähe  von  Rotten  Row  erhob  sich  im  Jahre  1851 
das  grossartige,  zum  grössten  Teile  aus  Glas  hergestellte 
Gebäude  der  Weltausstellung.  Diese  Beziehung  erwähnt 
W.  M.  Thackeray  in  der  bekannten  ,,May-day  Ode“, 
die  am  1.  Mai  1851  in  den  „Times“  veröffentlicht  wurde : 

But  yesterday  a  naked  sod, 

The  dandies  sneered  from  Rotten  Row, 

And  sauntered  o’er  it  to  and  fro. 

And  see  ’tis  done! 

Zur  Zeit  der  Restauratipn  und  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  war  der  sogenannte  Ring  eine  sehr 


Auch  E.  F.  Krause  („England.  Charakteristisches 
über  Land  und  Leute“  Dresden  u.  Leipzig.  Ib92  S.  222 — 223) 
schildert  diese  uralten  Karossen  von  Kotten  Row,  die  mit 
2äher  Beharrlichkeit  samt  den  gepuderten  Bedienten  bis  heute 
beibehalten  worden  sind. 

“)  J.  Kodenberg  „Alltagsleben  in  London“  Berlin  18G0 
S.  22  und  „Tag  und  Nacht  in  London“  Berlin  1862  S.  54 — 56. 


118 


viel  besuchte  Stelle  im  Hyde  Park.  Der  ,,King“  lag 
nördlich  vom  Serpentine  -  Gewässer,  i)  Es  war  ein  etwa 
300  m  langer  Korso,  den  Karl  II.  um  einen  eiiige- 
schlossenen  Kaum  anlegen  liess.  Hier  versammelte  sich 
Alles,  was  „funkelnde  Augen  und  glänzende  Equipagen^^ 
hatte.  Die  funkelnden  Augen  leuchteten  meist  unter 
Masken  hervor  und  richteten  soviel  Unheil  an,  dass  1695 
ein  Verbot  erlassen  wurde,  fortan  mit  Masken  auf  dem 
„Ring“  zu  erscheinen.^)  Pope  erzählt  in  „Spence“  eine 
Anekdote  über  den  Komödien  dichter  Wycherley.  Dieser 
war  ein  sehr  schöner  Mann.  Er  machte  die  Bekanntschaft 
der  berühmten  Herzogin  von  Cleveland  auf  die  folgende 
Weise.  Eines  Tages,  als  er  auf  dem  „Ring“  spazieren 
ging,  fuhr  die  Kutsche  der  Herzogin  an  ihm  vorbei.  Die 
Dame  lehnte  sich  aus  dem  Fenster  und  rief  ihm  laut 
zu:  „Herr,  Ihr  seid  ein  Spitzbube  und  Schuft!“,  welche 
Worte  in  einem  Liede  im  ersten  Stücke  von  Wycherley 
Vorkommen.  Von  diesem  Augenblicke  an  hegte  der  Dichter 
die  Hoffnung,  von  der  Herzogin  erhört  zu  werden.  In 
Lord  Dorset’s  „Verses  on  Dorinda“  heisst  es  über 
den  „Ring“: 

Wilt  thou  still  parkle  in  the  box. 

Still  ogie  in  the  Ring? 

Canst  thou  forget  thy  age  and  pox  ? 

Can  all  that  shines  on  Shells  and  rocks 

Make  tbee  a  fine  young  thing? 

Ebenso  wird  bei  Ether  ege.  Gib  her  und  im 


J.  Timbs  a.  a.  0.  S.  585. 

2)  K.  Baedeker  „London  und  Umgebungen“  10.  Aufl. 
Leipzig  1890  S.  231—232. 

*)  H.  B.  Wheatley  „London  Fast  and  Present“  London 
1891  Bd.  III  S.  163. 


119 


„Spectator“  der  Eeiidez-vous  im  „Ring“  oft  gedacht,  i) 
Sehr  anschaulich  beschreibt  Wilson  das  Treiben  am 
„Ring“  aus  dem  Jahre  1697 :  „Here  the  people  of  fashion 
take  the  diversion  of  the  Ring.  In  a  pretty  high  place, 
which  lies  very  open,  they  have  surrounded  a  circum- 
ference  of  tvvo  or  three  hundred  paces  diameter  witli  a 
sorry  kind  of  balustrade,  or  rather  with  postes  placed 
upon  stakes  but  three  fut  from  the  ground ;  and  the  coaches 
drive  round  this.  When  they  have  turned  for  some  time 
round  one  way  they  face  about  and  turn  t’other;  so  rowls 
the  World  Der  „Ring“  war  also  ein  Ranelagh  im  Freien. 
Gegenwärtig  ist  von  diesem  altberühmten  Platze  nichts  mehr 
zu  sehen  als  einige  alte  Bäume.  Auch  das  in  seiner  Nähe 
gelegene  romantische  „Lake  House  mit  dem  Bächlein  davor, 
welches  nach  seiner  Abbildung  in  „Gentleman’s  Magazine“ 
von  1801  einen  sehr  pittoresken  Anblick  gewährt  haben  muss, 
ist  verschwunden. 

Nach  Remo  ist  heute  der  Hyde  Park  nach  dem 
Sonnenuntergänge,  besonders  am  Sonntage,  die  „Beute  der 
Sweethearts,  der  Verliebten“.  „Jusqu’ä  une  heure  avancee, 
on  les  voit  ä  demi-couches  les  uns  sur  les  autres,  les  bras 
enlaces,  les  levres  insatiables  de  levres  et  jamais  repues 
du  meme  long  baiser,  se  becquetant,  se  caressant,  se 
„sweetheardant“  (ce  neologisme  interlinqual,  c’est  ä  dire 
anglofrancaise  est  la  meilleure  Image  de  leurs  epanche- 
ments).“ 

Westlich  schliesst  sich  an  den  Hyde  Park  der 
Kensington  Garten  (Kensington  Gardens)  an,  der  von 
Wilhelm  HI.  angelegt  wurde,  welcher  in  dem  im  Parke 
gelegenen  Palaste  gleichen  Namens  residierte.  Hier  pflegten 

1)  H.  ß.  Wlieatley  a.  a.  0.  Bd.  III  S,  163. 

2)  Wilson’s  „Memoirs“  London  1719  S.  126. 

3)  J.  Timbs  a.  a.  0.  S.  585;  S.  588. 

P.  Remo  a.  a.  0.  S.  218. 


120 


schon  zur  Zeit  der  Königin  Anna  die  schönen  Damen 
in  aller  Frühe  zu  promenieren,  wie  Tic  keil  es  schildert: 
The  dames  of  Britain  oft  in  crowds  repair 
To  gravel  walks  and  unpolluted  air; 

Here,  while  the  town  in  damps  and  darkness  lies, 

They  breathe  in  sunshine,  and  see  azure  skies ; 

Fach  walks  with  robes  of  various  dyes  bespread, 

Seems  from  afar  a  moving  tulip-bed, 

Wliere  rieh  brocades  and  glossy  damasks  glow. 

And  Chintz,  the  rival  of  the  showery  bow. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  war 
Kensington  Gardens  der  Hauptschauplatz  der  vornehmen 
Galanterie,  um  1800  sogar  den  Hyde  Park  fast  ganz  ver¬ 
drängend.  Hier  konnte  man  täglich  die  Lebemänner  wie 
George  Selwyn,  den  Earl  of  Queensberry  u.  A. 
lustwandeln  und  liebäugeln  sehen,  mit  all’  den  Schönen, 
die  hier  die  Pracht  ihres  Leibes  und  ihrer  Gewänder  zur 
Schau  trugen.  Heute  findet  man  nur  noch  an  den 
Dienstagen  und  Freitagen,  während  der  hier  veranstalteten 
Konzerte,  die  bessere  Gesellschaft  im  Kensington  Park. 
„Über  die  Rasen-  und  Wiesenplätze  von  Kensington  rauschen 
die  Schleppkleider  der  promenierenden  haute -volee, 
während  unter  den  Bäumen,  zweimal  in  der  Woche,  eine 
volle  Musikbande  spielt“. 

Der  Regent’s  Park  hat  nur  vorübergehend  in  der 
Geschichte  des  galanten  High  Life  eine  Rolle  gespielt. 

Nur  im  Sommer  kann  man  das  Leben  und  Treiben 
des  High  Life  in  den  Parks  und  in  der  Öftentlichkeit 
beobachten,  und  zwar  bilden  die  Monate  Mai  bis  August 
die  eigentliche  „Season“.  Herbst  und  Winter  gehören 

0  1.  Timbs  a.  a.  0.  S.  433 — 434. 

2)  J.  Rodeiiberg  „Alltagsleben  in  London“  S.  20 — 21. 


121 


in  der  vornehmen  Gesellschaft  dem  Land-  und  Badeleben. 
In  Belgravia,  Tyburnia,  und  den  anderen  feinen  Vierteln 
des  Westens  ist  es  still,  die  Häuser  sind  öde  und  verlassen, 
die  Vorhänge  herabgelassen,  die  Thüren  verschlossen. 
So  ist  es  von  jeher  gewesen,  schon  seit  der  Restauration. 
„London“,  sagt  douy,  ,, bietet  zwei  verschiedene  Bilder 
dar,  welche  ein  italienischer  Dichter  oder  ein  Künstler 
mit  den  Namen  „Londra  trionfante“  und  ,,Londra 
abbandonata“  bezeichnen  könnte“,  i) 

England  ist  berühmt  durch  die  grosse  Zahl  seiner 
id3dlischen  adligen  Landsitze,  die  nicht  blos  für  Jagd, 
Sport  und  andere  ländliche  Vergnügungen  bestimmt  sind, 
sondern  auch  für  die  Genüsse  der  Kunst  und  Litteratur 
in  anziehendster  Weise  eingerichtet  sind.  Man  braucht 
nur  Werke  wie  Waage  ns  ,, Kunstwerke  und  Künstler  in 
England“  und  Pückler-Muskau’s  „Briefe  eines  Ver¬ 
storbenen“  zu  lesen,  um  über  die  grossartigen  Schätze 
der  Kunst  und  Litteratur  in  den  englischen  Adelssitzen 
in  der  ausgiebigsten  Weise  belehrt  und  in  Erstaunen 
gesetzt  zu  werden.  Die  wohlthätige,  erfrischende  Wirkung 
des  englischen  Landlebens  rühmt  schon  Archenholtz: 
„Der  Eigentümer,  ermüdet  von  den  lärmenden  Lustbar¬ 
keiten  des  Winters,  geniesst  mitten  in  einer  schönen 
Natur  die  süsseren  Vergnügungen  des  Landes,  und  der 
abgespannteste  Wüstling  söhnt  sich  mit  der  einfachen 
Bestimmung  der  Menschheit  wieder  aus  oder  lässt 
wenigstens  die  Sommermonate  hindurch  seinen  Geist  neue 
Kräfte  sammeln,  um  sie  den  nächsten  Winter  desto 
glänzender  zu  verschwenden“.  Am  schönsten  hat 

L  Joay  „LMIermite  de  Londres“  Bd.  II  S.  108. 

Archenholtz  „Annalen  der  britischen  Geschichte“ 
Hamb.  1799  Bd.  III  S.  105 — lOG. 


Alexander  Jung  in  seinen  „Vorlesungen  über  soziales 
Leben  und  höhere  Geselligkeit“  dieses  Landhansleben  der 
englischen  Aristokratie  geschildert. 

„Den  reinsten  Ausdruck  erreicht  der  höhere  ge¬ 
sellige  Verkehr  der  Engländer  jetzt  in  dem  Landhaus¬ 
leben  ihrer  Aristokratie.  Die  Hallen  Ossian’s  sind  hier 
verwandelt  in  die  modernsten  Prunkzimmer.  Die  Flamme 
des  Herdes  leuchtet  noch  jetzt,  wie  einst,  vom  Kamin, 
aber  sie  beleuchtet  die  schönsten  Fresken,  die  ausge¬ 
wähltesten  Fussdecken,  die  abweichendsten  Formen  edler 
Menschengestalt;  ein  reiches  Comfort  erfrischt  den  Mund 
zu  immer  neuer  Kede,  und  nach  aufgehobener  Tafel,  wenn  die 
reizenden  Damen  Altenglands  gehen,  und  die  Weine  kommen, 
rücken  die  Männer  noch  immer  nach  alter,  lieber  Sitte 
zusammen,  und  nun  moussiren  die  ausgelassensten  Geister 
der  Einfälle  um  die  Wette  mit  dem  Champagner.“ 

Am  prächtigsten  entfaltet  sich  das  fashionable 
Grossstadtleben  während  der  stillen  Saison  in  den  Bädern. 
Jetzt  giebt  es  zahlreiche  solche  Badeorte,  allen  voran 
Brighton.  In  alter  Zeit  waren  vor  Allem  zwei  Bade¬ 
plätze  die  Schauplätze  der  Galanterie:  Bath  und  Tun- 
b  r  i  d  g  e  w  e  1 1  s. 

Das  letztere  Bad,  nur  eine  Tagereise  südlich  von 
London,  wird  uns  schon  in  seinem  galanten  Charakter  in 
„Grammont’s  Memoiren“  sehr  anschaulich  vor  Augen 
geführt. 

,, Tunbridge  ist  von  London  etwa  ebenso  weit  wie 
Fontainebleau  von  Paris  entfernt;  zur  Brunnenzeit  ver¬ 
sammelt  sich  dort  die  schöne  und  elegante  Welt  beider 
Geschlechter.  Immer  zahlreich  ist  die  Gesellschaft  dort 

Al.  Jiin^  „Vorlesungen  über  soziales  Leben  und 
höhere  Geselligkeit“  Danzig  1844  S.  82 — 83. 


(loch  stets  gewühlt.  Da  die  Masse  der  Geniessendea^ 
die  Anzahl  der  Kranken  fortwäh r en d  über¬ 
steigt/)  so  atmet  alles  nur  Vergnügen  und  Freude. 
Jeder  Zwang  ist  verbannt,  Vertrautheit  mit  dem  Bekannt¬ 
werden  eröfthet,  und  der  Lebensgenuss  herrscht  allmächtig. 
—  Zur  Wohnung  hat  man  kleine,  saubere  und  bequeme 
Häuschen,  die  von  einander  getrennt  die  Quellen  auf  eine 
halbe  Stunde  im  Kreise  umgeben.  Des  Morgens  ver¬ 
sammelt  man  sich  am  Sprudel.  Dort  befindet  sich  eine 
grosse  Allee  von  dichtbelaubten  Bäumen,  worunter  man 
spazieren  gehend  den  Brunnen  trinkt.  Auf  einer  Seite 
des  Laubgangs  ist  eine  lange  Keihe  von  Buden  mit  allen 
Arten  Schmucksachen,  mit  Strümpfen  und  Handschuhen 
und  Spieltische  wie  auf  einem  Jahrmarkt.  Auf  der  andern 
Seite  der  Bäume  ist  der  Gemüsemarkt,  wo  jeder  selbst 
seine  Vorräte  einholt  und  wo  deshalb  kein  widriger  Anblick 
geduldet  wird.  Man  sieht  dort  kleine,  blonde,  frische 
Landmädchen  mit  sehr  reiner  Wäsche,  niedlichen  Stroh¬ 
hüten  und  in  sauberem  Schuhwerk;  sie  verkaufen  Wildpret, 
Gemüse,  Blumen  und  Früchte.  Man  erhält  so  gute  Kost, 
wie  man  sie  nur  wünschen  kann.  Es  wird  auch  hock 
gespielt  und  die  Liebesverhältnisse  gehen  ihren  Gang. 
.Sobald  der  Abend  kommt,  verlässt  jeder  sein  Schlösschen, 
um  sich  auf  dem  Easenplatz  einzufinden !  Dort  tanzt 
man,  wenn  es  beliebt,  auf  einem  so  sanften,  ebenen  Gras¬ 
boden,  wie  auf  dem  schönsten  Teppich  der  Welt . 

An  keinem  andern  Orte  hat  je  die  Liebe  ihr  Reich  so 
blühend  entfaltet.  Die  vor  der  Ankunft  von  ihr  berührt 
waren,  fühlten  ihre  Glut  steigen  und  die,  welche  der 

q  Gilt  das  nicht  auch  von  unseren  heutigen  Luxusbäderii  'i 
Viele  Kranke  werden  thatsächlich  nicht  gesund  vor  —  lauter 
Gesunden! 


124 


Leidenschaft  am  wenigsten  unterworfen  schienen,  ver- 
leugneten  ihre  natürliche  Starrheit  und  spielten  eine  ganz 
neue  Rolle.“  i)  Auch  in  den  „Serails  de  Londres“ 
(S.  197)  wird  Tunbridge  als  ein  Ort  der  Galanterie 
erwähnt. 

Aber  an  der  Spitze  der  englischen  Badeorte  steht 
seit  den  Zeiten  der  Römer,  die  schon  die  warmen  Quellen 
dieser  Stadt  kannten,  Bath,  zeitweilig  sogar  eine  königliche 
Residenz.  Es  ist  nach  Waagen  die  „Königin  unter 
allen  Badeorten  in  der  Welt;  denn  an  Schönheit  der 
Lage  können  sich  gewiss  nur  wenige,  an  Stattlichkeit  der 
Gebäude  keiner  damit  messen.“'^)  Freilich  zur  Zeit  der 
Restauration  war  Bath  noch  nicht  die  schöne  Stadt,  welche 
„selbst  Augen  entzückt,  die  mit  den  Meisterwerken 
-eines  Bramante  und  Palladio  vertraut  sind,  und  welche 
der  Genius  von  A n s  1  e y  und  S m o  1 1  e 1 1 ,  von  Francisca 
Burney  und  Johanna  Austen  zu  einem  classischen  Orte 
gemacht  hat.  “^)  Primitive  Hütten  standen  damals,  wo  heute 
imposante  Paläste  am  Ufer  des  Avon  terrassenförmig  empor¬ 
steigen.  Erst  seit  1730  entwickelte  sich  Bath  zu  einem  vor¬ 
nehmen  und  glänzenden  Badeplatze.  In  einem  alten  Werke 
jener  Zeit  wird  es  mehr  ein  Zufluchtsort  für  die  Gesunden  als 
für  die  Kranken  genannt.  Das  Baden  werde  mehr  als 
Sport  und  Unterhaltung  betrieben  denn  als  Stärkungs¬ 
mittel  der  Gesundheit.  Die  ganze  Stadt  ginge  auf  in 
Würfelspiel,  Kartenspiel,  Besuchemachen,  mit  einem  Wort 
in  allen  Arten  der  Galanterie  und  Leichtfertigkeit.  Un¬ 
aufhörlich  folgten  sich  die  verschiedensten  Vergnügungen. 
„Des  Morgens  holt  man  Euch  in  einer  geschlossenen 

0  Grammont  S.  233 — 235. 

2^)  G.  F  Waagen  „Kunstwerke  und  Künstler  in  England“ 
Berlii/  1838  Bd.  11  ^5.  322. 

0  Macanlay  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  7(5. 


125 


Sänfte,  und  trägt  Euch  gekleidet  in  Euren  Badeanzug 
zu  dem  „Cross  Bath“.  Dort  spielt  die  Musik,  während 
Ihr  ins  Bad  tretet,  und  die  Personen,  welche  Euch  be¬ 
dienen,  Euch  eine  kleine  hölzerne  Schüssel  überreichen, 
in  der  ein  Handtuch  liegt  und  ein  Blumenstrauss ;  und 
später  kommt  noch  eine  Schnupftabaksdose  hinzu.  In 
einiger  Entfernung  halten  sich  die  Damen  auf,  jedes 
Geschlecht  an  einer  besonderen  Seite.  Aber  oft  mischen 
sie  sich  unter  einander,  wie  in  dem  „Königs-  und  Königinnen¬ 
bade“,  und  unterhalten  sich,  da  der  Platz  sehr  klein  ist, 
sehr  frei,  scherzen,  fluchen  und  lieben  sich  manchmal.  Haben 
sie  sich  so  eine  oder  zwei  Stunden  amüsiert,  so  rufen  sie  nach 
ihren  Sänften  und  kehren  in  ihreWohnungen  zurück.“^)  Dann 
fanden  für  gewöhnlich  die  gi’ossen  Promenaden  auf  dem 
Kirchhofe  statt  und  man  kehrte  in  den  angrenzenden 
Läden  ein.  Am  Nachmittage  fand  gewöhnlich  eine 
Theateraufführung  statt,  wobei  weniger  diese  letztere  als 
die  Unterhaltung  unter  den  Zuhörern  in  Betracht  kam. 
Abends  gab  es,  wenigstens  zweimal  in  der  Woche,  Bälle 
in  der  grossen  Stadthalle.  Auch  wird  —  wie  man 
sieht,  ein  altes  Lied  —  der  grosse  Nutzen  von  Batli  für 
die  Beförderung  der  —  Conception  hervorgehoben.  — 
Mrs.  Elizabeth  M  o  n  t  a  g u  beschreibt  ebenfalls  das  Leben 
in  Bath  um  1740  sehr  anschaulich.  Des  Morgens  heisse 
es  von  allen  Seiten :  How  do  you  do?  Des  Abends:  Was 
ist  Trumpf?  Die  Frauen  im  „Lady’s  Coffee  House“ 
sprächen  nur  von  Krankheiten.  Die  Männer,  ausgenommen 
Lord  Noel  Somerset,  seien  alle  abscheulich.  Nicht 
ein  Guter  sei  unter  ihnen.  Unter  den  excentrischen  Damen 
befand  sich  eine  sehr  grosse  und  starke,  verwittwete 

0  „The  Foreigaer’s  Guide  through  London  etc.“  London 
1730.  S.  202. 


126 


Herzogin,  welche  heim  Baden  in  dem  „Cross  Bath‘‘  bei¬ 
nahe  ein  paar  Frauen  ertränkte.  Sie  befahl  nämlich  ös 
so  mit  Wasser  zu  füllen,  dass  es  ihr  bis  ans  Kinn  reichte. 
So  mussten  alle  die,  welche  kleiner  waren  an  Statur  und 
Rang,  herausgehen,  wenn  sie  nicht  ertrinken  wollten. 
Doran  berichtet,  dass  man  im  Wasser  promenierte,  und 
zwar  beide  Geschlechter  gemeinsam.  Man  war  im  Bade¬ 
kostüm  und  spazierte,  das  Wasser  bis  zum  Halse,  umher. 
Es  sah  aus,  als  wenn  die  Köpfe  der  kleinen  Leute  auf 
dem  Wasser  schwammen.  Man  scherzte,  liebkoste  sich 
oder  amüsierte  sich  auf  andere  Weise.  Das  ,, Cross  Bath‘^ 
war  das  vornehmste  Bad.  Schöne  lackierte  Schalen 
schwammen  vor  den  Damen  umher,  gefüllt  mit  Konfekt, 
■oder  parfümierten  Ölen  und  Essenzen.  Bisweilen  schwamm 
ein  solches  Schälchen  von  seiner  Eigentümerin  fort,  und 
der  Anbeter  der  Dame  hinterher,  brachte  es  ihr  zurück, 
und  legte  sich  wohl  bei  guter  Laune  auf  den  Rücken 
und  that  so,  als  wenn  er  in  die  Tiefe  sänke,  vor  lauter 
Vergnügen,  ihr  dienen  zu  können.  Die  Zuschauer  auf 
der  Gallerie  lachten  und  applaudierten,  bis  die  Stunde 
des  Geschlossenwerdens  des  Bades  kam.  Dann  trug  man 
die  Schönen  in  Sänften  nach  Hause.  2) 

Auch  Archenholtz  gedenkt  dieses  lustigen  Treibens 

in  Bath,  um  dessen  Verschönernng  sich  besonders  der 
berühmte  Stutzer  Nash  verdient  machte,  der  auch  den 
bedenklichen  Unfug  in  den  Bädern  beseitigte.  Noch  immer 
ist  Bath  ein  vielbesuchter  Badeort,  dessen  Schönheit 
Swinburne  in  den  „Poems  and  Ballads“  besingt: 

Like  a  cjueen  enchanted  who  may  not  laugh  or  weep, 

Glad  at  heart  and  guarded  from  change  and  care  like 

ours. 


Doran  „A  Ijady  of  the  last  Century“  London  1873  S.  21. 
Ö  ibidem  S.  22 — 23. 


127 


Girt  about  witli  beauty  by  days  and  nigths  that 

creep 

Soft  as  breatliless  ripples  tliat  softly  shore  ward 

sweep, 

Lies  tlie  lovely  city  wliose  grace  no  grief  deflowers.^) 

Nach  Remo  sind  englische  Bäder  noch  heute 
,,stations  d’amour^‘,  wohin  alle  diejenigen  flüchten,  welche 
ihre  ,,lasciven  Träume“  verwirklichen  wollen.  Jetzt  be¬ 
hauptet  Brighton  den  ersten  Rang  unter  ihnen  als  Ort 
des  allgemeinen  Rendez-vous,  von  den  „brocanteurs  d’amour, 
les  ecumeurs  de  vierges  et  les  debaucheurs  d’amour“  bis 
zu  den  ,,platoniciens  qui  vont  echanger  les  serments 
eternels  devant  l’infini  de  la  mer  comme  temoin.“  Kein 
Wunder  daher,  dass  die  Londoner  Serails  hier  in  Gestalt 
von  Filialen  vertreten  sind.  Remo  erwähnt  ein  von 
einer  Holländerin  geleitetes,  fashionables  Bordell  in  Brighton. 
Sie  fuhr  mit  ihren  Mädchen  in  einem  ,,four-in-hand“, 
einem  vierspännigen  Wagen  spazieren,  und  erwarb  sich 
ein  grosses  Vermögen.  ‘^) 

Der  allgemeine  Charakter  der  Lebewelt  des  acht¬ 
zehnten  Jahrhunderts  zeigt  gegenüber  derjenigen  der 
Restaurationsperiode  eine  entschiedene  Verfeinerung 
und  Veredlung.  Ein  Roche  ster  und  Dorset 
erscheinen  trotz  ihrer  eminenten  Geistesgaben  als  rohe 
Patrone  neben  den  Selwyn  und  March  mit  ihren  ge¬ 
schliffenen  Manieren  und  elegantem,  weltmännischen  Auf¬ 
treten.  Der  Geist  des  Rokoko  beherrscht  auch*  diese 
Gesellschaft.  Die  leichte,  gefällige  Causerie  kommt  auf, 
freilich  nicht  ohne  ihren  ständigen  Begleiter:  den  Klatsch. 

1)  A.  Cb.  Swinburne  „A  Bailad  of  Bath“  iu:  Poems 
and  Ballads,  Third  Series  5th  edit.  London  1897  S.  80—82. 

2)  F.  Re'mo  „La  vie  galante  en  Angleterre“  S.  267 — 268. 


128 


Dem  französischen  „Demi-monde‘^  des  neunzehnten  Jahr¬ 
hunderts  stellt  das  achtzehnte  in  England  die  sogenannten 
„D emi-reps“  entgegen, was  wohl  nicht  mit  einander 
zu  identifizieren  ist.  Denn  die  „Demi-reps“  waren  solche 
Damen,  deren  Ruf  nicht  ganz  tadellos  war  und  recht 
häufig  an  den  „Theetischen  in  Gefahr  geriet  verloren 
zu  gehen  oder  vernichtet  zu  werden.“ ‘^)  Die  klatschenden 
Weiber  Londons  bilden  ein  beliebtes  Thema  bei  den 
moralisierenden  Schriftstellern  des  18.  Jahrhunderts,  bei 
Addison,  Steele,  Sterne.  Besonders  eindringlich 
warnt  der  gute  Richard  King  in  seinen  „Frauds  of 
London“  vor  ihnen  und  ihrem  zerstörenden  Werke. 

Aristokratie  und  Volk  waren  im  18.  Jahrhundert 
strenger  von  einander  geschieden  als  im  17.,  wo  noch 
eine  Art  von  patriarchalischem  Verhältnisse  zwischen  den 
beiden  herrschte.  Archenholtz  berichtet  sogar,  dass 
der  Hof  es  verschmähte,  die  gewöhnlichen  —  Bordelle 
zu  besuchen,  sondern  sich  seine  eigenen  Freudenhäuser  hielt, 

„Es  giebt  noch  andre  Häuser  und  zwar  ganz  nahe 
beim  Palaste  zu  St.  James,  wo  man  Nymphen  in  zahl¬ 
reichen  Banden  für  die  Hofleute  unterhält.  Eine  kleine 
Gasse,  die  aber  ganz  aus  zierlichen  Häusern  besteht,  und 
King’s  Place  heisst,  hat  keine  anderen  Bewohner  als 
Priesterinnen  der  Venus,  die  unter  der  Aufsicht  von  wohl¬ 
habenden  Matronen  leben.  Sie  besuchen  alle  öfientlichen 
Belustigungsörter,  selbst  die  theuersten,  und  diese  in  den 
kostbarsten  Kleidern.  Jedes  dieser  Klöster'^)  hat  eigene 
Equipagen  und  Livreebediente,  denn  die  Mädchen  gehen 

q  Von  „Demi-reputation“  =  halber  Ruf. 

2)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  1.  S.  343. 

3)  R.  King  „The  Frauds  of  London“  S.  30. 

Über  diese  Bezeichnung  der  Bordelle  yergl.  Bd.  I  dieses 
AVerkes  S.  257. 


129 


nie  zu  Fasse,  ausser  bei  ihren  Spaziergängen  im  Park.  Sie 
bezahlen  für  Wohnung  und  Kost,  und  werden  ganz  als 
Pensionärs  behandelt,  die  sich  jedoch  den  Regeln  des 
Hauses  unterwerfen  müssen.  Der  liohe  Preis,  der  selbst 
mit  dem  Eintritte  in  diese  Tempel  verbunden  ist,  hält 
den  grossen  Haufen  ab,  sie  zu  besuchen,  dagegen  sich 
Reiche  und  Vornehme  desto  häufiger  einstellen.  Der  be¬ 
rühmte  Fox  w^ar  selbst,  bevor  er  Minister  wurde,  unter 
diesen  besuchenden  Freunden,  und  nicht  selten  verliess 
er  diese  Altäre,  um  ins  Parlament  zu  eilen,  und  durch 
seine  grosse  Beredsamkeit  alles  zu  erschüttern.  Es  ist 
sonderbar,  dass  dieser  Mann,  so  lange  er  der  Venus  opferte 
und  Bacchanalien  beiwohnte,  wegen  seiner  Rechtschaffen¬ 
heit  und  seines  wahren  Patriotismus  verehrungswürdig 
w'ar;  allein  sobald  er  sich  den  politischen  Mysterien  ganz 
weihete,  so  entsagte  er  mit  seinen  Ausschweifungen  auch 
jenen  Tugenden  gänzlich“  ^).  Letzteres  ist  eine  interessante 
psychologische  Beobachtung.  Tugenden  und  Fehler  des 
einzelnen  Menschen  hängen  nämlich  aufs  innigste  mit  seinem 
Sexualleben  zusammen.  Will  man  jene  erkennen,  so  soll 
man  nicht  vergessen  dieses  zu  untersuchen.  Und  was 
vom  einzelnen  Individuum  in  dieser  Beziehung  gilt,  gilt 
auch  von  der  Gesellschaft.  Auf  diesen  Umstand  habe  ich 
besonders  in  meinem  Werke  über  den  „Marquis  de  Sade“ 
wiederholt  und  mit  Nachdruck  hingewiesen. 

Mittelpunkte  des  High  Life  waren  im  18.  Jahrhundert 
die  grossen  Maskenbälle,  deren  Blütezeit  in  diese 
Epoche  fällt. 


9  Archenholtz  „England“  Bd.  II.  S.  260 — 261. 

9 


130 


Die  Vorläufer  der  Maskenbälle  waren  die  „Masken- 
spiele“  des  17.  Jahrhunderts,  als  deren  drei  berühmteste 
Verfasser  Daniel, Campion  und  BenJonsonzu  nennen 
sind.  Letzterer  ist  nach  Tai  ne  der  eigentliche  Erfinder 
dieser  Maskenzüge ,  bei  denen  eine  üppige  Pracht  entfaltet 
wurde. 

„Seine  Hände  schütteln  alles  durcheinander:  die 
griechischen  Götter,  den  ganzen  Olymp  des  Altertums, 
die  allegorischen  Gestalten  —  die  von  den  damaligen  Malern 
in  ihren  Gemälden  angebracht  werden,  —  alle  Welten: 
die  göttliche  und  die  menschliche,  die  abstracte  und  die 
wirkliche,  die  antike  und  die  moderne.  AIP  dies  bringt 
er  auf  die  Bühne,  um  daraus  Kostüme,  harmonische  Gruppen, 
Gesänge  und  Sinnbilder  zu  brauen,  mit  denen  er  die 
künstlerischen  Sinne  der  Beschauer  anregt  oder  berauscht. 
Die  Elite  des  Keiches  steht  da  auf  der  Bühne;  nicht 
Possenreisser,  die  sich  in  erborgten,  ihnen  schlecht  sitzen¬ 
den  Gewändern  unbeholfen  geberden,  sondern  Hofdamen, 
hohe  Herren,  Königinnen  im  vollen  Glanze  ihres  Banges 
und  Stolzes,  mit  echten  Diamanten.  Sie  sind  bemüht,  ihren 
Luxus  zur  Schau  zu  tragen,  so  dass  die  ganze  Pracht  des 
nationalen  Lebens  sich,  wie  Juwelen  in  einem  Schmuck¬ 
kästchen  in  der  Oper  concentrirt,  die  sie  einander  geben. 
Welcher  Putz!  Welche  Herrlichkeit!  Welche  Vereinigung 
bizarrer  Personen!  Welche  Menge  von  Zigeunern,  Zauber¬ 
ern,  Göttern,  Helden,  Priestern,  Gnomen  u.  dgl.!  Welche 
Verwandlungen,  Tänze,  Hochzeitslieder  und  Kämpfe!  Welche 
Abwechslung  von  Landschaften,  Bauten,  schwimmenden 
Inseln,  Triumphbogen  und  symbolischen  Kugeln !  Das  Gold 
funkelt,  die  Juwelen  schimmern,  der  Purpur  fängt  in  seinen 
reichen  Falten  die  Strahlen  der  Kronenleuchter  auf,  die 
zerknitterte  Seide  wirft  das  Licht  zurück,  flammensprühende 


131 


Diamantenfransen  zieren  die  Ernst  der  Damen,  Perlen- 
■schnüre  bedecken  die  mit  Silber  ausgenähten  Brokatkleider, 
■die  Goldstickereien  schlagen  ihre  bizarren  Arabesken  in 
•einander  und  besäen  die  Kleider  mit  Blumen,  Früchten 
und  allerlei  Gestalten,  —  ein  Gemälde  im  Gemälde  schaffend. 
Auf  den  zum  Thron  führenden  Stufen  stehen  Gruppen  von 
Liebesgöttern,  deren  jeder  eine  Fackel  trägt.  In  den  Lauben 
•spielen  Musikanten,  die  mit  scharlachenen  und  purpurnen 
Gewändern  angethan  und  mit  Lorbeern  bekränzt  sind. 
Maskenreihen  gehen  in  fortwährend  anders  verflochtenen 
“Gruppen  auf  und  nieder;  die  Einen  sind  silberfarben  und 
rötlichbraun,  die  Anderen  meergrün  und  orangegelb  ge¬ 
kleidet:  die  kurzen  weissen  Röcke  sind  goldgestickt,  alle 
Kostüme  und  Juwelen  weisen  einen  ausserordentlichen 
Reichthum  auf.  Der  Thron  gleicht  einem  Lichtmeer“  ^). 

Diese  Maskenspiele  des  17.  Jahrhunderts  blieben  in¬ 
dessen  blosse  Schaustücke,  und  w^aren  insofern  verschieden 
von  den  Maskeraden  des  18.  Jahrhunderts,  an  denen 
•die  ganze  vornehme  Gesellschaft  in  corpore  teilnahm. 
Die  Maskenbälle  bilden  einen  so  wesentlichen  Bestandteil 
in  dem  farbenreichen  Bilde  des  englischen  High  Life  im 
18.  Jahrhundert,  dass  Fitzgerald  sie  mit  Recht  als 
„the  note“  des  allgemeinen  Geschmackes  bezeichnet,  und 
.auf  die  grossen  Gebäude  hinweist,  die  allein  zu  diesem 
Zwecke  errichtet  wurden,  wie  Ranelagh^),  das  Pantheon)^, 
Almacks  und  das  berühmte  Gebäude  der  Madame  Cor- 
nelys  am  Soho  Square^). 


1)  Taine  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  460 — 461. 

2)  Vgl.  Bd.  1,  S.  319—324. 

3)  ibidem  S.  307 — 308. 

P.  Fitzgerald  „Life  of  George  IV.“  Bd.  I.  S.  52. 

9* 


132 


Die  Maskeraden  dienten  in  einem  hohen  Grade  der 
Verbreitung  der  Immoralität.  Schon  früh  erhoben  sich 
lebhafte  Klagen  über  die  bei  solchen  Festen  begangenen 
Ausschweifungen.  Im  Jahre  1726  predigte  der  Bischot 
von  London  öffentlich  gegen  die  Maskenbälle.  Drei  Jahre 
später  erklärte  die  „Grand  Jury  of  Middlesex“  die  Mas¬ 
keraden  für  die  hauptsächlichen  Beförderer  von  Laster  und 
Sittenlosigkeit  1).  Zu  grossen  Skandalen  gab  oft  das  Ver¬ 
halten  des  Pöbels  Veranlassung,  über  das  Archen- 
holtz  die  folgenden  Mitteilungen  macht:  „Der  englische 
Pöbel  nimmt  an  den  Maskeraden  auf  eine  sehr  sonderbare 
Art  teil,  die  so  viel  Unangenehmes  hat,  dass  man  er¬ 
staunen  muss,  wie  unter  solchen  Umständen  delikate  Damen 
einem  so  theuer  erkauften  Vergnügen  nachjagen  können. 
Die  ungeheuere  Menge  der  Kutschen  verursacht,  dass  viele 
auf  der  Strasse  warten  müssen.  Diese  Zeit  über  sind  die 
Masken  dem  Spotte  des  Pöbels  ausgesetzt.  Alle  Wagen, 
welche  halten,  werden  mit  Pechfackeln  von  diesem  Aus¬ 
wurfe  der  Nation  beleuchtet.  Man  betrachtet  und  ver¬ 
spottet  die  Masken  mit  Fischmarktswitz,  Zoten  und  wiehern¬ 
dem  Gelächter,  wobei  kein  Wort  verloren  geht.  Die  Kutschen¬ 
räder  werden  bestiegen,  und  die  Fackeln  den  darin  Sitzenden 
unter  die  Augen  gehalten.  Ueber  die  Grenzen  dieser 
brutalen  Neugier  und  Spötterei  geht  die  Belustigung  nicht 
hinaus“  ^). 

Die  Costüme  der  Teilnehmer  und  Teilnehme¬ 
rinnen  an  diesen  Maskeraden  waren  meist  von  verschwen¬ 
derischer  Pracht.  Oft  aber  auch  zeichneten  sich  Damen 


H.  D.  Traill  „Social  England“  London  Bd.  V. 

S.  141—142. 

2)  Archenlioltz  „England“  Bd.  III  S.  21ä — 216. 


133 


durch  —  Costümlosigkeit  aus.  Entrüstet  beschreibt  Lady 
Elisabeth  Montagu  das  Gewand  der  Miss  Chudleigh 
bei  einer  Maskerade  im  Jahre  1750:  „Miss  Chudleigh's 
Kleid  oder  vielmehr  Nichtkleid  (undress)  war  bemerkens¬ 
wert.  Sie  war  Iphigenie  vor  dem  Opfer;  aber  so  nackt, 
dass  der  Hohepriester  mit  Leichtigkeit  die  Eingeweide 
des  Opfers  inspiciren  konnte.  Die  Ehrendamen,  die  nicht 
gerade  zu  den  sittenstrengsten  gehörten,  waren  so  beleidigt, 
dass  sie  mit  ihr  nicht  sprechen  wollten.“^)  Auch  der 
Spleen  fand  oft  Gelegenheit,  sich  in  eigenartiger  Weise 
zu  bethätigen.  Der  König  Georg  IIL,  der  die  Masken¬ 
bälle  nicht  sonderlich  liebte,  veranlasste  einmal  den  Colonel 
Luttrel  im  Jahre  1771,  eine  grosse  Maskeradengesell¬ 
schaft  dadurch  zu  stören,  dass  er  in  einem  Toten¬ 
kleide  und  Sarge  erschien  und  alle  Anwesenden,  besonders 
die  Damen,  in  Schrecken  setzte,  aber  schliesslich  von 
einem  als  Matrose  gekleideten  Manne  hinausbefördert 
wurde. 

Die  berühmtesten  Maskenbälle  des  18.  Jahrhunderts 
waren  die  in  Almack’s  und  die  von  der  Madame 
Cornelys  (oder  Cornelis)  veranstalteten. 

Almack’s  führt  seinen  Namen  nach  einem  Schotten 
Almack,  der  dieses  Ballhaus  im  Jahre  1764  an  der 
Südseite  von  Kingstreet,  St.  James’s,  errichten  Hess  und 
dasselbe  am  12.  Februar  1765  mit  einem  glänzenden 
Ballfeste,  dem  auch  der  Herzog  von  Cumb  erlan  d,  der 
Sieger  von  Culloden,  beiwohnte,  eröffnete.  Der  grosse 
'  Saal  dieses  Ballhauses  fasste  1700  Personen.  Die  Maske¬ 
raden  von  „Almack’s“  wurden  durch  ein  Comite  vornehmer 
Damen  arrangirt  und  geleitet,  welches  nur  Personen  aus 


1)  Doran  „A  Lady  of  the  last  Century“  S.  57. 

2)  Archenholtz  „England“  Bd.  III  S.  213 — 214. 


134 


den  vornehmsten  Kreisen  den  Zutritt  gestattete.  Gillj 
Williams  schreibt  unter  dem  *22.  Februar  1765  an 
George  Selwyn:  „Es  ist  jetzt  in  Almack’s,  in  drei 
sehr  eleganten,  neuerbauten  Bäumen,  eine  10  Guineen- 
Subscription  eröffnet,  wofür  man  zwölf  Wochen  lang  einen 
Ball  und  ein  Abendbrot  einmal  in  der  Woche  hat.  Nach 
der  Summe  kann  man  annehmen,  dass  die  Gesellschaft  eine 
auserlesene  ist.‘‘  In  Luttrell’s  „Julia“  (Letter  I)  heisst 
es  über  diesen  Club  und  seine  Zulassungsbedingungen: 
All  on  that  magic  List  depends; 

Farne,  fortune,  fashion,  lovers,  friends : 

’Tis  that  which  gratifics  or  vexes 
All  ranks,  all  ages  and  both  sexes. 

If  once  to  Almack’s  you  belong, 

Like  monarchs  you  can  do  no  wrong; 

But  banished  thence  on  Wednesday  night, 

By  Jove  you  can  do  nothing  right. 

Almack’s  hielt  sich  bis  über  die  Mitte  des  19. 
Jahrhunderts  hinaus  und  hiess  dann  nach  dem  späteren 
Besitzer  auch  Willis ’s.  Noch  um  1850  zeichneten  sich 
die  dort  veranstalteten  Feste  durch  ihre  vornehme  Exclu- 

sivität  aus.  Seitdem  ging  der  Buf  dieses  altberühmten 
Etablissements  durch  „plebejische  Invasion“  immer  mehr 

zurück  und  hörte  schliesslich  im  Jahre  1863  auf  zu 
existiren.^) 

0  H.  B.  Wheatley  „London  Fast  and  Present“  Bd.  1 
S.  37—38. 

2)  „Almack’s“  hatte  schon  seit  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
auch  als  Concerthaus  gedient.  Hier  gaben  Mrs.  Billington, 
Mrs.  Br  ah  am  und  Signor  Naldi  xon  1803 — 1810  Concerte 
als  Rivalen  der  Catalani,  die  in  den  „Hanover  Square  Rooms“ 
sang.  Hier  ^veranstaltete  Charles  Kemble  1844  seine  be¬ 
rühmten  Shakesi^eare  -  Vorlesungen.  —  Vgl.  J.  Timbs 
„Curiosities  of  London“  S.  3. 


135 


Glänzender  noch  als  die  Bälle  von  „Almack’s“  waren 
die  weit  und  breit  berühmten  Maskeraden  der  Madame 
Cornelys  (Cornely)  oder  Cornelis,  der  „Kaiserin 
des  Geschmackes  und  der  Wollust“,^)  einer  der  merk¬ 
würdigsten  Abenteurerinnen  des  18.  Jahrhunderts. 

Madame  Cornelys,  wie  sie  sich  in  London  nannte, 
hiess  ursprünglich  Teresa  Im  er,  stammte  aus  Deutsch- 
Tirol  und  war  die  Tochter  des  Schauspielers  Im  er,  dessen 
Truppe  in  Italien  im  ersten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts 
Theater- Aufführungen  veranstaltete.  Teresa  war  eine 
blendende  Schönheit  und  knüpfte  schon  früh  Beziehungen 
zu  den  vornehmen  Lebemännern  Italiens,  z.  B.  dem  vene- 
tianischen  Senator  Malipieri  an,  in  dessen  Hause 
Casanova  sie  im  Jahre  1740  kennen  lernte.  Wie  wissen 
aus  des  Letzteren  „Memoiren“,  dass  sie  zeitweilig  seine 
Geliebte  war  und  dass  er  ihren  1746  geborenen  Sohn 
adoptirte,  den  er  ihr  nach  ihrer  üebersiedelung  nach 
London  im  Jahre  1763  zuführte. 

Das  anschaulichste  Bild  von  dem  Wesen  und  Treiben 
der  Cornelys  gewinnen  wir,  wenn  wir  uns  mit  den 
Schilderungen  einiger  Zeitgenossen  bekannt  machen. 

Archen  hol  tz  berichtet:  „Eine  Deutsch-Tirolerin,  von 
niederer  Herkunft,  verstand  sich  in  London  emporzuscbwin- 
gen  durch  Concerte,  die  sie,  obgleich  sie  eine  mittelmässige 
Sängerin  war,  gab.  —  Nach  Bekanntschaft  mit  vornehmen 


y  „Serails  de  Londres“  S.  215. 

2)  Vgl.  Victor  Ottmann,  „Jakob  Casanova  von  Seingalt* 
Sein  Leben  und  seine  Werke“.  Stuttgart  1900.  S.  19— 20;  22 — 
23;  62;  76. 


136 


Damen,  mietete  sie  ein  sehr  grosses  und  schönes  Haus^), 
und  Hess  es  fürstlich  möbliren.  Die  Vergnügungen  in 
demselben  bestanden  in  Konzerten,  Bällen  und  Maskeraden. 
Niemand  als  Subscribenten  wurden  dazu  gelassen,  und  diese 
mussten  erst  von  einer  der  präsidirenden  Damen  eine  schrift¬ 
liche  Einwilligung  bringen ;  sodann  durften  sie  aber  nicht 
weniger  als  12  Billets  nehmen,  die  anfangs  nur  6  Guineen 
kosteten,  aber  endlich  bis  auf  9  erhöht  wurden.  Im  ersten 
Jahr  hatte  sie  schon  2700  Subscribenten.  Der  Stiftungs¬ 
tag  des  Instituts  wurde  alljährlich  durch  eine  Maskerade 
gefeiert,  wozu  jedermann  ohne  Unterschied  den  Zutritt 
hatte.  Das  Billet  kostete  alsdann  2  Guineen,  wofür  aber 
auch  um  2  Uhr  nach  Mitternacht  eine  herrliche  Nacht¬ 
mahlzeit  gegeben  wurde.  Ich  weiss  von  ihr  selbst,  dass 
an  solchen  Tagen  mehr  als  einmal  8000  dergleichen  Billets 
verkauft  worden  sind. 

Keines  dieser  Feste  war  dem  andern  gleich,  denn  hier 
zeigte  sich  das  erfindungsreiche  Genie  dieser  Frau  auf  eine 
bewunderungswürdige  Weise.  Man  sah  hier  illuminirte 
Säulengänge  und  Triumphbogen,  Säle  in  Gärten  verwandelt, 
mit  Orangerien  und  Springbrunnen  gezierte,  labyrinthische 
Blumenbeete,  transparente  Gemälde  und  Inschriften,  Treppen 
und  Zugänge  mit  farbigen  Lampen  in  Pyramidal-  und 
andern  Formen  gestellt,  und  mit  Guirlanden  festonartig 
geschmückt;  amphitheatralisch  gestellte  Esstafeln,  die  einen 
so  sonderbaren  als  schönen  Anblick  gewährten ;  eine  Reihe 


H  Dieses  Haus  hiess  „Carlisle  House“  und  lag  am  Soho 
Square  in  der  jetzigen  Greek  Street.  Vgl.  Henry  Sampson 
„A  History  of  Advertising“,  London  1874.  S.  483  —  484  und 
Jouy  „L’hermite  de  Londres“,  Bd,  I,  S.  6. 


137 


von  Zimmern,  deren  jedes  vollkommen  nach  dem  Costüm 
eines  orientalischen  Volkes  aufs  prächtigste  möblirt  war; 
persianisch,  indisch,  chinesisch  u.  s.  w.;  hei  allen  diesem 
herrschte  eine  Ordnung,  die  den  Glanz  der  Feste  noch 
mehr  erhöhte.  Am  Stiftungstage  brannten  in  den  Sälen 
und  Zimmern  gewöhnlich  9000  Wachskerzen,  und  auch 
diese  mussten  durch  mannigfaltige  Stellungen  und  Figuren 
das  Auge  ergötzen. 

Die  Cornelys  war  nicht  geldgierig,  steckte  immer  in 
Schulden  und  musste  nach  jedem  Feste  zuletzt  ins  Gefängnis, 
bis  schliesslich  die  Vergnügungen  ein  Ende  nahmen  und 
sie,  die  man  die  „Kaiserin  des  Geschmacks“  genannt  hatte, 
von  Wohlthaten  ihrer  Freunde  lebte“  i). 

Casanova  entwirft  in  seinen  Memoiren  keine  sehr 
günstige  Schilderung  von  seiner  ehemaligen  Geliebten. 
Dieselbe  erscheint  vielmehr  als  eine  kalte ,  gefühllose 
Spekulantin.  Man  erzählte  ihm,  dass  die  Cornelys  drei 
Sekretäre,  zweiunddreissig  Dienstboten,  sechs  Pferde,  eine 
Meute  und  eine  Gesellschaftsdame  habe.  Casanova 
machte  einen  der  grossen  Bälle  bei  der  Cornelys  mit, 
dem  u.  a.  auch  der  Erbprinz  Karl  Wilhelm  Ferdinand 
von  Braunschweig  beiwohnte.  Aber  „die  ganze  grosse 
Gesellschaft  schien  mir  kalt  und  steif“  ^). 

Jedenfalls  musste  ein  fashionabler  Gentleman  ab¬ 
wechselnd  zu  Almack’s  und  zur  Cornelys  gehen ^),  und 
selbst  Sterne  versäumte  dies  nicht  und  besorgte  auch  für 


1)  Archenholtz  „England“  Bd.  II,  S.  206 — 211. 

2)  Casanova ’s  Memoiren  Bd.  XV,  S,  91,  S.  108 — 109. 

3)  W.  Wroth  und  A.  E.  Wroth  „The  London  Pleasure 
Gardens  of  the  eigliteenth  Century“.  London  1896.  S.  27. 


138 


seine  Freunde  Eintrittskarten^).  Auch  Tobias  Smollett 
scheint  die  Maskeraden  der  Cornelys  aus  eigener  An¬ 
schauung  gekannt  zu  haben.  Im  „Humphrey  Clinker“ 
beschreibt  Lydia  Melford  der  Freundin  Londons  Herrlich¬ 
keiten,  Ranelagh  und  Vauxhall  und  die  glänzenden  Ge¬ 
sellschaften  der  Cornelys.  „Ich  bin  in  der  Gesellschaft 
bei  Mss.  Cornelys  gewesen.  Räume,  Teilnehmer,  Kostüme 
und  Dekorationen  spotten  jeder  Beschreibung.  Da  ich  aber 
keine  Neigung  zum  Kartenspielen  habe,  habe  ich  den  „Geist“ 
des  Hauses  nicht  richtig  kennen  gelernt“  ^).  Aus  letzterem 
Grunde  mochte  auch  wohl  Henry  Fielding’s  Bruder> 
der  Friedensrichter  Sir  John  Fielding  urteilen,  dass  die 
Londoner  die  Maskeraden  am  Soho  Square  nicht  nötig 
hätten,  so  lange  sie  Ranelagh  mit  seiner  Musik  und  Feuer¬ 
werken  und  Marybone  Gardens  mit  den  Konzerten,  Wein 
und  Plumpudding  geniessen  könnten^).  Deshalb  sah  sich 
wohl  die  spekulative  Abenteurerin  veranlasst,  zur  Verstärkung 
der  Anziehungskraft  ihrer  Soireen ,  dieselben  zeitweilig 
in  einen  jener  grossen  Vergnügungsgärten  zu  verlegen. 
So  veranstaltete  sie  am  23.  Juni  1775  einen  wunderbaren 
„Regatta-Ball“  in  Ranelagh,  zu  dem  die  Künstler  Cipriani 
und  Bartolozzi  die  einen  Neptun  auf  dem  Meere  mit 
Nereiden,  Najaden  und  Tritonen  darstellende  Eintritts¬ 
karte  gezeichnet  hatten,^)  während  die  Cornelys  allein 
700  Guineen  für  das  Abendessen  empfangen  hatte,  das 


Fitzgerald,  „Life  of  George  IV“.  Bd.  II,  S.  52. 

2)  F.  Smollet,  „Humphrey  Clinker“,  London  1796,  ßd.  I,. 

S.  136. 

W.  und  A.  E.  Wroth,  „The  London  Pleasure  Gardens“, 

S.  96. 

0  Siehe  die  Abbildung  derselben  bei  W.  u.  A.  E,  Wroth 
a.  a.  0.  S.  214. 


139 


indessen  recht  dürftig  ausfiel.  Dem  Feste,  das  in  einem 
glänzenden  Balle  im  Neptuntempel  von  Eanelagh  seinen 
Mittelpunkt  hatte,  wohnte  u.  A.  die  Herzoge  von  Gloucester 
und  Northumberland,  die  Herzogin  von  Devonshire, 
Lord  North,  Sir  Joshua  Reynolds,  die  Schauspieler 
Garrick,  Colman  und  Samuel  Foote  bei.  Eine 
Musikkapelle  von  240  Personen,  unter  Leitung  von  Giardini 
spielte  in  der  Rotunde,  während  Vernon  und  Reinhold 
die  Gesellschaft  mit  dem  Vortrage  von  Liedern  ergötzten, 
darunter  mit  den  auf  die  Scenerie  bezüglichen  Versen: 
Ye  lords  and  ye  ladies  who  form  this  gay  throng, 
Be  silent  a  moment,  attend  to  our  song. 

And  while  you  suspend  3mur  fantastical  round, 
Come,  bless  your  sweet  stars  that  your’re  none  of 
you  drowned.^) 

Die  Soho-Maskeraden  blieben  etwa  20  Jahre  en  vogue, 
während  welcher  die  Cornelys  wiederholt  ins  Schuld¬ 
gefängnis  wandern  musste,  um  endlich  nach  einem  totalen 
Bankrott  für  immer  von  der  Bildfläche  zu  verschwinden. 
Das  berühmte  Haus  am  Soho  Square  Nr.  20  und  21 
existirt  noch,  sogar  mit  einigen  Resten  seiner  einstigen 
Herrlichkeit  in  der  inneren  Einrichtung.  Es  beherbergt 
aber  jetzt  die  auf  ihrem  Gebiete  ebenfalls  berühmte  — - 
„Pickles“-Firma  Crosse  &  Blackw eil I’'^) 

Das  im  „Humphrey  Clinker“  als  besondere  Attraction 
der  Cornelys  erwähnte  Pharaospiel  gehörte  zu  den  un- 


y  Wroth  a.  a.  0.  S.  213 — 214. 

y  Eine  sehr  anschauliche  Schilderung  eines  Maskenballes 
unter  Georg  IV.  giebt  Adrian  „Skizzen  aus  England“  Frank¬ 
furt  a.  M.  1830  Bd.  I  S.  82 — 124 ;  ferner  Pie  ree  Egan  in  seinem 
„Life  in  London“  ed.  Hotten,  London  1900  S.  230 — 250  mit 
dem  „Maskeraden-Liede“  S.  240 — 242. 


140 


umgänglichen  fashionablen  Vergnügungen  der  vornehmen 
englischen  Gesellschaft  des  18.  Jahrhunderts  und  fand 
besonders  in  den  Kreisen  der  feineren  Demimonde  leiden¬ 
schaftliche  Liebhaberinnen.  Einen  Begriff  von  der  geradezu 
ungeheuerlichen  Verbreitung  dieses  Lasters  unter  der 
Damenwelt  bekommt  man  am  besten  aus  George  Selwyn’s 
Briefwechsel,  der  lebhafte  Schilderungen  dieser  Art  ent¬ 
hält.^)  Dies  wird  durch  die  Darstellung  in  „Casanova’s 
Memoiren  bestätigt. 

Ueberhaupt  können  sich  die  vornehmen  eng¬ 
lischen  Courtisan  en  des  18.  Jahrhunderts  in  jeder 
Beziehung  mit  den  französischen  Maitressen  vergleichen, 
nach  denen  sie  sich  ohne  Zweifel  gebildet  hatten.  Der¬ 
selbe  Geist,  dieselbe  Eleganz  und  Üppigkeit,  aber  auch 
bisweilen  dasselbe  Kaffinement.  Die  Genusssucht  hat  auch 
die  weibliche  Welt  nicht  minder  als  die  männliche  er¬ 
griffen.  Lady  Mary  Wortley  Montagu  schreibt  in 
einem  ihrer  Briefe:  „Ich  bedauere  den  Verfall  des  Ehe¬ 
standes,  welcher  von  unseren  jungen  Mädchen  gegenwärtig 
so  sehr  verspottet  wird,  wie  dies  sonst  von  seiten  der  jungen 
Herren  gebräuchlich  war.  Beide  Geschlechter  haben  die 
Unbequemlichkeiten  desselben  erkannt,  und  die  Benennung 
Wüstling  schmückt  jetzt  nicht  weniger  eine  junge  Frau 
als  einen  jungen  Mann  vom  Stande.  Es  erregt  gar  keinen 
Anstoss  zu  sagen:  Miss  So  und  So,  das  Hoffräulein,  hat 
ihre  Entbindung  glücklich  überstanden“  ^). 

Die  geistvollste  dieser  englischen  Hetären,  das  Pro¬ 
totyp  der  ganzen  Gattung,  war  ohne  Zweifel  die  schöne 

1)  A’gl.  E.  J.  Roscoe  und  Helen  Clergue,  „George  Selwyn, 
his  Leiters  and  his  Life“,  London  1899,  S.  18. 

2)  Citirt  nach  Johannes  Scherr,  „Geschichte  der  eng¬ 
lischen  Litteratur“.  2.  Aufl.  Leipzig  1874,  S.  125. 


141 


Schauspielerin  Miss  Anna  Bell  am  y,  deren  Haus  ein 
„Bureau  d’Esprit,  ein  Sammelplatz  von  allen  vornehmen 
und  gelehrten  Männern  und  selbst  Damen  vom  ersten 
Rang“  war,  i)  wie  sie  denn  auch  in  der  Geschichte  der 
Fraueuemancipation  eine  rühmliche  Erwähnung  verdient^). 
Anderseits  war  sie  eines  der  galantesten  und  unzüchtigsten 
Mädchen  ihres  Zeitalters.  Sie  wurde  als  uneheliche  Tochter 
des  Lord  Tyrawley,  eines  alten  Roue,  im  Jahre  1731 
geboren,  wurde  Schauspielerin  am  Covent  Garden  Theater 
und  starb  1788,  nachdem  sie  vorher  noch  ihre  mit  Recht 
berühmten  „Memoiren“  verfasst  hatte  ^). 

Archenholtz  entwirft  die  folgende  Schilderung  von 
der  B  eil  a my : 

„Ein  Frauenzimmer  dieser  Art  (vornehme  Hetäre) 
war  die  vor  dreissig  Jahren  auf  den  Londoner  Theatern 
glänzende  Schauspielerin  Bellamy,  die  kürzlich  ihr  merk¬ 
würdiges  und  lehrreiches  Leben  selbst  beschrieben  hat, 
und  noch  lebt.  Sie  war  zwar  nicht  ganz  eine  Aspasia;, 
allein  vielleicht  mehr  wie  eine  Maintenon.  Ihre  Schönheit, 
ihr  Witz,  ihr  grosser  Verstand,  ihre  Talente,  ihre  gross- 
mütige  Denkungsart  und  feinen  Sitten  rissen  alles  an 
sich,  was  sich  ihr  nur  näherte.  Ihr  Haus  war  der  Sammel¬ 
platz  grosser  und  verdienstvoller  Männer  in  allen  Fächern., 
Sie  war  eine  vertraute  Freundin  von  Young,  Thomson, 
Littleton,  Garrick  und  Chesterfield.  Staatsminister, 

L  „Die  Geschlechtsausschweifungen  unter  den  Völkern  der 
alten  und  neuen  Welt  u.  s.  w.“.  Neue  Auflage  o.  0.  u.  J. 
S.  137. 

2)  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes,  S.  76  und  S.  104 — 105. 

3)  Vgl.  P.  Fitzgerald,  „The  Roinance  of  the  Englisch 
Stage‘‘,  London  1874,  Bd.  T,  S.  106;  Archenholtz,  „Annalen‘‘ 
Bd.  I,  S.  402;  Walter  Thornbury  „Haunted  London“  ed.. 
Walford,  London  1880  S.  317 — 318. 


142 


Generale  und  Gesandten  besuchten  sie  tägdich  und  nahmen 
an  ihrer  Tafel  Platz,  wo  der  Geist  so  reichliche  Nahrung 
fand,  und  wo  die  auserlesensten  Speisen  und  sinnreichen 
Gespräche  beständig  die  gesellschaftlichen  Vergnügungen 
verfeinerten.  Sie  nahm  thätigen  Antheil,  sowohl  an 
Promotionen  und  Gnadenbezeugungen  des  Hofes  als  an 
Parlaments  wählen.  Zwar  war  sie  bei  vielen  weiblichen 
Tugenden  kein  Muster  der  Sittlichkeit;  denn  sie  hatte 
immer  einen  begünstigten  Liebhaber,  mit  dem  sie  lebte. 
Allein  so  gross  war  die  Macht  ihrer  ausserordentlichen 
Vorzüge,  und  ihrer  so  oft  erprobten  höchst  edlen  Sinnesart, 
dass  selbst  Damen  vom  ersten  Bange  und  von  strenger 
Tugend,  nicht  allein  mit  diesem  liebenswürdigen  Frauen¬ 
zimmer  vertraut  umgingen,  sondern  auch  ihren  Töchtern 
diesen  Umgang  zur  Bildung  ihres  Verstandes  und  Herzens 
gestatteten“  i). 

In  ihren  Memoiren  hat  dieBellamy  sich  selbst 
sehr  treu  und  wahr  geschildert.  Man  fühlt  sich  an  den 
Geist  von  SchlegePs  „Lucinde“  erinnert,  wenn  man 
Stellen  wie  die  folgende  liest,  bei  welcher  die  Verfasserin 
ihre  glühend  erotische,  aber  dabei  auch  für  geistige  Ge¬ 
nüsse  höchster  Art  empfängliche  Natur  offenbart:  „Cette 
soiree  que  je  passai  avec  mylord,  fut  delicieuse:  la  nuit 

^')  Archenholtz  „England*^  Bd.  II,  S.  255 — 256. 

2)  Am  häufigsten  ist  die  auch  von  mir  benutzte  französische 
Übersetzung „Memoires  de  miss  George  Anne  Bellamy, actrice 
du  theätre  de  Coyent-Garden“,  trad.  de  Panglais,  par  Benoist 
et  Delamarre,  Paris  an  VII  (1799),  2  Bände  —  Neuausgabe 
mit  biographischer  Notiz  von  Thiers,  Paris  1824,  2  Bände.  — 
Als  Ergänzung  dazu:  „An  apology  for  tlie  life  of  George 
Anne  Bellamy,  actress,  with  her  letters  to  S.  Calcraft, 
esq.“  London  1785,  5  Bände.  — Vgl.  die  Analyse  der  „Memoiren“ 
bei  Fit  z  g  eral  d  „Romance  of  Englisch  Stage“  Bd.I.  S.  104— 105. 


143 


qui  lui  succMa  fat  un  voluptueux  delire.  Dans  un  esprit 
sensible  aux  charmes  de  la  litterature,  une  conversation 
savante  donne  toujours  une  espece  d’extase;  comme  Circe, 
eile  desemprisonne  räme,  et  la  transporte  dans  les  Champs- 
Elysees“^). 

Es  ist  von  grossem  psychologischem  Interesse,  dass 
diese  vielliehende  und  vielgeliebte  Frau,  die  sogar  mit  dem 
berühmten  Fox  ein  Liebesverhältnis  hatte ^),  am  Ende 
auch  zu  der  Erkenntniss  kam,  die  keinem  Lebemann 
oder  galanten  Frau  erspart  bleibt:  „Les  jouissances  que 
la  vie  offre  ä  nos  sens,  ä  de  grands  intervalles,  sont  souvent 
perfides,  presque  toujours  equivoques  et  jamais  durables; 
mais  les  peines  sont  süres,  elles  semblent  plus 
s’identifir  avec  notre  exist en ce“ ^).  Es  ist  schade, 
dass  dem  grossen  Philosophen  des  Pessimismus,  der  un¬ 
zählige  Aussprüche  dieser  Art  anführt,  dieses  durch  Her¬ 
kunft  aus  solchem  Munde  doppelt  bemerkenswerte  Beispiel 
entgangen  ist. 

Neben  der  Bellamy  gelten  Kitty  Fisher  und 
Fanny  Murray  als  die  vollendetsten  Hetären  ihrer  Zeit, 
die  man  vielfach  in  Schriften  jener  Zeit  zusammen  erwähnt 
findet^),  die  als  ausserordentliche  Schönheiten  von  den  her- 


Miss  Bellamy  „Me'moires“  Bd.  IS.  161. 

2)  „Memoires“  Bd.  I  S.  260  u.  ö. 

3)  ibidem  Bd.  11.  S.  27 — 28. 

Z.  B.  in  einer  1785  in  Genf  erschienenen  Schrift  „Les 

Amours  et  les  aventures  du  lord  Fox“,  wo  am  Schlüsse  die 
folgende  bemerkenswerte  Reflexion  vorkommt:  „Les  femmes 
qui,  dans  des  siecles  plus  recule's,  ont  fait  commerce  de  leur 
vertu,  peuvent-elles  se  comparer  ä  celles  de  nos  jours?  Les 
Flora,  les  Lais,  etc.  ont  ve'cu  dans  l’eclat  et  la  magnificence; 
encore  laisserent-elles  apres  leur  mort  d’immenses  richesses. 
Flora,  en  mourant,  a  le'gue  au  Se'nat  de  Rome  une  somme 


144 


vorragendsten  Zeitgenossen  gefeiert  wurden  und  an  Geist, 
verwegener  Galanterie  und  Luxus  miteinander  wetteiferten. 

Von  Kitty  Fisher  berichtet  Arche nholtz:  „Eines 
von  diesen  Mädchen,  Namens  Miss  Fisher,  die  vor  25 
Jahren  glänzte,  machte  sich  durch  die  eigene  Art,  womit 
sie  der  Venus  opferte,  berühmt.  Von  der  Natur  in  hohem 
Grade  mit  Schönheit,  Verstand,  Witz  und  Munterkeit  begabt, 
war  sie  ein  Gegenstand  der  Verehrung  und  der  Begierden 
aller  derer,  die  den  Hain  von  Amathunt  allen  andern 
Lebensfreuden  vorzogen.  Die  Priesterin  kannte  ihren 
Wert  und  setzte  daher  die  Gunstbezeugungen  einer  Nacht 
auf  100  Guineen  fest;  dennoch  fehlte  es  ihr  nicht  an 
Verehrern,  die  durch  die  Grösse  der  Summe  nicht  ab¬ 
geschreckt  wurden.  Der  verstorbene  Herzog  von  York, 
Bruder  des  jetzigen  Königs,  trat  auch  in  die  Reihe  derselben. 
Nach  einer  mit  ihr  durchwachten  Nacht,  gab  er  ihr  eine 
Banknote  von  50  Pfund  Sterling,  weil  er  nicht  mehr  bei 
sich  hatte.  Miss  Fisher,  beleidigt,  verbat  sich  alle 
ferneren  Besuche  von  ihm,  und,  um  ihre  Verachtung  für 
ein  Geschenk  landkundig  zu  machen,  schickte  sie  die 
Banknote  (die,  wie  bekannt,  von  ganz  ausnehmend  dünnem 
Papier  sind)  sogleich  zu  einem  Pastetenbäcker,  der  sie 
in  eine  Pastete  thun  musste,  und  verzehrte  sie  sodann 
beim  Frühstücke.“^)  Diese  in  etwas  an  die  Geschichte 
von  der  Perle  der  Kleopatra  erinnernde  Anekdote^) 

considerable  pour  l’iDstitution  d’une  fete  annuelle  sous  le  nom 
de  Jeux  Floraux,  En  Angleterre,  une  contemporaine  de 
Fanny  Murray  et  de  Kitty  Fisher  devint  assez  riche  ,pour 
se  donner  30000  livres  st.  de  reute.“ 

Archen  ho  Itz  „England“  Bd.  II  S.  251  —  252. 

2)  Deshalb  hat  auch  wohl  Reynolds  sie  als  „Kleopatra‘‘ 
gemalt.  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes  S.  60. 


145 


entspricht  ganz  den  übrigen  Berichten  über  den  ungemessenen 
Stolz  dieser  „Flora  von  London“,  wie  man  Kitty  Fisher 
auch  nannte.  Sie  suchte  ihre  Liebhaber  nur  unter 
Männern  vornehmsten  Standes,  wie  dies  gelegentlich  einer 
Erkrankung  besonders  zu  Tage  kam,  indem  sich  nicht 
weniger  als  sechs  Mitglieder  des  Hauses  der  Lords  in  die 
Liste  der  theilnehmenden  Besucher  eintrugen.  In  ihrem 
äusseren  Auftreten  suchte  sie  durch  Luxus  und  Ver¬ 
schwendungssucht  die  adlige  Gesellschaft  noch  zu  über¬ 
treffen.  Sie  verschaffte  sich  z.  B.  zu  dem  enormen  Preise 
von  20  Guineen  ein  einziges  Mal  das  Vergnügen,  im 
Winter  frische  Erdbeeren  zu  essen.  Auch  Hess  sie  sich 
eines  Tages,  zum  Erstaunen  des  Publikums,  in  ihrer 
Theaterloge  während  der  Vorstellung  Thee  serviren.  Kurz 
sie  hatte  Anlagen  zu  einer  englischen  Dubarry.^) 

Fanny  Murray,  f  1770,  war  die  Tochter  eines 
Musikers  in  Bath;  sie  war  vermählt  mit  einem  Mr.  Ross. 
Ihre  Ruhmeszeit  fällt  in  die  Jahre  1735—1745.  Horace 
Walpole  erwähnt  sie  in  einem  Briefe  an  Conway  im 
Jahre  1746  als  eine  „berühmte  Schönheit“.  Sie  war  u.  a. 
die  Geliebte  von  John  Spencer  und  Beau  Nash.  In 
einer  sehr  fragwürdigen  Weise  wmrde  ihr  Name  verewigt 
durch  die  Rolle,  welche  der  bekannte  politische  Agitator 
und  Schriftsteller  John  Wilkes  sie  in  seiner  obscönen 
Satire  „An  Essay  on  Woman“  spielen  lässt,  indem  er  ihr 
nicht  nur  diese  Schrift  widmete,  sondern  sie  auch  in 
geschlechtlicher  Thätigkeit  darin  darstellt. 

0  „Tableau  descriptif,  moral,  philosopbique  et  critique 
de  Londres  en  1816“,  Paris  1817,  Bd.  I  S.  118. 

Vgl.  „Wilkes  and  the  Essay  on  AVoinan“  in:  Notes  and 
Queries  Series  No.  79,  July  4,  1857,  S.  1,  No.  80,  July  11, 
S.  21  und  No.  81,  July  18,  185  u.  S.  41.  —  Eine  deutsche 

10 


146 


Die  Eolle,  welche  KittyFisher  und  F  a  n  n  y  M  u  r  r  a  y 
in  der  vornehmen  englischen  Gesellschaft  um  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  spielten,  beleuchtet  in  drastischer 
Weise  eine  Anekdote  aus  dem  Leben  des  Lordkanzlers 
Hardwicke.  Dieser  durchstreifte  eines  Tages  die 
Nachbarschaft  von  Wimpole  und  sah  ein  sehr  elegantes 
Landhaus,  das  seine  Aufmerksamkeit  in  einem  solchen 
Grade  erregte,  dass  er  den  Eigentümer,  Mr.  Montagu, 
Bruder  des  Lord  Sandwich,  um  eine  Besichtigung  bat. 
Der  Besitzer  führte  ihn  selbst  durch  die  herrlich  ausgestatteten 
Räume,  die  eine  Menge  von  schönen  Gemälden  enthielten, 
die  aber  dem  sehr  wenig  kunstverständigen  Lord  weder 
ihrem  Inhalt  noch  ihrem  künstlerischen  Wert  nach  bekannt 
waren.  Zuletzt  zeigte  Mr.  Montagu  auf  zwei  weibliche 
Porträts,  auf  denen  die  Schönen  mit  all  ihren  natürlichen 
Reizen  dargestellt  waren  und  bemerkte:  „Diese  Damen 
müssen  Sie  ohne  Zweifel  kennen  und  erkennen,  denn  es 
sind  sehr  treue  Porträts.“  Als  der  Lord  wieder  seine 
Unkenntnis  bekannte,  sagte  Montagu:  „Wie,  wo  und 
in  welcher  Gesellschaft  haben  Sie  denn  gelebt,  dass  Sie 
nicht  einmalFanny  Murray  undKitty  Fisher  kennen?“^) 

Noch  mehrere  andere  durch  Geist  und  Schönheit 
ausgezeichnete  Courtisanen  glänzten  in  der  vornehmen 
Gesellschaft  des  18.  Jahrhunderts,  so  z.  B.  die  auch  in 
den  „Serails  de  Londres“  und  in  anderen  Hetären -Ver¬ 
zeichnissen  öfter  erwähnte  Lucy  Cooper,  ferner  die 
Mrs.  Harriet  Errington,  welche  ihre  zahlreichen  meist 


Schrift  „Geschichte  der  berühmten  Miss  Fanny  Murray“.  Aus 
dem  Englischen,  Nürnberg  1780,  war  mir  nicht  zugänglich; 
ebensowenig  das  englische  Original. 

„Notes  and  Queries.  Series“.  1857.  No.  79,  S.  1. 


147 


•dem  Soldatenstand  angeliörenden  Geliebten  nait  dena  Ge¬ 
schenke  ihrer  Locke  zu  beglücken  pflegte/)  Miss  Pars o ns, 
die  Geliebte  des  Herzogs  von  Grafton. 

Fast  immer  versammelten  diese  Priesterinnen  der 
Yenus  ausser  ihrem  sie  aushaltenden  Galan  eine  grosse 
Schaar  von  Anbetern  um  sich,  die  manchmal  in  ernster 
nachhaltiger  Liebe  zu  ihnen  erglühten  und  von  der 
Eifersucht  zu  so  verzweifelten  Schritten  getrieben  wurden, 
wie  wir  dafür  in  Miss  Ray’s  Ermordung  durch  den 
Prediger  Hackman  ein  so  tragisches  Beispiel  haben, 
welches  nähere  Erwähnung  verdient. 

James  Hackman,  Sohn  eines  Officiers  und  zuerst 
■ebenfalls  Officier,  später  Prediger,  lernte  bei  einer  Gesell- 
■schaft  in  Lord  Sandwich’s  Haus  in  Minchinbroke  Miss 
Martha  Ray  kennen,  die  Tochter  eines  Handwerkers 
in  Holywell  Street  in  London.  Sie  war  mit  18  Jahren 
die  Maitresse  von  John  Montag u,  viertem  Earl  of 
Band  wich  geworden,  von  dem  sie  dann  mehrere  Kinder 
hatte.  Sie  war  ein  ungewöhnlich  liebliches  Mädchen, 
•welches  alle  Welt  bezauberte,  durch  ihre  Schönheit  und 


Vergl.  „The  Memoirs  of  Mrs.  Harriet  Er-g-n,  containing 
■her  amours,  intrigues  and  tete-ä-tetes,  with  the  colonel  M-n^ 
■colonel  T-l-n,  captain  Sm-th  etc.“  London  1780 — 90,  Auf  dem 
Titelbild  ist  die  Heldin  dargestellt,  wie  sie  die  Scheere  hält, 
mit  der  sie  soeben  ihre  auf  einem  Stück  Papier  liegenden  Haare 
für  ihre  Galans  abgeschnitten  hat, 

2)  Memoirs  of  the  amours,  intrigues  and  adventures  of 
-Charles  August  du  Fitz-Roy,  duke  of  Grafton,  with  miss 
Parsons“.  London  1769;  auch  unter  dem  Titel:  „Intrigues  ä 
la  mode.  Biographical  memoirs  of  the  Duke  of  Grafton 
including  some  particulars  in  the  life  of  the  celebrated  misg 
Anna  Bella  Parsons“  London  o.  J.  mit  colorirtem  Porträt 
■der  Parsons. 


10* 


]48 


ihre  herrliche  Stimme,  welche  durch  Giardini  für  die 
Bühue  ausgebildet  worden  war.  Hack  man  verliebte 
sich  sofort  leidenschaftlich  in  dieses  aussergewöhnlich  an¬ 
ziehende  Mädchen  und  verfolgte  sie  mehrere  Jahre  un¬ 
aufhörlich  mit  Heiratsanträgen,  die  aber  von  ihr  zurück¬ 
gewiesen  wurden.  Zuletzt  schoss  er  ihr,  als  sie  am  7. 
April  1779,  nach  der  Vorstellung  von  „Love  in  a  Village“ 
das  Covent  Garden-Theater  verliess,  in  einem  Anfalle  von 
jäher  Eifersucht  eine  Kugel  durch  den  Kopf,  die  sie  auf 
der  Stelle  tötete,  und  richtete  dann  die  Pistole  gegen  sich 
selbst,  ohne  sich  jedoch  ernstlich  zu  verletzen.  Die  Sache 
machte  das  allergrösste  Aufsehen.  Der  Bericht  darüber 
erschien  schon  am  folgenden  Tage  in  allen  Zeitungen 
Londons.  Ebenso  schnell  erfolgle  die  Sühne,  indem 
Hackman  am  19.  April  1779,  27  Jahre  alt,  am  Galgen 
von  Tyburn  endete.  Miss  Ray  war  34  Jahre  alt  gewesen.^) 

Auch  die  englische  T  h  e  a  t  e  r  w  e  It  stellte  ihr  Contingent 
zum  Hetärenthum  des  18.  Jahrhunderts,  und  die  Theater¬ 
damen  erlaubten  sich  in  sexueller  Hinsicht  die  grössten 
Freiheiten,  die  in  den  kleinen  Städten  und  bei  den  auf 
dem  Lande  von  Ort  zu  Ort  wandernden  Schauspielertruppen 


1)  Vgl.  „Dictionary  of  National  Biography“  ed.  Stephen  u. 
Lee,  London  1890,  Bd.  10,8.422—423;  J.  B.  Jess  e„George  Selwya 
and  bis  contein[)oraries“,  London  1882,  Bd.  IV  S.  59 — 65  (mit. 
Bildnis  der  Ray  von  Dance  auf  S.  59).  —  Boswell  beschreibt 
im  Leben  Johnson’s  die  Hinrichtung  Hackman’ s,  den  er 
nach  Tyburn  begleitete.  —  Einen  lictiven  Briefwechsel  zwischen 
Hackman  und  Miss  Ray  veröffentlichte  1780  Sir  Herbert 
Croft  unter  dem  Titel:  ,,Love  and  Madness  —  a  story  too 
true;  in  a  Series  of  Letters,  between  parties  whose  names  would 
perhaps  be  mentioned  were  they  less  known  or  less  lameuted'L 
London  1780,  8^. 


149 


sich  bis  zur  wirklichen,  schamlosen  Prostitution  steigerte^). 

Von  der  berühmten  Sängerin  Mrs.  Billington  (Druiy 
Lane  und  Covent  Garden)  berichtet  der  Verfasser  von 
„London  und  Paris“:  „Selten  haben  sich  so  viele  Götter 
und  Göttinnen  zur  Verherrlichung  eines  einzigen  Weibes 
so  geschwisterlich  vereinigt  und  wechselseitig  die  Hand 
geboten,  als  bei  dieser  musikalischen  Pandora.  Apollo 
überschüttete  sie  mit  allen  Zaubermitteln  der  Tonkunst 
und  der  theatralischen  Declamation  im  überschwenglichen 
Maasse;  Bacchus  schälte  zehn  seiner  feistesten  Mänaden 
und  Faunessen  die  Irischen,  rundlichen  Conturen  ihrer 
Gliedmassen  ab,  und  knetete  sie  zu  einer  malerischen, 
mit  Rosen  gefütterten  Fleischniasse  für  seine  treue 
Dienerin;  die  Göttin  von  Cypern  schickte  ihr  zum  Lohn 
für  die  Wolken  von  Weihrauch,  den  die  gefällige  Priesterin 
ihr  schon  so  lange  auf  geheimen  Altären  angezündet  hatte 
(die  Billington  sah  königliche  Prinzen,  Herzöge  und 
Lords  an  ihrem  Triumphwagen  gespannt.  Als  sie  zuerst 
in  Dublin  ihre  Zaubernetze  ausspannte,  fing  sich  selbst 
der  Herzog  von  Rutland,  Vicekönig  von  Irland,  darin. 
Mit  dem  Manne,  dessen  Namen  sie  mit  ihrem  sächsischen 
Geburtsnamen  Weichsel  vertauschte,  hat  sie  sich  schon 
längst  zu  gegenseitiger  Toleranz  abgefunden.  „Her  obliging 
temper  cannot  resist  the  importunities  of  afflicted  swains“ 
sagt  der  Verfasser  der  geheimen  Theaterchronik:  „Secret 
History  of  the  Green  Room“,  London,  1795,  2  Bände, 
Bd.  H  S.  73,  wo  Liebhaber  auch  ihre  Rollen  in  den 
Gardinenscenen  verzeichnet  finden),  die  jüngste  ihrer 
Kammerzofen  und  Grazien  zu,  um  die  prallen,  wider- 


1)  Vgl.  darüber  „A  Secret  History  of  the  Green  Room“ 
(by  Hazzlewood)  London  1795  ßd.  I  S.  318. 


150 


spenstig  aufquellenden  Glieder  in  schmückende  Fesseln 
zu  legen,  Hals  und  Armgelenke  mit  orientalischen  Perlen¬ 
schnuren  und  Topasengehängen,  Finger  und  Hände  mit 
brillantenen  Ringen,  und  jeden  Überfluss  der  Taille  mit 
elastischen  Gürteln  zu  bändigen;  Minerva,  die  Schutzgöttin 
der  bildenden  Künste,  Hess  sie  von  hundert  Malern  und 
Kupferstechern  abkonterfeien.  (Ihr  Bild  war  während  des 
letzten  Winters  in  kleinen  und  grossen  Kupferstichen,  in 
Aquatinta  und  schwarzer  Kunst,  die  Lieblingin  in  den 
Londoner  Kupferstichläden,  wurde  in  zwei  Sammlungen 
ihrer  Favorit-Arien,  wovon  die  eine  selbst  den  lobenden 
Titel  Billington  führte  („The  Billington,  or  new  pocket 
harmonist  for  1802“)  als  Titelkupfer  vorgestochen  und 
erhielt  selbst  im  Pantheon -Geschmack,  in  der  Leipziger 
eleganten  Zeitung  eine  Nische).  Und  Merkur  endlich  führt 
ihr  den  Gott  des  Reichthums  ins  Haus,  den  Gott  Plutus, 
ohne  zu  besorgen,  dass  der  blinde  Gott  nicht  auch  noch 
im  Finstern  dies  ziemlich  fühlbare  Schätzchen  ertappen 

werde.  “B 
/ 

Auf  eine  sehr  bewegte  Laufbahn  blickte  eine  andere 
galante  Heldin  der  Bühne  zurück,  Mrs.  Abington  (Fanny 
Bar  ton).  Tochter  eines  Soldaten  war  sie  zuerst  Blumen¬ 
mädchen  (die  „Nosegay  Fan“),  hatte  viele  Liebschaften, 
die  zu  der  unausbleiblichen  venerischen  Infektion  führten, 
und  wurde  dann  von  der  Demimondäne  und  Kupplerin 


1)  Böttiger  „London  und  Paris“  Weimar  1805  Bd.  IX. 
S.  73 — 75.  Vgl.  auch  die  „Secret  History  of  the  Green  Room“ 
Bd.  II  S.  67  —  76,  wo  ihre  Liebschaft  mit  dem  Impresario  Da  ly 
geschildert  und  erzählt  wird,  wie  ihr  Gatte  sie  in  flagranti 
dabei  ertappte.  Ferner  wird  über  ihre  Liaisons  mit  dem 
Herzog  Yon  Rutland,  dem  alten  Mr.  Morgan  u.  A.  da¬ 
selbst  berichtet. 


151 


Sali  Parker,  die  in  Spring  Gardens  zu  jener  Zeit  ein 
fashionables  Bordell  hielt,  in  die  vornehme  Welt  einge¬ 
führt.  Hier  wurde  Miss  Bar  ton  die  Freundin  der  be¬ 
rüchtigten  Bordellbesitzerin  und  Courtisane  Charlotte 
Hayes  und  machte  sich  als  solche  wohl  bekannt  „at  the 
genteel  houses  about  Covent  Garden.“  Im  Jahre  1752 
trat  sie  zuerst  im  Haymarket-Theater  als  „Miranda“  in 
„The  Busy  Body“  auf,  mit  grossem  Erfolge,  verheiratete 
sich  mit  dem  Kapellmeister  Abington,  mit  dem  man 
sie  schon  vorher  im  zärtlichsten  tete-ä-tete  überrascht 
hatte.  Ein  sehr  tragikomischer  Zwischenfall  ereignete 
sich  an  ihrem  Hochzeitstage  oder  vielmehr  in  der  Hoch¬ 
zeitsnacht.  Kurz  vor  ihrer  Heirat  hatte  sie  eine  Liaison 
mit  einem  reichen  und  verschwenderischen  Kreolen  an¬ 
geknüpft.  Zufällig  kam  dieser  von  einer  Keise  gerade 
am  Hochzeitsabend  der  Abington  nach  London  zurück 
und  beschloss,  einige  glückliche  Stunden  mit  seiner  Ge¬ 
liebten  zu  verleben.  Um  Mitternacht  klopfte  er  an  ihre 
Thüre,  erhielt  aber  auf  seine  Frage  nach  Miss  Bar  ton 
von  dem  Dienstmädchen  den  Bescheid,  dass  diese  sich  in 
eine  Mrs.  Abington  verwandelt  habe  und  augenblicklich 
mit  ihrem  Gemahl  der  Ruhe  pflege.  Der  unglückliche 
Kreole  machte  einen  Höllenlärm  und  bestand  darauf,  die 
Treulose  zu  sprechen.  Sie  erschien  endlich,  notdürftig 
bekleidet,  versicherte  ihm,  dass  das  Dienstmädchen  ihm 
die  Wahrheit  gesagt  habe,  dass  sie  aber  nichtsdestoweniger 
ihn  fortan  jeden  Abend  besuchen  und  die  ganze  Nacht 
bei  ihm  bleiben  würde !  Er  aber  bedachte  sie  mit  einigen 
kraftvollen  Epitheta  und  verliess  sie  für  immer.  Ihr 
Gatte  musste  sich  schon  bald  von  ihr  trennen,  als  sie  in 
Irland  zwar  Lorbeeren  des  Ruhmes,  aber  noch  mehr  der 
Liebe  sammelte,  und  auch  durch  ihre  schamlose  Tracht, 


152 


indem  sie  den  Busen  völlig  entblösst  den  lüsternen  Blicken 
darbot,  unliebsames  Aufsehen  erregte.^) 

Wie  Mrs.  iVbington  war  auch  die  Schauspielerin 
Mrs.  Edwards  früher  eine  Prostituierte  in  einem  Covent- 
garden-Bordell  gewesen  und  von  dort  direkt  zur  Bühne 
übergegangen.*'^) 

Die  Schauspielerin  Mrs.  Williams  von  Drury  Lane 
war  eine  ständige  Besucherin  der  fashionablen  Freuden¬ 
häuser  in  Duke  und  Berkley  Street,  wo  ihre  Privatein¬ 
nahmen  sehr  beträchtliche  waren^),  Mrs.  Curtis,  ein 
sehr  „lasterhaftes“  Weib,  die  Schwester  der  berühmten 
Schauspielerin  Si  ddons,  hielt  in  Dr.  Gr  ah  am ’s  berüch¬ 
tigtem  „Tempel  der  Gesundheit“  Vorlesungen  über  gewisse 
Themata,  welche  zu  nennen  alle  „anständigen  Menschen 
erröten  müssen.“^)  Mrs.  HaiTowe  vom  Covent  Garden- 
Theater  war  durch  ihre  zahlreichen  Liebschaften  mit 
Greisen  verrufen,  litt  also  offenbar  an  dem  Zustande,  den 

1)  „Secret  History  of  the  Green  Room“  ßd.  I,  S.  41 — 58. 
Nach  Baker  war  Fanny  Abington  der  capriciöse  Quälgeist 
Garrick’s.  „Like  all  theatrical  managers  Garrick  was  a 
martyr  to  the  ladies  of  his  Company,  but  F an  n y  Ab  in gt  o  n 
was  the  greatest  plague  of  all,  the  most  capricious  and  unrea- 
sonable.  How  full  of  inischief  and  espiegierie  is  the  face 
that  still  peeps  at  you  out  of  Sir  Joshua’s  canvas;  it  is  Miss 
Pr u e  herseif,  just  as  C o n gr e t e  conceived  her.“  Die  Abing¬ 
ton  gehörte  zu  den  spielwütigsten  Damen  ihrer  Zeit  und 
verbrachte  oft  ganze  Nächte  am  Spieltische.  Trotz  ihres  durch 
Liebe  und  Spiel  aufgeregten  Lebens  erreichte  sie  das  hohe 
Alter  von  84  Jahren.  Vgl.  H.  Bar  ton  Baker  „Stories  of  the 
Streets  of  London“  London  1894,  S.  312 — 313;  Thornbury 
„Haunted  London“  S.  318. 

2)  ibidem  Bd.  I  S.  248. 

3)  ibidem  ßd.  I.  S.  353. 

4)  ibidem  Bd.  II.  S.  18. 


153 


V.  Krafft-Ebing  neuerdings  als  „Gerontopbilie“  be¬ 
zeichnet.^) 

Schon  dem  ersten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts,  der 
galanten  Zeit  der  Eegentschaft  und  Regierung  Georgs  IV, 
gehört  die  Schauspielerin  und  Courtisane  Harriet  Wilson 
an,  die  „englische  Ninon“,  die  bereits  mit  15  Jahren  die 
Maitresse  des  Lord  Craven  war,  seitdem  unzählige  Lieb¬ 
schaften  mit  hochgestellten  Persönlichkeiten  wie  z.  B.  mit 
dem  Herzog  von  Wellington ,  dem  Herzog  von  Argyle 
u.  A.  hatte  und  ihre  ausserordentlich  abwechslungsreiche 
Hetären-Laufbahn  in  ihren  berühmten  „Memoiren“  be¬ 
schrieben  hat,  die  ein  sehr  anschauliches  Bild  von  dem 
frivolen  Treiben  der  Lebewelt  unter  Georg  IV.  liefern.^) 

Unter  der  victorianischen  Aera  hat  die  früliere  sexuelle 
Freiheit  der  Schauspielerinnen  aufgehört,  welche  übrigens 
von  der  berühmtesten  Schauspielerin  des  18.  Jahrhunderts, 

9  ibidem  Bd.  II.  S.  262 — 264. 

9  „Memoirs  of  the  extraordinary  life  and  adventures  of 
Harriet  Wilson,  the  celebrated  Courtezaii  and  Deinilioop 
of  the  time  of  George  IVk,  interspersed  with  curious  and 
amatory  anecdotes  of  distinguished  persons,  particulary  the 
Duke  of  Wellington,  Lord  Byron,  Duke  of  Ar gy  1  e  etc.“ 
London  s.  a.,  oft  wiederholt.  —  Französische  Uebersetziing  : 
„Me'moires  d’IIenriette  Wilson  etc  “  Paris  1825,  8^  6  Bände.  — 
Deutsche  Uebersetziing:  „Denkwürdigkeiten  der  Miss  Henriette 
Wilson,  Englands  Ninon.“  Aus  d.  Englisclien,  Stuttgart  1825, 
8°,  3  Bände.  —  In  Amerika  erschien  „Harriet  Wilson;  or, 
Memoirs  of  a  Wonian  of  Pleasure,“  wAlil  ein  Neudruck  oder 
Auszug  des  Originalwerkes.  —  Im  eisten  Kapitel  des  zweiten 
Bandes  von  „The  Amours,  Adventures,  and  lutrigues  of  Tom 
Johnson“  (London  ca.  1870,  auch  unter  dem  Titel  „The  gen¬ 
uine  and  remarkable  Amours  of  the  celebrated  author  Peter 
Aretin“)  erzählt  der  Held  ein  Abenteuer,  welches  er  mit  „der 
berühmten  Harriet  Wilson“  hatte. 


154 


Mrs.  Siddons  (1755  — 1831)  verurteilt  wurde,  der  vollen¬ 
detsten  Darstellerin  der  Lady  Macbeth,  die  Georg  III. 
durch  ihr  bewunderungswürdiges  Spiel  zu  Thränen  rührte, 
von  Samuel  Johnson  ehrerbietigen  Handkuss  empfing, 
dem  Advokaten  Erskine  als  Vorbild  der  Beredsamkeit 
diente  und  endlich  von  Sir  Joshua  Keynolds  auf  dem 
bekannten  Gemälde  als  „tragische  Muse“  verewigt  wurde. i) 
Ja,  die  Unnahbarkeit  mancher  Schauspielerinnen  war  so 
gross,  dass  leidenschaftliche  Liebe  zu  verzweifelten  Mitteln 
griff,  wie  denn  z.  B.  auf  die  schöne  Tragödin  Miss  Kelly 
zwei  Mal  von  zurückgewiesenen  Liebhabern  vom  Zuschauer¬ 
raum  aus  geschossen  wurde. In  der  heutigen  englischen 
Gesellschaft  führen  die  Schauspielerinnen  ein  höchst  ehr¬ 
bares  Familienleben.  Nur  die  ganz  gering  besoldeten 
Choristinnen  und  Balleteusen  sind  feil.  Im  übrigen  sind 
die  schönsten  Theaterdamen  meist  „de  simples  et  bonnes 
bourgeoises.“^) 

Gelegenheit,  die  Bekanntschaft  der  vornehmen  He¬ 
tären  zu  machen,  gab  es  ausser  in  den  Theatern,  Eanelagh, 
Vauxhall,  auf  den  Maskeraden  und  Promenaden,  besonders 
in  den  feineren  Conditoreien  wie  bei  Hickson  in 
Piccadilly,  wo  es  wunderbare  Torten  gab,  die  man  im 
Stehen  ass,  dabei  die  Blicke  über  die  Gallerie  hier  ver¬ 
sammelter  Schönheiten  schweifen  lassend  und  die  innere 
Hitze  bisweilen  an  dem  seit  1810  Mode  gewordenen  Soda- 
Wasser  kühlend.^)  Ebenso  waren  die  sogenannten  „Alpha- 
Cottages,“  die  „petites  maisons“  der  vornehmen  englischen 
Gesellschaft,  welche  zwischen  Paddington  und  Eegent’s 

0  Thornbury  „Haunted  London“  S.  319 — 320. 

2)  ibidem  S.  336. 

Remo  „La  vie  galante  en  Angleterre“  S.  179.  Vgl.  auch 
„Ans  der  Londoner  Gesellschaft“  Leipzig  1885  S.  309. 

4)  Jouy  „L’hermite  de  Londres“  Bd.  I.  S.  336. 


155 


Park  gelegen  waren,  Eendez-vous-Orte  für  galante  Aben¬ 
teuer.^) 

Die  allergewölinlichste  Gelegenheit  aber,  ihre  Keize 
zur  Schau  zu  stellen,  boten  den  galanten  Damen  des  18. 
und  des  ersten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts  die  Abend¬ 
gesellschaften  oder  Eouts,  diese  „Arena  der  Fashion  in 
den  höheren  Kreisen“,  wie  der  Verfasser  der  „Döings  in 
London“  sagt,  mit  ihrer  üeberfüllung  und  Hitze,  mit 
ihren  Liebeleien  und  ihrer  Spielwuth.  „Warum  giebt  es 
so  viele  Weiber  hier?“  fragt  Peregrine  seinen  Mentor, 
worauf  dieser  mit  den  Worten  Cooly’s  in  seinem  „Pride 
shall  have  a  Fall“  antwortet: 

„What  are  your  slupless  midnights  for,  your  routs, 
That  turn  your  skin  to  parchment?  Why,  for  man! 
What  are  your  cobweb  rohes,  that  spite  of  frost, 

Show  neck  and  knee  to  winter  ?  Why,  for  man ! 

What  are  your  harps,  pianos,  rimpering  songs, 
Languish’d  to  lutes?  All  for  the  monster,  man! 

What  are  your  rouge,  your  je  weis,  walzes,  wigs, 

Your  scoldings,  scribblings,  eatings,  drinking^  for? 
Your  morn,  noon,  night?  For  man!  ay,  — 

Man,  man,  man!“^) 

Anschaulicher  kann  der  wahre  Zweck  dieser  Eouts 
nicht  geschildert  werden  als  es  in  diesen  Versen  geschieht. 
Nach  Hüttner  allerdings  war  das  Spiel  die  Hauptsache. 
Aber  wie  ich  schon  in  Bd.  I  (S.  404)  erwähnte,  gehören 
Liebe  und  Spiel  zusammen. 

0  ibidem  Bd.  II.  S.  162. 

„Döings  in  London;  or  Day  and  Niglit  Scenes  of  the 
Frauds,  Frohes,  Manners  and  Depravities  of  the  metropolis“ 
London  o.  J.  S.  262. 


156 


Hüttner  schildert  einen  „Rout“  des  18.  Jalirhunderts 
folgendermassen : 

„Um  eine  recht  zahlreiche  Gesellschaft  dieser  Art  zu- 
sammenzubringen,  sendet  die  Frau  vom  Hause  gewöhnlich 
Einladungsbillete  14  Tage,  oder  3  Wochen  vorher  an  die 
Personen,  welche  sie  zu  sehen  wünscht;  und  je  grösser 
die  Zahl  ihrer  Gäste  ist,  desto  mehr  findet  sich  ihr  Stolz 
geschmeichelt,  desto  glücklicher  scheint  sie  zu  sein  .  .  . 
Lassen  Sie  uns  etwas  näher  treten ,  und  die  bunte  Scene 
genauer  betrachten;  ich  wette,  Sie  werden  das  arme  Weib, 
das  wochenlang  sich  darauf  vorbereitet  und  gefreut  hat, 
herzlich  bedauern.  Zwei,  drei,  auch  mehr  Visitenzimmer 
stehen  zum  Empfiinge  der  Geladenen  offen.  Vor  zehn  Uhr 
des  Abends  erscheint  keiner  der  Geladenen,  und  um  12 
oder  1  Uhr  fangen  die  Zimmer  gewöhnlich  erst  an  sich 
zu  füllen.  Eine  Menge  Menschen  werden  von  den  Bedienten, 
die  auf  den  Treppen  und  am  Eingänge  der  Zimmer  stehen, 
um  die  Einlassbillete  zu  empfangen,  hinter  einander  mit 
lautschreiender  Stimme  angekündigt,  schweben  in  die  Zimmer, 
und  setzen  sich  an  einen,  oder  den  anderen  der  zahlreichen 
Spieltische,  während  die  Frau  vom  Hause  aus  einem  Zimmer 
in  das  andere  fliegt,  um  ihre  Gäste  zu  bewillkommnen  und 
sich  allen  zu  zeigen.  Eine  wahre  herkulische  Arbeit.  Zwei 
oder  dreihundert,  ja  oft  eine  beträchtlich  grössere  Anzahl 
von  Gästen  finden  sich  nach  und  nach  ein  und  scheinen 
sich  wenig  um  die  erschöpfte  Wirtin  zu  bekümmern.  Sie 
steht,  sobald  das  Spiel  seinen  Anfang  genommen  hat,  mitten 
im  Gewühle,  als  ob  sie  von  jedermann  verlassen  wäre,  und 
scheint  keinen  andern  Sinn,  als  ihr  Gehör  zu  haben.  Ihre 
ganze  Unterhaltung  besteht  im  Anhören  der  Namen,  die 
unaufhörlich  die  Treppe  herauf  schallen,  in  Verneigungen 
gegen  die  Gestalten,  die  wie  Schatten  bei  ihr  vorüber 


157 


schweben,  und  in  einigen  lächelnden  Blicken,  die  sie  Ge¬ 
legenheit  hat,  ihren  näheren  Bekannten  von  Zeit  zu  Zeit 
zuzuwerfen.  Doch  lassen  Sie  uns  einen  Blick  auf  die  Reihen 
von  dichtbesetzten  Spieltischen  werfen,  die  hier  stehen.  Völlige 
Gleich neit  herrscht  an  diesen  Altären  der  Thorheit.  Alter, 
Rang,  Charakter  und  Geschlecht  machen  nicht  den  ge¬ 
ringsten  Unterschied.  Alte  runzlige  Damen  sind  hier  die 
Nebenbuhlerinnen  blühender  Mädchen.  Die  Karten  machen 
alle  einander  gleich.  Whist,  Casino,  Faro,  Rouge  und 
Noir  etc.  verschliessen  die  Augen  der  Männer  gegen  den 
Anblick  der  halbnackten  Grazien,  die  um  sie  herumschweben, 
und  machen  das  geschwätzigste  Weib  stumm  wie  eine 
Statue.  Die  schönsten  Gesichter,  auf  denen  noch  kurz 
vorher  jeder  Liebreiz  thronte,  verwandeln  sich  in  Furien- 
Physiognomien.  Hier  wird  eine  Rosenwange  auf  einmal 
lilienweiss.  Dort  scheint  Fieberfrost  eine  greise  Matrone 
zu  schütteln,  obgleich  die  Luft  in  den  Zimmern  tötlich 
warm  ist,  als  ob  ein  Sirocco  wehte.  Wilde  Leiden¬ 
schaften  schaffen  Engelgestalten  zu  Teufeln  um,  und 
Schadenfreude,  Betrug,  Angst,  Verzweiflung,  rasender 
Leichtsinn  und  grinsende  Habsucht  scheinen  hier  um  die 
Oberherrschaft  zu  kämpfen.  Man  wird  lebhaft  an  die 
Hölle,  wie  sie  unsere  alten  guten  Prediger  zu  beschreiben 
pflegten,  erinnert.  Gegen  Anbruch  des  Tages  werden 
endlich  die  Zimmer  wieder  leer,  und  die  Gesellschaft  eilt 
nach  Hause,  der  eine  mit  vor  Freude  hüpfendem  Herzen, 
der  andere  mit  Gedanken  an  Gift,  Dolch,  Strick  oder 
Pistole.“ 


J.  C.  Hüttner  „Sittengemälde  von  London“  Gotha, 

1801  S.  127  —  130. 

1 


158 


Aus  dem  19.  Jahrhundert  haben  Jo  uy^)  und  O.v.  Kosen¬ 
berg  uns  ausführliche  Darstellungen  des  Treibens  auf 
den  Routs  gegeben.  Besonders  v.  Rosenberg  schildert 
sehr  drastisch  und  sarkastisch  das  modische,  fashionable 
Gebahren  der  jungen  Leute  bei  solcher  Gelegenheit,  die 
Koketterie  der  Schönen  und  die  cynische  Blasiertheit 
jugendlicher  Greise. 

„Um  einen  mit  Kupferstichen  und  Carricaturen 
(Einige  Buch-  und  Kupferstichhändler  als  Ackermann 
etc.  halten  zu  diesem  Zwecke  eine  grosse  Sammlung 
Carricaturen,  Handzeichnungen,  Skizzen,  Kupferstiche  etc. 
nur,  um  sie  für  solche  routs  auszuleihen.  Man  zahlt  für 
den  Abend  3,  4 — 5  Guineen)  beladenen  Tisch  sitzen 
mehrere  Herren  und  Damen  und  disputieren  über  Licht 
und  Schatten,  Haltung  und  Farbengebung,  über  Rubens, 
Raphael,  van  Dyk  etc.,  überhaupt  sind  Haltung  und 
Farbengebung  wohl  zwei  Sonnen  der  Aufmerksamkeit  aus¬ 
gezeichneter  Talente,  welche  englische  Damen  vor  dem 
Spiegel  ausbilden;  denn  die  engen  Schnürleiber  halten 
sie  gehörig  aufrecht  und  die  feinste  chinesische  Schminke 
giebt  ihnen  Farbe  genug,  um  bei  Kerzenlicht  nicht  von 
ihren  Mitschwestern  in  den  Schatten  gestellt  zu  werden. 
Dort  wühlt  eine  unlängst  aus  der  Schule  entlassene  No¬ 
vize  unter  zierlich  gebundenen  Bänden,  und  nimmt  den 
Augenblick  wahr,  in  welchem  Mama  abwesend  ist,  um 
eine  oder  die  andere  verbotene  Stelle  aus  Byron ’s  Don 
Juan  zu  lesen.  Hier  liegt  ein  wohlgewachsnner,  aber 
übelgezogener  Halbgott  in  hohem  Kragen  und  steifer 
Halsbinde  der  Länge  nach  auf  einer  Ottomane  und  lorg- 
nettiert  frech  die  um  ihn  stehenden  Huldgestalten,  welche, 

1)  J  o  u  y  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  145  ff. 

2)  Otto  v.  Rosenberg  „Bilder  aus  London“  Leipzig 
1834  S.  72—79. 


159 


vor  Müdigkeit  fast  ohnnaächtig,  die  halbe  Welt  für  den 
vierten  Teil  eines  Stuhles  geben  würden.  Alle  Mittel, 
welche  Schönheit  und  ein  beredtes  Auge  erfinden  können, 
werden  aufgeboten,  diesen  liegenden  Adonis  aus  der 
Fassung  oder  vielmehr  von  dem  so  bequemen  Platze  zu 
bringen,  doch  vergebens.  Er  bleibt  kalt  — ■  und  liegen!“ 

Das  ist  eine  ganz  gute  Charakteristik  des  britischen 
Don  Juan,  der  im  High  Life  des  18.  Jahrhunderts  und 
der  dazu  gehörigen  Zeit  Georgs  IV.  eine  sehr  hervor¬ 
stechende,  aber  keineswegs  schöne  Rolle  spielt.  Das  Stu¬ 
dium  des  britischen  Don  Juanismus  gewährt  aber  höchst 
interessante  psychologische  Einblicke  in  Charakter  und 
Eigenart  der  englischen  Lebemänner,  die  für  den  fran¬ 
zösischen  und  deutschen  Roman  des  1 9.  Jahrhunderts  vor¬ 
bildlich  geworden  sind. 

Ein  Hauptcharakterzug  der  britischen  Don  Juans,  der 
sie  durchweg  von  den  Wüstlingen  der  romanischen  und 
der  anderen  germanischen  Länder  unterscheidet,  ist  die 
kalte,  eherne  Ruhe,  mit  der  sie  dem  Lebensgenüsse 
fröhnen,  der  ihnen  viel  weniger  eine  Sache  der  Leiden¬ 
schaft  als  des  Stolzes  und  der  Befriedigung  ihres  Macht¬ 
bewusstseins  ist.  Den  französischen,  den  italienischen  Don 
Juan  treibt  eine  glühende  Sinnlichkeit  v(m  Eroberung  zu 
Eroberung.  Das  ist  das  Hauptmotiv  ihrer  Handlungen 
und  ihrer  Lebensweise.  Der  englische  Don  Juan  verführt 
aus  Princip,  des  Experimentes  halber,  er  treibt  die  Liebe 
als  Sport.  Die  Sinnlichkeit  spielt  erst  in  zweiter  Linie 
eine  Rolle  und  mitten  im  Genüsse  blickt  die  Herzenskälte 
auf  eine  schreckliche  Weise  durch. 

1)  Queensberry  schreibt  17G6  au  Selwyn:  „Bully 
(d.  h.  Lord  Eolingbroke)  kommt  wieder  in  die  Welt  und 
schwört,  dass  er  irgend  ein  unschuldiges  Mädchen  Yerfüliren 
will.  Ich  zweifle  nicht  darao,  dass  er  es  thut.“  Vgl.  Jesse 
„George  Selwyn“  Bd.  II  S.  66. 


160 


Das  ist  der  der  Typus  des  Lovelace,^) 

den  Ricliardson  mit  unvergleicliliclier  Meisterschaft 
in  seiner  „Clarissa  Harlowe“  gezeichnet  hat.  Von  dieser 
Verkörperung  des  britischen  Don  Juanismus  sagt  Tai  ne: 

„Welcher  Charakter!  Wie  sehr  englisch!  Wie  ver¬ 
schieden  von  dem  Don  Juan  Mozarts  oder  Moliere’s !  Un¬ 
beugsamer  Stolz,  das  Streben,  Andere  zu  bezwingen,  ein 
herausfordernder  Kampfessinn,  das  Bedürfnis  zu  tri¬ 
umphieren,  beherrschen  ihn  zunächst;  erst  dann  kommt 
die  Sinnlichkeit.  Er  verschont  ein  junges,  unschuldiges 
Mädchen,  weil  er  weiss,  dass  sie  leicht  zu  erobern  ist, 
und  weil  die  Grossmutter  ihn  bittet,  es  nicht  zu  verführen. 
Sein  Wahlspruch  ist,  die  Stolzen  zu  demüthigen.  „Ich 
liebe  die  Opposition,“  schreibt  er  in  einem  seiner  Briefe. 
Im  Grunde  ist  Stolz,  unendlicher,  unersättlicher,  un¬ 
sinniger  Stolz  die  erste,  die  einzige  Triebfeder  seines 
ganzen  Seins.  Er  gesteht  irgendwo,  dass  er  sich  dem 
Caesar  ebenbürtig  glaubt  und  dass  er  aus  blosser  Laune 
sich  zu  privaten  Eroberungen  erniedrigt.  „Ich  will  ver¬ 
dammt  sein,  wenn  ich  die  vornehmste  Prinzessin  von  der 
Welt  heirate,  sobald  ich  weiss  oder  nur  vermute,  dass  sie 
bei  ihrer  Wahl  einen  Augenblick  zwischen  mir  oder  einem 
Kaiser  geschwankt  hat.“  Man  findet  ihn  als  einen 
lustigen  und  brillanten  Plauderer;  aber  diese  Ausgelassen- 

Richard  Lovelace  war  übrigens  eine  historische 
Persönlichkeit,  ein  Dichter  des  17.  Jahrhunderts,  der  im  Jahre 
1658  in  grösster  Armut  in  der  Gnnpowder  Alley  in  London 
starb  und  am  Westende  von  St.  Bride’s  Church  seine  Ruhestätte 
fand.  Er  war  ein  iMann  von  ausserordentlicher  Schönheit  und 
Liebenswürdigkeit,  dabei  von  grösster  Ehrenhaftigkeit,  und 
hatte  mit  dem  Lovelace  des  späteren  Romans  nur  das  gemein, 
dass  er  von  den  Frauen  vergöttert  wurde.  Vgl.  J.  H.  Jesse 
„London  and  its  celebrities“  London  1850  Bd.  I,  S.  438 — 439. 


161 


heit  natürlichen  Humors  ist  nur  äusserlich;  er  ist  roh 
und  ungesittet,  er  scherzt  wie  ein  Henker  mit  kalter 
Grausamkeit  über  das  Böse,  das  er  gethan  hat  oder  thun 
will.  .  .  Man  muss  sagen,  dass  in  diesem  Lande  die 
Lebemänner  jener  Zeit  das  menschliche  Fleisch  auf  deu 
Schindanger  warfen.  Irgend  ein  vornehmer  Freund  von 
Lovelace  entführt  ein  junges,  unschuldiges  Mädchen, 
macht  sie  betrunken,  bringt  die  Nacht  mit  ihr  in  einem 
öffentlichen  Hause  zu,^)  lässt  sie  dort  als  Bezahlung  für 
die  Zeche  und  reibt  sich  ruhig  die  Hände,  als  er  nach 
vierzehn  Tagen  erfährt,  dass  man  sie  ins  Gefängnis  ge¬ 
worfen  hat,  wo  sie  an  Wahnsinn  gestorben  ist.  In  Frank¬ 
reich  waren  die  Wüstlinge  nur  leichtsinnige  Schelme,, 
hier  waren  sie  gemeine  Schurken;  Büberei  vergiftete  bei 
ihnen  die  Liebe.  Lovelace  hasst  Clarissa  noch  mehr  als- 
er  sie  liebt.  “^) 


Nicht  viel  besser  macht  es  im  „Midnight  Spy“  (S.  62) 
der  Don  Juan  BamweH,  der  Sohn  eines  Apothekers  in  Red. 
Lion-Square,  der  systematisch  junge  Mädchen  verführte  und 
sie  dann  seinen  Freunden  zuführte.  So  hatte  er  allein  eine 
ganze  Schaar  von  Prostituirten  geschaffen. 

2)  H.  Taine  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  406 — 407,  Interessant  ist 
auch  das  Urteil  Mercier’s  über  Richardson’s  Lovelace: 
„Les  heros  du  vice  sont  pre'sente's  avec  de  si  brillantes  Coul¬ 
eurs  dans  tout  le  cours  de  l’ouvrage],  ils  re'unissent  tant 
d’avantages,  ils  ont  des  succes  si  flatteurs  qu’ils  interessent 
vivement.  Les  auteurs  leur  pretent  des  plaisanteries  sur  la. 
vertu  qui  la  rendent  ridicule;  ils  echauffent  par  leurs  peintures 
Pimagination,  enüamment  les  sens  et  remplissent  les  personnes 
les  plus  vertueuses  d’ide'es  romanesques  qu’elles  cherchent  ä 
reallser!  Les  jeunes  gens,  e'pris  des  rares  qnalites  de  Lovelace 
et  de  ses  pareils,  sont  plus  seduits  par  l’eclat  de  ses  succes,. 
qu’ils  ne  sont  effrayes  ä  l’aspect  de  sa  fin  tragique. 

11 


162 


Wenn  man  hört,  dass  im  18.  Jahrhundert  ein  un¬ 
verheirateter  junger  Mann  mit  2000  Pfund  Sterling  Ein¬ 
künften  davon  1800  für  seine  Vergnügungen  verwendete, 
worunter  die  Mädchen  der  „erste  und  letzte  Artikel“  sind,i) 
dann  wird  man  sich  nicht  über  das  wundern,  was  Lich¬ 
te  nb  erg  von  der  Beschäftigung  eines  solchen  „Eake“ 
sagt. 

„Der  eigentliche  Bake  trinkt,  spielt,  h..t,  spricht 
von  galanten  Pillen  und  Bougies,  wie  unser  einer  von 
candirtem  Anis  und  Gerstenzucker ;  macht  aus  Nacht 
Tag  und  aus  Tag  Nacht.  Daher  ein  ewiger  Oftensivkrieg 
mit  Gassenlaternen  und  seine  Activ-  und  Passivprügelei 
mit  der  Wache;  ruiniert  unschuldige  Geschöpfe,  die  ihn 


Les  plus  grands  scelerats  eu  galanterie  exciteut  de  meme 
uü  vif  inte'ret.  Ou  ne  voit  pas  les  malheurs  de  leurs  victiines. 
L’e'clat  de  l’entreprise,  des  difficultes  de  la  conquete,  Tliabilete 
du  seducteur  frappent  seul  l’esprit  du  lecteur.“  Mercier  de 
Compiegiie  „Manuel  des  Boudoirs“  (Brüsseler  Neudruck),  S. 
228 — 229.  Vortreffliche  Nachahmungen  des  Lovelace-Typus 
findet  man  in  einem  französischen  Roman  von  Cuisin  „Le 
Bätard  de  Lovelace  etc.“  Paris  1806,  4  Bände,  indem  der  Held 
Falselace  zwar  „doue  de  la  plus  gründe  perversite“  ist,  aber 
noch  von  der  Marquise  Dolerie  in  „galanterie  corruptive“ 
übertroffen  wird.  —  Vorzüglich  wird  auch  die  Herzenskälte 
eines  englischen  Don  Juan  in  einer  deutschen  Schrift  aus  dem 
bekannten  Verlags-Bureau  in  Altona  (1874,  3  Bändchen)  mit 
dem  Titel  „Liebesnächte.  Geheimnisse  der  Tausend  und  Einen 
Nacht  einer  schönen  Frau“  (obwohl  weder  von  Liebesnächten 
noch  gar  von  1001  solcher  das  Geringste  vorkommt)  in  der 
Person  des  Lord  Brougham  geschildert,  der  seine  Liebschaften 
alphabetisch  geordnet  und  aufs  Papier  gebracht  hat,  und 
durchweg  als  „Eiszapfen“  ujid  als  Mann  mit  dem  „kalten, 
eisernen  Gesicht“  figurirt. 

^)  Archenholtz  „England“  Bd.  11,  S.  266. 


163 


Hiebten,  und  schiesst  sich  mit  Leuten,  deren  Ehre  er  ge¬ 
kränkt  hat;  wirft  überall  Geld  und  Geldeswert  weg,  eigenes 
^nd  fremdes  durcheinander,  und  nicht  selten  sich  selbst 
'hinterdrein,  und  in  all  diesem  sucht  er  eine  Ehre.“^) 

Gewöhnlich  stand  ein  solcher  vornehmer  Lebemann 
-gegen  Mittag,  ja  oft  erst  um  3  Uhr  Nachmittags  auf, 
frühstückte,  begab  sich  dann  auf  die  Promenade  oder  zu 
•seinem  ßeitstall,  dinierte  mit  einigen  Freunden  um  8  Uhr, 
■worauf  er  bis  1 1  Uhr  mit  ihnen  zechte,  begab  sich  sodann 
nach  Vauxhall,  um  dort  weitere  20  Pfund  für  schlechten 
Wein  auszugeben  und  stattete  zum  Schluss  einem  oder 
mehreren  Bordellen  seinen  Besuch  ab,  um  gegen  4  Uhr 
früh  nach  Hause  zurückzukehren. 

Diese  abendlichen  Bordellbesuche  gehörten  zum  guten 
Ton.  Wir  treffen  dort  alle  die  berühmten  Lebemänner 
•des  18.  Jahrhunderts  an,  einen  Foote,  Selwyn, 
•George  Alexander  Stevens,  Lord  Pembroke, 
'Gilly  Williams  u.  A. 

Gay  hat  in  „The  Beggar’s  Opera“  in  der  Person 
•des  Macheath  einen  solchen  Elegant  parodiert,  der  ein  halbes 
Dutzend  Frauen,  ein  Dutzend  Kinder  hat,  die  Bordelle 
‘besucht,  liebenswürdig  gegen  die  Schönen,  die  er  dort  an- 
frifft,  ist,  ringsherum  elegante  Verbeugungen  und  für  jede 
•eine  Artigkeit  bereit  hat: 

„Mistress  Slammekin!  So  ungezwungen  und  anmutig 
wie  immer!  Ihr  feinen  Damen  alle,  die  Ihr  Eure  Reize 
»kennt,  liebt  das  Neglige.  .  .  Wenn  eine  von  den  Damen 
■ein  Gläschen  wünscht,  so  wird  sie  hoffentlich  so  gütig 

0  L  i  c  h  t  e  n  b  e  r  g  ’  s  Erklärungen  der  H  o  g  a  r  t h  ’  sehen 
'Kupferstiche  herausgeg.  von  Kotten kamp,  Stuttgart  1882, 
:S.  224  (zum  ersten  Blatt  von  „The  Rake’s  Progress.“) 

-)  Jouy  a.  a.  O.  Bd.  I,  S.  330 — 331. 


11* 


164 


sein,  es  zu  bestellen.  —  Ich  trinke  nie  starke  Likörey 
ausgenommen  ich  habe  die  Kolik.  —  Gerade  die  Ent¬ 
schuldigung  der  vornehmen  Damen!  eine  Dame  vom  Stande- 
hat  immer  die  Kolik,  “i) 

Eine  auffallende  Erscheinung  in  der  englischen  Lebe¬ 
welt  war  und  ist  die  Häufigkeit  des  Selbstmordes. 
Schon  Montesquieu  war  dies  aufgefallen. Ar  che  n- 
holtz  ist  ganz  erstaunt  über  die  Häufigkeit  der  Selbst¬ 
morde  unter  den  Londoner  Wüstlingen.  „In  anderen 
Ländern  sind  die  Beispiele  höchst  selten,  dass  junge  Leute- 
von  Vermögen  und  Ansehen,  ja  mit  grossen  Keichtümern 
beglückt,  des  Lebens  satt  werden.  Dies  ist  in  England 
nichts  Ungewöhnliches,  wo  bei  der  grossen  Freiheit,  alle- 
Leute  zu  befriedigen,  ohne  dass  sich,  wie  in  Paris,  ein 
Polizeilieutenant  darein  mischt,  die  Nerven  dieser  Wollüst¬ 
linge  abgespannt  werden,  und  sodann  die  Sättigung  ein- 
tritt,  die  endlich  zu  tragischen  Scenen  führt.“ Auch 
V.  Schütz  macht  weniger  das  Klima  und  die  Ernährungs¬ 
weise  als  die  Uebersättigung,  die  tiefe  Melancholie,  die 
aus  der  Enttäuschung  über  die  Nichtigung  aller  Sinnen¬ 
genüsse  entspringt,  für  diese  Erscheinung  verantwortlich* 
„Der  Luxus  ist,  wie  b3kannt,  in  London  ausserordentlich,, 
und  der  Jüngling,  der  auf  solche  Art  in  immerwährendem 
Taumel  seiner  Leidenschaften  herumgeschwärmt,  und  die- 
Jahre  des  Mannes  erlangt  hat,  ist  dann  selten  geschickt, 
die  Widerwärtigkeiten  des  Lebens  zu  erdulden,  die  oft  die 
Folgen  seiner  jugendlichen  Thorheiten  und  Ausschweifungen 
sind,  und  so  ist  es  also  nicht  zu  bewundern,  wenn  er 

Citirt  nach  Tai  ne  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  207.  — Kolik  ist 
ein  bei  Prostituierten  sehr  häutiges  Leiden. 

2)  Taine  a.  a.  0.  Hd.  II.  S.  203. 

3)  Archenholtz  „England“  ßd.  III.  S.  128. 


165 


seinen  unangenehmen  Gefühlen  ein  Ende  zu  machen  sucht.“ 
Sicherlich  spielt  aber  auch  die  hypochondrische  Anlage, 
das  Düstere,  Schwere  im  englischen  Charakter  eine  grosse 
Rolle  unter  den  Ursachen  dieser  Selbstmorde,  die  sich, 
wie  Rosenberg  angiebt,  besonders  im  November,  dem 
berüchtigten  Nebelmonat,  häufen.  Nicht  selten  ge¬ 
schahen  diese  Selbstmorde  direkt  im  Bordell!  So  begab 
sich  z.  B.  ein  Sohn  des  Lord  Milton  in  ein  fashionables 
Bordell,  liess  sich  zwölf  der  schönsten  Freudenmädchen 
kommen,  denen  er  alles,  w^as  sie  wünschten,  aufzutischen 
befahl.  Hierauf  wurden  die  Thüren  verschlossen.  Sie 
mussten  sich  entkleiden  und  ihn  in  dieser  Nymphentracht 
durch  wollüstige  Stellungen  und  Tänze  einige  Stunden 
■ergötzen.  Darauf  beschenkte  er  sie  reichlich  und  erschoss 
sich  ^). 

In  den  1874  erschienenen  „Liebesnächten“  wird  in 
•der  Person  des  Lord  Brougham  ein  solcher  des  Lebens 
■  überdrüssiger  englischer  Lebemann  sehr  naturgetreu  ge¬ 
schildert.  Er  sagt  zu  seiner  letzten  Geliebten,  der  schönen 
Narwa:  „Diese  Welt  ist  öde.  Hat  man  die  Länder,  die 
Menschen,  die  Kunstwerke,  hat  man  Alles  gesehen,  dann 
bleibt  uns  nur  noch  die  Unterwelt  oder  der  Himmel  übrig, 
das  heisst  der  Tod.  Auf  das  Eine  bin  ich  nur  noch  neu¬ 
gierig,  was  man  für  ein  Gefühl  hat,  wenn  man  tot  ist .  . . 
Gemessen  ist  ein  sehr  zweideutiger  Begriff.  Genuss  ge¬ 
währt  nur  die  stete  Unbefriedigung,  die  Sehnsucht  nach 
Genuss  —  also  eigentlich  ist  der  Genuss  im  Momente 
•des  Genusses  schon  tot“.  Dieser  philosophische  Lebemann 


1)  V.  Schütz  a.  a.  0.  S.  ]71 — 172. 

2)  Y.  Rosenberg  a.  a.  0.  S.  80. 

Archenholtz  „England“  ßd.  III  S.  131 — 132. 


166 


hat  sich  für  das  letzte  Jahr  seines  Lebens  —  es  ist  das- 
zweiundvierzigste  —  nur  noch  einen  einzigen  Genuss  auf- 
hewahrt,  das  ist  die  —  platonische  Liebe.  Freilich  ver¬ 
wandelt  sich  diese  bald  in  eine  sehr  irdische,  und  nach, 
einem  Jahre  schreitet  Brougham  zum  letzten  Genüsse.  Er 
vergiftet  sich  vor  den  Augen  seiner  Maitresse  mit  Cyankali. 

Während  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
war  unter  den  englischen  Lebemännern  keine  mehr  durch. 
Geist,  Witz,  Humor,  fasliionables  Wesen,  Liebe  zum  Sport 
und  zu  allen  Lebemannsfreuden  hervorstechende  Persön¬ 
lichkeit  als  George  Selwyn,  der  in  den  Correspondenzen,. 
Memoiren,  galanten  Schriften  und  Tagesblättern  jener  Zeit 
uns  überall  entgegentritt  und  dessen  eigene  hinterlassene 
Papiere  von  einem  Kenner  wie  Thackeray  als  die  treueste^ 
Schilderung  der  Zeit  bezeichnet  werden  ^). 

George  Augustus  Selvvyn  wurde  den  11.  August 
1719  in  Mahon  als  Sohn  eines  vornehmen  Landedelmannes¬ 
geboren  und  zusammen  mit  dem  Dichter  Gray  und 
Horace  Walpole  in  Eton  erzogen.  Nachdem  ihm  1751 
nach  einer  in  Müssiggang  verbrachten  Jugend  durch  den 


1)  „Wenn  wir  Selwyns  Briefe  lesen,  oder  Reynolds- 
herrliche  Illustrationen  jener  pomphaften  Zeit,  jener  üppigen 
Menschen  sehen,  so  glauben  wir  die  Stimme  der  toten  Ver¬ 
gangenheit  zu  hören,  das  Gelächter  und  den  Trauerchor,  den 
Toast  bei  den  schäumenden  Gläsern,  das  Jubelgeschrei  bei  den 
Wettrennen  oder  am  Spieltisch,  die  heitern  Scherzreden  an 
der  Seite  der  schönen  Damen.  Wie  schön  waren  jene  Damen 
und  sie  lauschten  dennoch  auf  so  unschöne,  gemeine  Witze, 
und  wie  vornehm  war  die  Herrenwelt.  .  .  Gerade  in  Selwyns- 
Briefen  finden  wir  die  treusten  Originale  von  Damen  und 
Herren  aus  der  ersten  Zeit  von  Georgs  111.  Regierung.“  W.  M. 
Thackeray  „Die  vier  George.“  Deutsch  von  J.  Augspurg,. 
Leipzig  (Reklam)  S.  77  und  79. 


167 


Tod  seines  Vaters  dessen  Vermögen  zugefallen  war,  wurde 
er  in  die  Lage  versetzt,  in  der  vornehmen  Welt  eine  be¬ 
deutendere  Rolle  zu  spielen  und  bald  den  Ton  für  eine 
raffinirt  fasbionable  Lebensweise  anzugeben,  welcher  er 
vierzig  Jahre  hindurch  mit  erstaunlicher  Beharrlichkeit 
huldigte.  Er  starb,  nachdem  er  in  den  letzten  Jahren 
an  der  Krankheit  der  englischen  Lebemänner,  der  Gicht, 
gelitten  hatte,  den  25.  Januar  1791,  im  72.  Jahre,  in 
Cleveland  Row,  St.  James’s.i) 

Selwyn  ist,  was  die  eigenartige  Mischung  der  Cha¬ 
rakterzüge  betrifft,  ohne  Zweifel  eine  der  interessantesten 
Gestalten  des  an  bizarren  und  wunderbaren  Naturen  so 
reichen  18.  Jahrhunderts.  Ausgestattet  mit  einem  glän¬ 
zenden  Witz,  einem  überaus  feinen  Verständnis  für  den 
Humor  und  das  Lächerliche,  ein  gründlicher  Kenner  der 
Welt  und  der  menschlichen  Natur,  verband  er  mit  diesen 
Eigenschaften  ein  ausgezeichnetes  Wissen  im  Bereiche 
der  classischen  Litteratur  und  einen  erlesenen  künstler¬ 
ischen  Geschmack.  Auf  der  anderen  Seite  war  Selwyn 
eine  durch  und  durch  sinnliche  Natur,  leidenschaftlich 
allen  Freuden  des  Lebens  und  der  Gesellschaft  hingegeben, 
Rone,  Spieler,  Trinker,  dabei  gutherzig,  alle  Herzen  im 
ersten  Augenblicke  gelängen  nehmend.  Im  äusseren  Leben 
erinnert  er  vielfach  an  die  Persönlichkeit  des  Marquis 
de  Sade,  der  bekanntlich  ebenfalls  eine  fascinirende 
Erscheinung  war,  auch  eine  gewisse  Gutherzigkeit  nicht 
verkennen  lässt  und  wie  Selwyn  ein  leidenschaftlicher 
Kinderfreund  im  guten  Sinne  des  Wortes  war.  Endlich 

9  Vgl.  .1.  H.  Jesse  „George  Selwyn  and  his  contem- 
poraries ;  ^vith  memoirs  and  notes.“  .New  edition,  London 
1882  Bd.  I.  S.  1 — 30.  E.  J.  Roscoe  and  Helen  Clergue^ 
„George  Selwyn,  his  Leiters  and  his  Life.“  London  1899  S.  1 


168 


springt  die  merkwürdige  Übereinstimmung  ihrer  Naturen 
aufs  deutlichste  in  die  Augen  durch  die  beiden  gemein¬ 
same  wollüstige  Grausamkeit,  die  sich  bei  Selwyn  in  einer 
eigentümlichen  Begierde  nach  dem  Anblicke  vom  mensch¬ 
lichen  Leiden  und  Martern,  speciell  in  seiner  Leidenschaft, 
Hinrichtungen  beizuwohnen,  äusserte,  worüber  im 
dritten  Bande  (Kapitel  7)  Näheres  mitgeteilt  werden  wird. 

Neben  dem  natürlichen  Witze  Sei  wy n’  s,Ü  der  haupt¬ 
sächlich  zu  seiner  grossen  Beliebtheit  beitrug,  war  seine 
grosse  Vorliebe  tür  Kinder  und  kindliches  Wesen  allgemein 
bekannt. ü  Lr  war  niemals  verheiratet,  und  so  bildete 
diese  leidenschaftliche  Liebe  zu  Kindern  einen  seltsamen 
Gegensatz  zu  seiner  ausschweifenden  Lebensweise. 

Die  grösste,  innigste,  selbstloseste  Liebe,  die  er  jemals 
empfunden  hat,  concentrierte  sich  auf  die  kleine  Maria 
Fagniani  (1771  — 1856),  die  er  seine  kleine  „Mie-Mie“ 
nannte,  die  Tochter  einer  italienischen  Dame,  der  Mar- 
chesa  Fagniani,  die  sich  eine  Zeit  lang  mit  ihrem 
Gatten  in  England  aufhielt.  Der  Ursprung  des  Interesses, 
welches  Selwyn  an  dem  Kinde  nahm,  ist  dunkel.  Die 
Geschichte  dieser  Neigung  ist  aber  sehr  merkwürdig  und 
erwähnenswert. 


*)  Seine  „Bonmots“  circulierten  in  ganz  London.  (Vgl. 
Jesse  a.  a.  0.  I,  15 — 22).  Als  Dichter  trat  er  nur  ein  einziges 
Mal  auf,  in  einem  Epigramm  auf  ein  Paar  Schuhe,  die  auf 
dem  Bette  einer  Lady  gefunden  waren: 

„Well  may  suspicion  shake  its  head; 

Well  may  Clorinda’s  spouse  be  jealous; 

Wlien  the  dear  wanton  takes  to  bed 

Her  very  shoes,  —  because  they’re  fellows.“ 

'^)  Jesse  a.  a.  0.  Bd.  I,  S.  6;  Roscoe  und  Clergue 
a.  a.  0.  S.  4  und  8. 


169 


Schon  aus  einem  Briefe  der  Marchesa  Fagnianian 
Selwyn  aus  dem  Jahre  1772  erhellt,  dass  das  damals 
erst  ein  Jahr  alte  Kind  bereits  mehrere  Monate  bei  ihm 
gewesen  war,  und  1774  wünscht  ihm  Lord  Carlisle  dazu 
Olück,  dass  „Mie-Mie“  nun  für  immer  bei  ihm  bleibe. 
Er  erwähnt  seinen  Liebling  zuerst  in  einem  Briefe  vom 
23.  Juli  1774,  wo  er  sich  selbst  schildert.  Er  sitzt  vor 
der  Thür,  hält  das  liebliche,  fremdartig  aussehende  Kind¬ 
chen  in  seinen  Armen  und  ist  glücklich  über  die  allge¬ 
meine  Aufmerksamkeit,  die  es  erregt.  Als  sie  4  Jahre 
alt  war,  nahm  er  sie  bei  Besuchen  mit.  Zu  jener  Zeit 
beschäftigte  sich  aber  auch  der  Earl  of  March  (Duke 
of  Queensberry)  viel  mit  Maria,  und  so  tauchten  in  London 
seltsame  Gerüchte  über  den  Vater  des  Kindes  auf.  Bald 
hielt  man  Selwyn,  bald  Queensberry  für  denselben. 
Die  grössere  Wahrscheinlichkeit  spricht  für  den  Letzteren. 
Selwyn’s  Interesse  entsprang  einzig  und  allein  seiner 
ungewöhnlich  stark  entwickelten  Vorliebe  für  Kinder.  Er 
freute  sich  an  der  Beobachtung  ihrer  Entwickelung  und 
fand  Vergnügen  an  Mie-Mie’s  Erziehung  und  Trost  an 
ihrer  Gesellschaft  im  nahenden  Alter.  Als  er  sie  zuerst 
gesehen  hatte,  hegte  er  sogleich  den  Wunsch,  sie  zu 
adoptieren ;  und  bis  ans  Ende  seines  Lebens  blieb  sie  sein 
erster  und  letzter  GedankeA) 


9  Vgl.Roscoe  und  Clergue  a.  a.  0.  S.  8 — 9.  Maria 
Fagniani  verheiratete  sich  1792,  ein  Jahr  nach  Selv^yn’s 
Tode,  mit  dem  Earl  of  Jarmouth,  späterem  dritten  Marquis 
of  H  ertfo  rd.  Sie  führte  von  1802—1807  ein  sehr  fashionables, 
vergnügungssüchtiges  Leben  und  bereiste  in  Gesellschaft  des 
Marschalls  An dro che  den  Continent.  Sie  starb,  mit  Hinter¬ 
lassung  von  3  Kindern,  im  Jahre  1856,  85  Jahre  alt,  in  der 
Rue  Tailbout  zu  Paris. 


170 


George  Selwyn  war  der  „allgemeine  Freund“  in 
der  englischen  vornehmen  Gesellschaft  der  zweiten  Hälfte- 
des  18.  Jahrhunderts.  Er  war  in  gleicher  Weise  zu  Hause 
mit  Politikern,  mit  Kunstliebhabern,  mit  Kindern.  Er 
war  eine  so  umgängliche,  liebenswürdige  Natur,  dass  es 
jedem,  dem  Staatsmann,  dem  Wüstling,  dem  Schuljungen, 
in  seiner  Gesellschaft  behagte. 

Doch  lässt  sich  sein  Verkehrskreis  in  zwei  Gruppen 
scheiden.  Die  erste  Gruppe  setzte  sich  aus  Männern  von 
seinem  Alter  zusammen  :  Walpole,  Edgecombe,  Gilly 
Williams  und  Lord  March.  Sie  bilden  mit  Sei wyn 
die  berühmte  „Strawberry  Hill- Gruppe“,  weil  sie  sich  in 
Horace  Walpole’s  schöner  Villa  Strawberry  Hill 
zu  treffen  pflegten.  Keynolds  hat  in  einem  bekannten 
Gemälde  diese  „out-of-town  party“  Walpole’ s  verewigt. 
Es  war  eine  höchst  freie,  cultivierte,  dem  Vergnügen  sich 
widmende  Vereinigung.  Keiner  von  ihnen  heiratete. 
So  etwas  galt  für  „unfashionable“,  wenn  nicht  unpopulär. 
Freilich  haben  sich  diese  Lebemänner  auch  wohl  kaum 
zu  einer  Ehe  geeignet,  da  sie  ihr  Lebensglück  in  einem 
völlig  freien  ungebundenen  Leben  suchten  und  fanden. 
Ein  Edgecombe,  der  den  grössten  Teil  seines  45jährigen 
Lebens  am  Spieltische  verbrachte,  ein  March  mit  seinen 
zahllosen  Geliebten  bis  ins  höchste  Greisenalter,  waren 
wahrlich  keine  Figuren  für  die  Ehe.  “ 

Die  zweite  Gruppe  des  Sei  wyn  ’  sehen  Verkehrskreises 
gehört  einer  jüngeren,  moderneren  Generation  an.  Man 
könnte  sie  nach  der  hervorragendsten  Persönlichkeit  in 
ihr  die  „Fox- Gruppe“  nennen.  Die  Mitglieder  dieser 
Gruppe  trieben  Politik,  spielten  bei  Brooks,  wobei  sie 
ihr  Geld  mit  der  Gleichgültigkeit  wahrer  Freunde  verloren, 
und  erfreuten  sich  an  der  gegenseitigen  Verstandesschärfe. 


171 


Zu  dieser  Gruppe  gehören  Charles  Fox,  der  Earl  of 
Carlisle,  Hare,  Fitzpatrick  und  Störer^). 

Ober  die  Lebensweise  Selwyn^s  findet  sich  eine 
interessante  Notiz  in  einem  Briefe  seines  Freundes  Lord 
Carlisle,  wo  es  heisst:  „Sie  stehen  um  neun  Uhr  auf, 
spielen  bis  zwölf  Uhr  mit  Ihrem  Hunde,  schlendern  dann 
langsam  nach  White,  bringen  fünf  Stunden  am  Esstische 
zu,  schlafen  danach  bis  zur  Abendmahlzeit  und  lassen  sich 
dann  für  einen  Schilling  drei  Meilen  weit  in  einer  Sänfte 
tragen  mit  drei  Mass  Claret  im  •Magen“-). 

Als  Freund  wird  Selwyn  von  eben  demselben 
Carlisle  in  begeisterten  Ausdrücken  gepriesen^)  und  bei 
seinem  Tode  schrieb  Horace  Walpole  an  Miss  Berry: 
„Ich  habe  meinen  ältesten  Freund  und  Bekannten  ver¬ 
loren,  George  Selwyn,  ich  habe  ihn  wahrhaft  geliebt, 
nicht  nur  wegen  seines  unvergleichlichen  Witzes,  sondern 
auch  wegen  einer  Menge  guter  Eigenschaften““^).  Von 
seiner  Beliebtheit  zeugt  auch  der  folgende  warme  Nachruf^) 
in  den  Zeitungen: 

If,  this  gay  favourite  lost,  they  yet  can  live, 

A  tear  to  Selwyn  let  the  Graces  give ! 

With  rapid  kindness  teach  Oblivion’s  pall 
O’er  the  sank  foibles  of  the  man  to  fall; 

And  fondly  dictate  to  a  faithful  Muse 

The  prime  distinction  of  the  friend  they  lose. 

’Twas  social  wit,  which,  never  kindling  strife, 

Blazed  in  the  small,  sweet  courtesies  of  life ; 

Those  little  sapphires  round  the  diamond  shone, 
Lending  soft  radiance  to  the  richer  stone  I 

L  Ros  CO  e  und  Clergue  a.  a.  0.  S.  12. 

2)  Thackeray,  „Die  vier  George“  S.  86.  —  Selwyn 
war  ein  grosser  Verehrer  von  Kuchen  und  Ale, — ibidem  S.  86. 
ibidem  S.  85. 

‘^)  ibidem  S.  85 — 86. 

Jesse  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  31. 


172 


Erwähnung  verdienen  einige  berühmte  Porträts  von 
Selwyn.  Das  bekannteste  ist  das  sogenannte  „Strawberry- 
Hill  Picture“,  von  Sir  Joshua  Reynolds  gemalt,  jetzt 
im  Besitz  des  Right  Hon.  Henry  Labouchere.  Dieses 
herrliche  Gemälde  stellt  George  Selwyn  in  einem 
Bibliothekszimmer  dar,  während  seine  Freunde  Richard 
Edgecombe  und  Gilly  Williams  vor  ihm  an  einem 
Tische  sitzen  G-  Ferner  malte  Reynolds  ein  Bild,  dar¬ 
stellend  „George  Selwyn,  Friedrich,  fünften  Earl 
of  Carlisle  und  den  Hund  Baton“  (um  1770).  Das 
Gemälde  befindet  sich  im  Besitz  des  Earl  of  Carlisle, 
in  Castle  Howard,  Yorkshire‘G-  Ein  drittes  Porträt 
Selwyn ’s  stammt  von  einem  irischen  Künstler,  Hugh 
Douglas  Hamilton  und  ist  gleichfalls  im  Besitz  des 
Earl  of  Carlisle^. 

Am  meisten  Ähnlichheit  mit  den  Don  Juans  der 
romanischen  Länder  in  Beziehung  auf  die  Unersättlich¬ 
keit  der  sinnlichen  Leidenschaft  hat  Selwyn ’s  Freund 
und  treuer  Genosse,  der  unter  dem  Spitznamen  „Old  Q“ 
oder  „Lord  Piccadilly“  oder  „Piccadilly  Ambulator“ 
bekannte  und  berüchtigte  Herzog  von  Queensberry, 
dessen  Leben  wirklich  eine  einzige  Kette  von  Liebes¬ 
abenteuern  und  galanten  Schäferstündchen  darstellt  G- 

William  Douglas,  dritter  Earl  von  March  und  vierter 
Herzog  von  Queensberry  wurde  1724  geboren  und  ent- 


0  Reproducirt  bei  Jesse,  Bd.  I  S.  1. 

G  Roscoe  a.  a.  0.  S.  28. 

G  Es  ist  das  Titelbild  in  dem  Buche  von  Roscoe  und 
C 1  e  r  gu  e. 

Die  folgende  Darstellung  im  wesentlichen  nach  J  e  s  s  e  a. 
a.  0.  Bd.  1.  S.  194 — 210  und  dem  „Dictionary  of  National 
Biography“  ed.  Stephen.  Bd.  XF,  London  1888,  S.  373 — 374. 


173 


wickelte  bereits  als  Schulknabe  bedenkliche  Neigungen  zu 
Extravaganzen  auf  sexuellem  Gebiete,  in  welchen  er  später 
alle  übrigen  Lebemänner  seiner  Zeit  übertreffen  sollte,  wobei 
eine  hohe  Stellung  und  ein  fürstliches  Vermögen  ihm  gewiss 
nicht  wenig  zu  Hülfe  kamen.  Wir  übergehen  die  That- 
sache,  dass  er  in  jeder  Beziehung  ein  eleganter  Weltmann 
war,  leidenschaftlich  dem  Turf  und  dem  Spiele  huldigte, 
als  Kunstkenner  und  Kunstmäcen  hervortrat,  in  Beziehung 
auf  Kleidung  und  sonstiges  äusseres  Auftreten  vorbildlich, 
auch  gutherzig,  wohlthätig  und  jovial  wie  sein  Freund 
Selwyn  war.  Alle  diese  Dinge  verschwinden  vor  den  an 
Zahl  wahrhaft  ungeheuerlichen  geschlechtlichen  Ausschwei¬ 
fungen  dieses  berühmten  Wüstlings.  Je  älter  er  wurde, 
desto  toller  trieb  er  es  in  dieser  Hinsicht.  Sein  Haus  in 
Piccadilly  (jetzt  No.  138  nahe  Park  Laue)  und  seine 
Villa  in  Richmond  bildeten  das  Capri  dieses  modernen 
Tiberius.  Auf  der  Veranda  oder  an  dem  Fenster  seines 
Hauses  in  Piccadilly  konnte  man  ihn  in  den  letzten  Jahren 
seines  Leben  Tag  für  Tag  noch  sitzen  sehen,  den  Greis 
von  86  Jahren,  wie  er  die  vorübergehenden  Schönheiten 
mit  verliebten  Blicken  musterte  ^).  Sein  Groom  stand 
immer  vor  der  Thür,  um  ein  Mädchen,  das  ihm  bekannt 
war  oder  besonders  gefiel,  hereinzurufen.  Wie  viele  Scenen 
glänzenden  Lasters,  wahnsinniger  Excentricitäten  auf  dem 
Gebiete  des  Geschlechtsgenusses  hatten  sich  in  diesem 


1)  „Der  runzelige,  gelähmte,  zahnlose  alte  Don  Juan  starb 
ebenso  verderbt  und  ebenso  verstockt,  wie  er  es  in  den  feurigsten 
Zeiten  seiner  Jugend  und  Leidenschaft  gewesen  war.  In  einem 
Hause  in  Piccadilly  pflegte  man  ein  niedriges  Fenster  zu  zeigen, 
wo  der  alte  Queensberry  bis  zu  seinem  Ende  zu  sitzen 
pflegte,  um  die  vorübergehenden  Frauen  mit  lüsternen  Augen 
zu  betrachten“,  Thackeray  „Die  vier  George“  S.  85. 


174 


Hause  abgespielt,  die  von  den  Zeitgenossen  nur  scheu  an¬ 
gedeutet  werden,  aber  aus  den  Bezeichnungen  „orientali¬ 
sche  Wollust“,  „raffinirte  Sinnlichkeit“  zur  Genüge  er¬ 
schlossen  werden  können.  Das  Weib  war  ihm  alles,  In¬ 
begriff  des  Lebens  und  Daseins,  obgleich  er  zuletzt  auf 
einem  Ohre  taub  und  auf  einem  Auge  blind  wurde  und 
seinem  französischen  Leibarzte  Elise e  (früherem  Leibarzt 
Ludwigs  XV.)  für  jeden  Tag,  um  welchen  dieser  sein 
Leben  verlängerte,  eine  grosse  Summe  zahlte.  Auch  musste 
der  Arzt  zugleich  ihm  bei  der  Anknüpfung  seiner  Lieb¬ 
schaften  und  bei  dem  Arrangement  der  Liebesfeiern  be- 
hülflich  sein.  Old  Q  starb  nicht  an  der  Liebe,  sondern 
an  reichlichem  Obstgenusse,  über  86  Jahre  alt,  am  23. 
Dezember  1810,  dem  Tod  kalt  und  ruhig  ins  Auge  blickend, 
in  dieser  Beziehung  ganz  das  Gegenteil  des  frommen 
Samuel  Johnson.  Er  war  gleich  S  e  1  w  y  n  nie  ver¬ 
heiratet  und  hinterliess  seine  immensen  Reichtümer  seinen 
Verwandten,  vermachte  aber  über  1  Million  Pfund  Sterling 
der  Dienerschaft  und  mehreren  ehemaligen  Geliebten  i). 

Sir  Nathanael  Wraxall,  der  Old  Q  in  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  persönlich  kannte,  sagt  von  ihm : 
„Er  suchte  den  Genuss  in  jeder  Gestalt  und  ebenso  eifrig 
mit  80  Jahren  als  er  es  mit  20  gethan  hatte.  Nachdem 
er  alle  Vergnügungen  des  menschlichen  Lebens  erschöpft 
hatte,  setzte  er  sich  in  sein  Haus,  nahe  Hyde  Park  Corner, 
wo  er  Zuschauer  jener  bewegten  Scenen  wurde,  welche 

0  Verzeichnis  der  Legate  bei  Jesse  a.  a.  0.  I,  206—210^ 
Der  Apotheker  Füller  in  Piccadilly  verlangte  nachträglich 
10000  Pfund  für  9340  Besuche,  die  er  dem  Herzog  in  den  letzten 
7^2  Jahren  gemacht  haben  v^mllte,  sowie  für  1215  Nächte,  die 
er  bei  ihm  gewacht  hätte  I  Das  Gericht  sprach  ihm  7000  Pfund 
zu.  (Gentleman’s  Magazine  Bd.  81  Th.  H  S.  81.) 


175 


Johnson  „den  vollen  Strom  des  Menschenlebens“  genannt 
hat.  Ich  stand  während  der  letzten  7  Jahre  seines  langen 
Lebens  in  fast  täglichem  Verkehr  mit  ihm.  Sein  Körper 
war  eine  Ruine  geworden,  aber  nicht  sein  Geist.  Es  ist 
mne  Thatsache,  dass,  als  er  im  December  1810  im  Sterben 
lag,  sein  Bett  mit  mindestens  siebenzig  Billets  Doux 
und  Briefen  bedeckt  war,  welche  Frauen  und  Mädchen 
von  verschiedenster  Natur  und  aus  den  verschiedensten 
Ständen,  von  Herzoginnen  an  bis  herab  zu  Weibern  zweifel¬ 
haftesten  Genres,  an  ihn  gerichtet  hatten.  Nicht  mehr 
im  Stande,  die  Briefe  zu  öffnen  oder  durchzulesen,  befahl 
sie  uneröffnet  auf  sein  Bett  zu  legen,  wo  sie  bis  zu 
seinem  Tode  liegen  blieben.  —  Viele  fabelhaften  Geschichten 
über  ihn  wurden  in  der  Stadt  verbreitet  und  geglaubt,  so 
z.  B.  dass  er  ein  Glasauge  hätte,  dass  er  Milch-Bäder  ge¬ 
brauchte  (weshalb  nach  Jesse  die  Londoner  Jahre  hindurch 
eine  unüberwindliche  Abneigung  gegen  Milchgenuss  hatten) 
und  andere  unsinnige  Erzählungen.  Es  ist  jedoch  eine 
Thatsache,  dass  der  Herzog  in  seinem  Ankleidezimmer 
die  Scene  von  Paris  und  den  Göttinnen  aufführte.  Drei 
der  schönsten  Mädchen,  die  man  in  London  finden  konnte, 
erschienen  hier  vor  ihm  in  demselben  Kostüm  wie  die 
homerischen  Göttinnen  vor  Paris  auf  dem  Berge  Ida, 
während  er,  wie  jener  als  Hirt  gekleidet,  dasjenige  Weib 
mit  einem  vergoldeten  Apfel  beschenkte,  welches  er  als 
das  schönste  erkannt  hatte.  Diese  classische  Scene  fand 
in  seinem  Hause  gegenüber  dem  Green  Park  statt.  Weder 
der  von  Pope  erwähnte  Herzog  von  Buckingham,  dessen 
Leben  eine  einzige  wollüstige  Ekstase  war,  noch  irgend 
«iner  der  ausschweifenden  Edelleute,  die  seine  Zeitgenossen 
waren,  haben  jemals  so  extravagante  Handlungen  begangen, 
wie  sie  in  dieser  verlotterten  Periode  vorkamen“  ^). 


Jesse  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  200 — 203. 


176 


Aus  Old  Q’s  Leidenschaft  für  die  Musik  erklärt 
sich  die  Bevorzugung,  die  er  bei  seinen  Liebschaften  den 
Ballettänzerinnen  und  Opernsängerinnen  zu  Teil  werden 
Hess.  Seiner  Leidenschaft  für  die  Primadonnen  und 
Tänzerinnen  verdankte  die  italienische  Oper  in  London 
eine  namhafte  Unterstützung  mit  Geldmitteln.  Unter 
diesen  Geliebten  des  Herzogs  von  Queensberry  ist  be¬ 
sonders  die  Tänzerin  Zamparini  bekannt  (geboren  zu 
Venedig  1745),  deren  schöne  Züge  der  Maler  Hone  fest¬ 
gehalten  hat  (Reproduktion  des  Bildes  bei  Jessell,  69). 
Im  Jahre  1766  schreibt  Old  Q  an  seinen  in  Frankreich 
sich  aufhaltenden  Freund  Selwyn:  „Ich  liebe  dieses  kleine 
Mädchen ;  aber  wie  lange  diese  Liebe  dauern  wird,  kann 
ich  nicht  sagen.  Sie  kann  zunehmen,  oder  auch  zu  Ende 
sein,  bevor  Sie  zurückkehren“  Q.  Diese  Äusserung  ist 
charakteristisch  für  den  englischen  Don  Juanismus  jener 
Zeit.  Freilich  war  auch  „Lord  Piccadilly“  verrufen 
wie  kein  Anderer  wegen  der  grossen  Zahl  der  jährlich  von 
ihm  „absolvirten“  Liebschaften  und  seiner  ausserordent¬ 
lichen  Erfahrung  in  erotischen  Dingen,  weshalb  er  auch 
in  der  englischen  galanten  und  pornographischen  Litteratur^) 


Jesse  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  106. 

2)  Zunächst  kommt  hier  in  Betracht  das  interessante  Werk 
Ton  J.  P.  Henstone  „The  Piccadilly  Ambulator,  or  Old 
containing  Memoirs  of  the  private  life  of  the  evergreen  votary 
of  Venus“,  London  1808  (mit  einem  Bilde  des  Herzogs  auf  der 
Veranda  seines  Hauses  in  Piccadilly).  —  Ferner  wird  Old  Q 
erwähnt  in  den  Memoiren  der  Bellamy  Bd.  I  S.  59  (der 
französischen  Ausgabe),  in  Thackeray’s  „Virginians“,  wo  er 
als  Earl  of  March  auftritt,  in  den  „Serails  de  Londres“  und 
einem  anderen  Eroticum  „The  Wedding  Night;  or  Battles  of 
Venus,  a  Voluptuous  Disclosure  etc.“.  London  ca.  1880,  wo 
sich  eine  längere  Schilderung  des  Herzogs  findet,  in  Wraxall’s 


177 


Wie  schon  die  beiden  Freundesgruppen  um  George 
Selwyn  erkennen  lassen,  schieden  sich  die  englischen 
Don  Juans  des  17.  Jahrhunderts  in  zwei  Gruppen:  die 
adelige  und  die  bürgerliche.  Die  erstere  zeichnete  sich 
durch  einen  gewissen  Kosmopolitismus  i)  in  ihren  Ver¬ 
gnügungen  aus,  während  die  zweite  an  der  Scholle  haftete, 
hier  aber  desto  eifriger  und  toller  dem  Treiben  der  Vor¬ 
nehmen  nacheiferte,  so  dass  die  Wege  oder  besser  Abwege 
beider.  Teile  sich  häufig  kreuzten. 

Der  ersten  Gruppe  gehören  Männer  an  wie  George 
James  Williams,  besser  bekannt  als  G i  1 1  y  W i  1 1  i a m s , 
der  intime  Freund  S  el  wy  n’  s,  beinahe  so  witzig  wie  dieser,  2) 
Lord  Fe  der  ick  CaiTisle,  der  sich  und  sein  wildes 
Treiben  im  fashionablen  Spaa  so  aufrichtig  in  den  Briefen 

Memoiren,  Horace  Walpole’s  Briefen,  Wheatley’s  „Round 
about  Piccadilly“.  —  Wertlos  sind  die  „Memoirs  of  the  Life  of 
the  Duke  of  Queensberry“.  —  Jesse  hat  dem  vierten  Bande 
seines  grossen  Werkes  über  die  Epoche  von  George  Selwyn 
ein  Titelbild  beigegeben,  welches  uns,  nach  einem  Stiche  von 
J.  Cook,  die  Züge  des  berühmten  Old  Q  vor  Augen  führt. 
Es  ist  ein  jovial  lächelndes  Gesicht  mit  einer  grossen  Adler¬ 
nase,  welche  letztere  wiederum  den  alten  Volksglauben  zu  be¬ 
stätigen  scheint,  dass  Männer  mit  grossen  Nasen  auch  gross 
in  der*  Liebe  seien. 

1)  „Man  belustigte  sich  in  Versailles,  man  wohnte  den 
Wettrennen  in  den  Ebenen  von  Sablons  in  der  Nähe  von  Paris 
bei,  man  brachte  eine  Menge  Gemälde  und  Marmorstatuen  von 
Rom  und  Florenz,  Gebäude  und  grosse  Galerien  wurden  zu 
dem  Empfang  dieser  Kunstschätze  erbaut,  singende  und  tanzende 
Damen  erschienen  von  allen  europäischen  Opern  in  England, 
denen  die  edlen  Lords  Tausende  hinopferten  und  dabei  ihre 
ehrenhaften  Frauen  und  Kinder  zur  traurigen  Einsamkeit  der 
verödeten  heimatlichen  Schlösser  verdammten.“  Thackeray 
„Die  vier  George“  S.  82. 

Jesse  a,  a.  0.  Bd.  I.  S.  121 — 122. 


12 


178 


an  Selwyn  schildert^),  TopliamBeauclerk,  der  Freund 
Jolinson’s  und  wie  der  folgende  ein  grosser  Bücher¬ 
freund'^),  Lord  Pembroke,  den  Barth  old  sich  am 
liebsten  unter  dem  Bilde  des  genusssatten  Edelmannes  auf 
der  zweiten  Platte  der  „Mariage  ä  la  Mode“  von  Hogarth 
vorstellen  möchte  ^),  der  sich  und  seinesgleichen  aber  noch 
viel  besser  in  Casanova’s  Memoiren  geschildert  hat. 
Dieser  erzählt  nämlich: 

„Am  nächsten  Tage  empfing  ich  den  Besuch  des 
Lord  Pembroke. 

„Goddam“,  sagte  er  „der  König  wohnt  nicht  besser 
in  St.  James.  Drei  Wohnungen,  das  ist  Überfluss!  Wer 
hindert  Sie  denn,  in  den  oberen  Etagen  Weiber  aufzu¬ 
nehmen?“ 

„Mylord,  das  ist  es  eben,  was  ich  suche.  Kennen 
Sie  nicht  irgend  eine  hübsche  Frau,  welche  disponibel  ist?“ 

„Ich  könnte  sie  Ihnen  dutzendweise  nachweisen,  allein 
es  wäre  nicht  passend,  dass  Sie  meine  Überbleibsel  aus 
meinen  eigenen  Händen  empfingen.“ 

„Sie  sind  also  sehr  wankelmütig?“ 

„Ich  habe  nie  zwei  Mal  bei  derselben  Frau  schlafen 
können.“ 

„Sind  Sie  nicht  verheiratet?“ 

„Darüber  bin  ich  eben  wütend.  Das  hindert  mich 
übrigens  nicht,  als  Gar9on  zu  leben.  Ich  sehe  täglich  ein 
neues  Gesicht.  Ich  gebe  deshalb  auch  ungeheuer  viel  aus, 

1)  Thackeray  a.  a.  0.  S.  86. 

2)  Dictionary  of  National  Biography,  London  1885  Bd.  IV. 
S.  36.  (Der  Katalog  der  30000  Bände  umfassenden  „Bibliotheca 
Beauclerkiana“  befindet  sich  im  British  Museum). 

F,  W,  Barthold  „Die  geschichtlichen  Persönlichkeiten 
in  Jacob  Casanova’s  Memoiren“  Berlin  1846  Bd.  II.  S.  223. 


179 


denn  jeden  Abend  ausserhalb  zu  speisen,  das  richtet  einen 
zu  Grunde“  1). 

Eine  eigentümliche  Mischung  von  Lüderlichkeit,  Spleen 
und  gelehrten  Neigungen  nebst  dem  von  der  Mutter  ver¬ 
erbten  Wandertriebe  finden  wir  in  dem  Charakter  des  in 
einer  Schrift  von  Coat  es  als  der  „britische  Don  Juan“ 
verherrlichten  Edward  Wortley  Montague,  des  Sohnes 
der  berühmten  Lady  Mary  Wortley  Montague.  Sein 
Leben  (1713 —  1776)  bildete  eine  Ketfe  von  seltsamen 
Abenteuern  in  allen  Ländern  Europa’s  und  auch  in  Asien. 
Schon  als  Knabe  entfloh  er  mehrere  Male  dem  elterlichen 
Hause,  ging  einmal  zu  einem  Schornsteinfeger  in  die  Lehre, 
wurde  ein  andermal  Schiffsjunge  oder  Mauleseltreiber  in 
Spanien  ^).  Seine  Eltern,  die  ihm  mehrere  Male  verziehen, 
sagten  sich  zuletzt  von  ihm  los,  und  seine  Mutter  hinter- 
liess  ihm  nach  ihrem  Tode  —  eine  Guinee!^)  Nach  dem 
Tode  seiner  Eltern  verliess  er  England  ganz,  besuchte 
besonders  den  Orient,  wechselte  öfter  seine  Keligion  und 
starb  als  Muhamedaner.  In  allen  Ländern  hatte  er  zahl- 


Casanova’s  Memoiren  Bd.  XV.  S.  114 — 115.  —  Der¬ 
selbe  Lord  Pembroke,  dessen  Bibliophilie  schon  erwähnt 
Avurde,  hat  eine  beute  sehr  gesuchte  Ausgabe  der  obscönen 
Poesien  des  Yenetianischen  Patriciers  Giorgio  Baffo  ver¬ 
unstaltet  („Raccolta  universale  delle  opere  di  Giorgio  Baffo, 
Veneto“,  Cosmopoli  1789,  4  Bände).  Vgl.  Octave  Uzanne 
„Nos  Amis,  les  Livres.“  Paris  1886,  S.  60;  Victor  Ottmann 
„Jacob  Casanova“  S.  21. 

2)  Henry  Coat  es  „The  British  Don  Juan;  being  a  nar¬ 
rative  of  the  singulär  amours,  entertaining  adventures,  remar- 
kable  Iravels,  etc.,  of  the  Hon.  Edward  W.  Montague,  son 
of  the  celebrated  Lady  Mary  Wortley  Montague“  London  1823. 

3)  Arclienholtz  „England“  Bd.  III.  S.  81 — 82. 

0  Do  ran  „A  lady  of  the  last  Century“  S.  130. 

12* 


180 


reiche  Liebesabenteuer  und  von  verschiedenen  Frauen 
mehrere  Kinder.  Zuletzt  sehnte  er  sich  aber  nach  einem 
legitimen  Erben.  Sein  Plan  war,  ein  armes  Weib  zu  heiraten, 
das  bereits  schwanger  war  und  dann  das  während  der  Ehe 
geborene  Kind  zu  adoptiren.  Denn  er  war  von  seiner 
eigenen  Unfähigkeit  in  dieser  Beziehung,  wegen  seines 
Alters  und  seiner  Schwäche,  zu  sehr  überzeugt,  als  dass 
er  noch  sich  auf  ein  eigenes  Kind  Hoffnung  machen 
konnte^).  Daher  kündigte  er  wenige  Monate  vor  seinem 
Tode  den  Entschluss  an,  „eine  Wittwe  oder  alleinstehende 
Dame  von  guter  Geburt  und  feinen  Manieren,  aber  bereits 
im  fünften,  sechsten,  siebenten  oder  achten  Monate  der 
Schwangerschaft  befindlich“  zu  heiraten“).  —  Seine  Cousine 
Elizabeth  Montague  sagt  über  diesen  seltsamen  Kauz: 
„Als  ich  ihn  zuerst  kennen  lernte,  einen  Wüstling  und  Stutzer, 
ahnte  ich  nicht,  dass  er  sich  eines  Tages  mit  rabbinischen 
Studien  beschäftigen  und  dann  den  ganzen  Orient  als  der 
grosse,  reisende  Gelehrte  der  Welt  durchstreifen  würde“^). 

Ein  Seitenstück  zu  Edward  Montagu  stellt  der 
berüchtigte  Baltimore  dar,  dessen  türkischer  Harem  in 
London  schon  in  Bd.  1.  (S.  270 — 272)  geschildert  worden 
ist.  Nach  dem  gegen  ihn  angestrengten  Prozesse  wegen 
Notzucht,  der  aber  mit  seiner  Freisprechung  endigte,  ver- 
liess  er  England,  um  nie  wieder  dahin  zurückzukehren. 
Casanova  traf  ihn  in  Neapel.  Von  diesem  spleenigen 


0  Coates  a.  a.  0.  S.  209. 

0  The  Encyclopaedia  Britannica  8^^  edition,  Edinburg 
1860  Bd.  XV.  S.  506. 

Doran  a.  a.  0.  S.  130.  —  Er  schrieb  ausser  mehreren 
Abhandlungen  für  die  Royal  Society  auch  grössere  Werke,  u. 
a.  ein  Buch  „On  the  Rise  and  Fall  of  the  x4ncient  Republics“.. 


181 


Wüstling  giebt  Barth  old  nach  Lanaberg’s  „Menaorial 
d’un  mondain“  folgende  Schilderung. 

„Ein  britischer  Sonderling,  fast  so  toll,  aber  noch 
ausschweifender  als  Lord  Wortley  Montagne,  der 
Verehrer  unseres  deutschen  Abbah,  lockte  nach  wenigen 
Tagen  unsern  Keisenden  in  sein  „Pays  de  Cocagne“  nach 
Neapel.  Lord  Baltimore,  dessen  „blasirte“  Natur  den 
gefälligen  deutschen  Cicerone  Winkelmann  zur  Ver¬ 
zweiflung  gebracht  hatte,  zog  seit  mehreren  Jahren  rastlos 
durch  Europa,  und  war  entschlossen,  nie  zu  reisen  auf¬ 
zuhören,  weil  er  den  Ort  nicht  wissen  wollte,  wo  man  ihn 
begraben  würde.  Ein  Sultan  in  eigener  Weise,  reiste  er 
im  Jahre  1769  mit  acht  Frauen,  einem  Arzte,  zwei  Negern, 
welche  er  seine  Corregidores  nannte,  weil  sie  die  polizei¬ 
liche  Aufsicht  in  seinem  wandernden  Serail  ausübten.  Mit 
Hülfe  seines  Aeskulaps  sammelte  er  eigentümliche  Erfahr¬ 
ungen  über  seine  Houris;  er  nährte  die  Fetten  nur  mit 
Säuren,  die  Mageren  mit  Milchspeisen  und  Fleischbrühen. 
Als  er  mit  seinem  Gefolge  nach  Wien  kam,  ersuchte  ihn 
unser  bekannter  Graf  von  Schrottenbach  um  die  An¬ 
gabe,  welche  von  den  acht  Signoras  seine  Gemahlin  sei? 
Der  Lord  liess  antworten:  er  sei  ein  Engländer  und  da, 
wo  man  ihn  um  Eechenschaft  wegen  seiner  Ehe  angehe 
und  er  nicht  die  Sache  durch  einen  Faustkampf  ausfechten 
könne,  reise  er  stehenden  Fusses  ab“  ^). 

Man  wird  nach  diesen  Schilderungen  der  hervor¬ 
stechendsten  Typen  der  adligen  englischen  Lebemänner  des 
18.  Jahrhunderts  die  Überzeugung  gewonnen  haben,  dass  es 
sich  bei  ihnen  doch  um  eine  höchst  besondere  und  eigen¬ 
artige  Gattung  der  Don  Juans  handelte,  indem  die  Excen- 


9  R  W.  ßarthold  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  305-306. 


182 


tricitäten  des  englischen  Charakters  ihren  Abenteuern  und 
ihrem  ganzen  Treiben  einen  unverkennbar  speci fischen 
Stempel  aufgeprägt  haben.  Dies  konnte  um  so  deutlicher 
in  die  Erscheinung  treten,  als  jene  Koue’s  meist  über  im¬ 
mense  Reichtümer  verfügten,  die  ihnen  die  unbeschränkte 
Befriedigung  ihrer  sonderbaren  Gelüste  und  Liebhabereien 
gestatteten. 

Neben  diesen  Lebemännern  adliger  Herkunft  spielten 
diejenigen  aus  dem  Bürgerstande  eine  verhältnismässig 
geringere  Rolle,  wenn  sie  auch  als  Bordellhabitnes,  Be¬ 
sucher  der  öffentlichen  Promenaden,  Parks,  Vergnügungs¬ 
gärten,  Theater  und  Rennbahnen  nicht  weniger  eifrig 
waren  als  ihre  adligen  Nebenbuhler. 

Zu  diesen  bürgerlichen  Lebemännern  gehörten  u.  a. 
Charles  James  Fox,  der  berühmte  Staatsmann,  einer 
der  „bestgekleideten  Männer  seiner  Zeit“,  ein  Führer  der 
„Maccaronis“,  dabei  ein  Wüstling  von  schlimmstem  Rufe. 
„In  allen  lasterhaften  Neigungen,  in  wahnsinnigem  Luxus, 
in  wilden  Spässen,  in  der  Jagd  auf  Weiber  und  den  Excessen 
der  Flasche  übertraf  Fox  sehr  schnell  die  berüchtigsten 
Wüstlinge  von  Brookes’  und  Whites’.“i).  Ferner  ist 
hier  Samuel  Foote  zu  nennen  (1720 — 1777),  der 
„moderne  Aristophanes“,  Schauspieler  am  Haymarket- 
Theater  und  dramatischer  Dichter,  ein  sehr  verschwende¬ 
rischer,  lustiger  Lebemann,  der  an  allen  tollen  Streichen 
der  Taugenichtse  seiner  Zeit  sich  eifrig  beteiligte.  In  den 
„Serails  de  Londres“  wird  ein  Besuch,  den  er,  George 
Selwyn  und  Price  dem  Bordell  der  Hayes  machten, 
geschildert,  nachdem  Price  den  beiden  ersteren  durch 
eine  lange  Schilderung  der  ihrer  dort  harrenden  Genüsse 

L  Jesse  a.  a.  0.  Bd.  II.  S,  220. 

2)  „Serails  de  Londres“  S.  34 — 46. 


183 


den  Mund  wässrig  gemacht  hatte.  Hier  machen  sie  die 
Bekanntschaft  einer  berühmten  spanischen  Courtisane,  der 
„Gräfin  von  Medina“,  welche  ihre  an  galanten  Abenteuern 
reiche  Lebensgeschichte  zum  Besten  giebt.  Samuel 
Foote  hält  eine  kleine  Rede  an  Mrs.  Hayes,  in  welcher 
er  die  vortrefflichen  Einrichtungen  ihres  Bordelles  rühmend 
hervorhebt  und  George  Selwyn  macht  sich  an  die 
Untersuchung  der  —  Virginität  der  Insassinnen. 

Eifrig  wurden  die  Bordelle  auch  von  einem  anderen 
galanten  Freundes-Trio  frequentirt,  von  Tracey,  Derrick 
und  George  Alexander  Stevens,  dem  geistreichen 
Schriftsteller  und  Verfasser  der  „Lecture  on  heads“,  als 
welchen  wir  ihn  noch  im  10.  Kapitel  kennen  lernen  werden. 
Sie  verkehrten  vielfach  im  Bordell  der  VVeatherby,  wo 
die  Courtisane  Lucy  Cooper  sich  mit  ihnen  und  mit 
dem  Schauspieler  Palmer  u.  a.  Rendezvous  gab.  Tracey, 
der  auch  Charlotte  Hayes  aushielt,  war  „einer  der 
ausschweifendsten  jungen  Männer  des  Jahrhunderts“  in  Be¬ 
ziehung  auf  seinen  Verkehr  mit  dem  schönen  Geschlecht. 
Er  war  5  Fuss  9  Zoll  hoch,  hatte  den  Wuchs  eines  Herkules 
und  ein  sehr  angenehmes  Aussehen,  das  in  Verein  mit 
seiner  eleganten  Kleidung  ihm  den  Beinamen  des  „schönen 
Tracey“  verschaffte.  Er  war  gebildet,  wissbegierig,  besass 
eine  gute  Bibliothek,  und  pflegte  seine  Bücher  zu  lesen, 
während  der  Friseur  mit  seinen  Haaren  beschäftigt  war. 
Dies  motivirte  er  damit,  dass  man,  gleichzeitig  mit  der 
Verschönerung  des  Äusseren  seines  Kopfes  auch  für  dessen 
Inneres  sorgen  müsse !  Durch  seine  Auschweifungen  ruinirte 
Tracey  seine  Gesundheit  noch  vor  seinem  dreissigsten 
Jahre  und  starb  früh.  —  Derrick  war  oft  so  arm,  dass 
er  weder  Schuhe  noch  Strümpfe  hatte.  Als  er  eines  Tages 
sich  im  Cafe  Forrest  in  Charing  Cross  befand,  zog  er  sich 


184 


mehrere  Male  in  den  Tempel  der  Venus  Cloacina  zurück, 
um  seine  Strümpfe  in  Ordnung  zu  bringen,  deren  grosse 
Löcher  immer  wieder  zum  Vorschein  kamen.  Das  bemerkte 
der  berühmte  Schriftsteller  Tobias  Smollett  und  gab 
dem  armen,  schäbigen  Elegant  eine  Guinee,  damit  er  sich 
Strümpfe  und  Schuhe  kaufe  ^). 

Indem  wir  uns  die  Schilderung  eines  Georg  IV.  und 
seines  Freundes  George  Brumm  eil,  die  als  typische  Ver¬ 
treter  der  englischen  Lebewelt  an  der  Wende  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  stehen,  für  das  nächste  Kapitel  versparen, 
machen  wir  den  Beschluss  dieser  langen  Reihe  englischer 
Don  Juans  mit  einigen  Worten  über  Lord  Byron,  über 
dessen  Liebesieben  ein  so  erbitterter,  heute  aber  völlig 
entschiedener  Streit  getobt  hat. 

Von  Byron  kann  man  trotz  seiner  leidenschaftlichen 
Feuerseele,  trotz  seiner  früh  erwachten  Liebesregungen,  die 
ihn  schon  mit  8  Jahren  zu  Mary  Duff,  mit  12  Jahren 

zu  seiner  reizenden  Cousine^)  Margareth  Parker  in 

- -  0 

Serails  de  Londres  S.  7 — 9  und  15 — 16. 

Die  Cousine  ist  sehr  häufig  Gegenstand  einer  ersten 
oder  frühen  Liebe  im  Leben  der  grossen  Dichter  gewesen,  wie 
z.  B.  Heine’s.  Georg  Brandes  nennt  die  Cousinenliebe 
das  „in  der  Regel  erste  und  vorläufige  Stadium  auf  der  Liebes- 
bahn,  ein  gewissermassen  nur  als  Einweihung  in  das  eigent¬ 
liche  erotische  Leben  geltendes  Vorspiel“.  G.  Brandes  „Die 
Hauptströmungen  der  Litteratur  des  19.  Jahrhunderts“  6.  Aufl. 
Leipzig  1899  S.  134.  —  Von  der  Cousinenliebe  sagt  Richepin: 
Aux  pres  de  l’enfance  on  cueille 
Les  petites  amourettes 
Qu’on  jette  au  vent’feuille  ä  feuille; 

Ainsi  que  des  päquerettes. 

On  cueille  dans  ces  prairies 
Les  Yoisines,  les  cousines, 

Les  amourettes  fleuries 
Bt  qui  n’ont  pas  des  racines. 


185 


zärtlicher  Neiguno’  erglühen  Hessen,  nicht  behaupten,  dass 
■er  ein  „vielliebender“  Mann,  ein  typischer  Don  Juan  ge¬ 
wesen  sei.  Er  war  mehr  ein  „vielgeliebter“  Mann,  dem 
die  Frauen  in  seinem  Leben  stets  mehr  zugesetzt  haben 
als  er  ihnen.  Sein  Genie,  seine  Leidenschaft,  seine  Schön¬ 
heit  rissen  die  Frauen  hin  und  gewannen  ihm  ihre  Herzen 
im  Sturme.  Aber  das  seine  blieb  in  den  meisten  Fällen 
kalt,  wie  das  Verhältnis  zu  Lady  Caroline  Lamb  und 
auch  zur  Mutter  seines  Kindes  Allegra,  der  schönen 
Jane  Clara  Clairmont  bezeugt.  Im  „Don  Juan“  XV, 
12 — 15  und  XII,  74  hat  er  sein  Leben  in  der  englischen 
Gesellschaft  vor  dem  Eingehen  seiner  Ehe  geschildert. 
Brandes  sagt  von  dieser  Zeit:  „So  sehen  wir  Childe 
Harold  in  Person  sich  in  Don  Juan  verwandeln.  Der  einsame 
Pilger  ward  zum  Salonlöwen.  Ebenso  sehr  wie  Byron’s 
Poesie,  machten  natürlich  sein  hoher  Rang,  seine  Jugend 
und  seine  seltene  Schönheit  Eindruck  in  den  Damen¬ 
kreisen“  ^).  Walter  Scott  sagte  von  Byron’s  Äusserem: 
,Sein  Gesicht  war  Etwas,  wovon  man  träumen  konnte“. 
Und  eine  der  berühmtesten  Schönheiten  Englands  rief, 
als  sie  ihn  zum  ersten  Male  sah,  aus:  „Dies  blasse  Gesicht 
ist  mein  Schicksal“.  Auch  Ackermann,  der  neueste 
Byron -Biograph  kommt  bei  Betrachtung  des  Liebeslebens 
von  Lord  Byron  zu  dem  Ergebnis,  dass  er  in  vielen  Fällen 
„die  reinste  Verzauberung  auf  seine  Anbeterinnen  ausübte“, 
dagegen  selbst  kein  Sklave  des  Weibes  war^).  Die  Memoiren 
des  Francis  AnnKemble  geben  den  gewaltigen  Zauber 
deutlich  wieder,  den  dieser  schöne,  schwermütige  Mann 

H  Brandes  a.  a.  0.  Bd.  IV.  S.  303. 

Richard  Ackermann  „Lord  Byron.  Sein  Leben, 
seine  Werke,  sein  Einfluss  auf  die  deutsche  Litteratur“  Heidel¬ 
berg  1901  S.  59. 


186 


auf  das  weibliche  Geschlecht  ausübte.  Hieraus  kann  man 
entnehmen,  wie  schwer  es  Byron  werden  musste^,  in  seinen 
Beziehungen  zu  den  Frauen  sich  von  den  gewöhnlichen 
Grundsätzen  des  ehrsamen  Spiessbürgers  leiten  zu  lassen, 
wie  leicht  er  den  von  allen  Seiten  an  ihn  herantretenden 
Versuchungen  unterliegen  musste  und  wie  noch  leichter 
die  Eifersucht  der  sich  für  zurückgesetzt  haltenden  Frauen 
durch  Verleumdung  und  böswilligen  Klatsch  die  moralische 
Persönlichkeit  des  Dichters  zu  verunglimpfen  suchte.  So 
ist  Lord  Byron  in  den  Geruch  eines  lasterhaften  Don 
Juan  gekommen,  von  dem  sich  aber  die  prüde  englische- 
Gesellschaft  erst  dann  abwendete,  als  die  einst  so  rätsel¬ 
hafte  Tragödie  seiner  Ehe  mit  Annabella  Milbanke 
ausgespielt  war.  Diese  verliess  bekanntlich  nach  einem  Jahre 
plötzlich  ihren  Gatten,  und  es  wurde  auf  Grund  einer 
„geheimen  Mitteilung“  einer  Spionin  die  Ehescheidung 
beantragt.  Welches  diese  geheime  Mitteilung  war,  ist 
auch  noch  nicht  aufgeklärt^).  Sicher  ist  jedenfalls,  dass 
Lady  Byron  erst  viel  später  gegen  ihren  Gatten  die 
entsetzliche  Anklage  erhob,  dass  er  mit  seiner  Stiefschwester,. 
Mrs.  Augusta  Leigh,  blutschänderischen  Verkehr  ge¬ 
pflogen  habe.  Diese  Geschichte,  die  selbst  Jeaffreson 
für  „monströs  und  absolut  falsch“  erklärt^)  erzählte  sie 
Mrs.  Har  riet  Beecher  Stowe,  welche  wiederum  die 
ihr  gemachten  Enthüllungen  in  ihrem  verleumderischen 
Buche  vor  das  litterarische  Publikum  brachte^).  Die  gänz¬ 
liche  Nichtigkeit  dieser  Anklage  ist  zur  Genüge  durch  die- 

Vgl.  Ackermann  a.  a.  0.  S.  74 — 75. 

J.  C.  Jeaffreson  „The  real  Lord  Byron“  London 
1883  Bd.  II.  S.  355. 

H.  Beecher  Stowe  „Lady  Byron  yindicated  etc.“^ 
London  1870. 


187 


besten  Byron-Biographen  wie  Elze,  Jeaffreson,  Acker¬ 
mann  u.  A.  clargethan  worden. 

Einen  eigenartigen  Beitrag  zur  Frage  nach  dem  Grunde 
der  Trennung  Lady  Byron’s  von  ihrem  Gatten  liefern 
zwei  ohscöne  Dichtungen,  die  in  den  Jahren  1865 — 1866 
erschienen,  die  natürlich  bezüglich  des  Hauptpunktes  mit 
aller  Vorsicht  aufzunehmen  sind,  aber  doch  in  der  Ge¬ 
schichte  dieses  Eheklatsches  nicht  fehlen  dürfen,  weshalb 
sie  eingehender  besprochen  seien  ^).  Der  Titel  dieser  in 
einem  Bande  vereinigten  Gedichte  lautet: 

„Don  Leon;  A  Poem  by  the  late  Lord  Byron, 
Author  of  Childe  Harold,  Don  Juan,  etc.,  etc.  And  forming 
Part  of  the  Private  Journal  of  his  Lordship,  supposed  to 
have  been  entirely  destroyed  by  Thos.  Moore. 

„Pardon,  dear  Tom,  tliese  tboughts  on  days  gone  by; 

Me  men  revile,  and  thou  must  justify. 

Yet  in  my  bosom  apprehensions  rise, 

(For  brotlier  poets  liaye  their  jealousies) 

Lest  linder  false  pretences  thou  should’st  turn 
A  faithless  friend,  and  these  confessions  bnrn“. 

To  which  is  added  Leon  to  Annabella;  an  epistlc 
from  Lord  Byron  to  Lady  Byron.  London:  Printed  for  the 
Booksellers.  1866.“ 

Das  erste  Gedicht  „Don  Leon“  besteht  aus  1455 
Versen  und  ist  eine  begeisterte  Apologie  der  Päderastie. 
Lord  Byron  beschreibt  darin  seine  verschiedenen  päde- 
rastischen  Liebschaften,  entschuldigt  und  verteidigt  darin 
seine  Neigung  zur  Pädikation.  Als  Ursache  des  Ehekonfliktes 
wird  darin  die  an  seine  Gattin  während  ihrer  Schwanger¬ 
schaft  versuchte  und  vollzogene  Pädikation  angegeben : 

3)  Nach  Pisanus  Fraxi  „Index  librorum  prohibitornm*^ 
London  1877  S.  189-193. 


188 


Ah,  fatal  hour!  for  thence  iny  sorrows  date: 

Tlience  sprung  the  source  of  her  undying  hate. 

Fiends  from  her  breast  the  sacred  secret  wrung, 

Then  called  me  monster;  and,  with  evil  tongue, 
Mysterious  tales  of  false  Satanie  art 
Devised,  and  forced  us  evermore  to  part. 

Zu  seiner  Entschuldigung  führt  Lord  Byron  haupt- 
-sächlich  den  Grund  an,  dass  er  wegen  der  vorgeschrittenen 
Gravidität  seiner  Gattin  nicht  auf  legitime  Weise  den  Coitus 
habe  vollziehen  können. 

Das  zweite  Gedicht  „L e 0  n  to  Annabell;  an  epistle 
from  Lord  Byron  to  Lady  Byron,  explaining  the  real  cause 
of  eternal  Separation,  and  forming  the  most  curious  passage 
in  the  Secret  History  of  the  Noble  Poet“.  Hier  wird  zu¬ 
nächst  das  Urteil  des  Rechtsanwaltes  der  Lady  Byron, 
Lushington,  angeführt:  „Lady  Byron  kann  niemals 
wieder  mit  ihrem  Gatten  zusammen  leben.  Er  hat  ihr 
eine  Veranlassung  zur  Trennung  gegeben,  die  niemals  ent¬ 
hüllt  werden  kann.  Aber  die  weibliche  Ehre  verbietet 
jeden  weiteren  Verkehr.“  In  dem  Gedichte  wird  die  Ur¬ 
sache  der  Trennung  in  decenter  Weise  folgendermassen 
.angedeutet : 

Oh,  lovely  woman!  by  your  Maker’s  hand 
For  man’s  deiight  and  solace  wisely  planned. 

Thaukless  is  she  who  nature’s  bounty  mocks, 

Nor  gives  Love  entrance  wheresoe’er  he  knocks. 

*  * 

Matrons  of  Rome,  held  ye  yourselves  clisgraced 
In  yielding  to  your  husband’s  wayward  taste? 

Ah,  no!  —  By  tender  complaisance  ye  reign’d : 

No  wife  of  wounded  modesty  complained“  ^). 

Ein  Neudruck  yon  „Leon  to  Annabell“  erschien  unter 
•dem Titel :  „The  GreatSecret  Revealed!  Suppressed Poem 
by  Lord  Byron,  never  before  published,  Leon  to  Annabella. 


189 


Natürlich  ist  keins  der  beiden  Gedichte  wirklich  von 
Lord  Byron  verfasst.  P  i  s  a  n  u  s  F  r  a  x  i  erfuhr  von  einem 
mit  dem  Verleger,  William  Dugdale,  bekannten  Herrn, 
dass  Dugdale  beim  Ankauf  des  Manuscriptes  im  Jahre 
1860  wirklich  glaubte,  dass  die  Gedichte  von  Lord  Byron 
selbst  stammten  und  daher  sich  an  die  noch  lebende  Lady 
Byron  wenden  wollte,  um  eine  beträchtliche  Summe 
Geldes  für  das  Versprechen  der  Nichtverölfentlichung  her¬ 
auszuschlagen.  Er  unterliess  dies  aber  infolge  einer  War¬ 
nung  jenes  Herrn.  Letzterer  fand  bei  einer  Prüfung  der 
Gedichte  Anspielungen  auf  mehrere  Thatsachen,  die  sich 
erst  nach  dem  Tode  Lord  Byron’s  ereignet  hatten. 

Jedenfalls  ist  es  sehr  merkwürdig,  dass  bereits  vor 
der  Anklage  der  Mrs.  Beecher  Stowe  bereits  eine  andere 
Beschuldigung  gegen  Byron  veröffentlicht  wurde.  Beide 
Male  handelt  es  sich  um  ein  geschlechtliches  Verbrechen. 
Es  mag  aber  dahin  gestellt  bleiben,  ob  Blutschande  oder 
Pädikation  als  die  schwerere  Anklage  anzusehen  ist.  Für 
die  Begründung  beider  lässt  sich  nicht  der  geringste  that- 
sächliche  Anhaltspunkt  beibringen,  ebensowenig  für  die 
angebliche  Homosexualität,  über  die  Moll  sich  ver¬ 
breitet  i).  Was  Jeaffreson  über  Byron’s  „Harem“  in 
Venedig  berichtet^),  dürfte  bei  der  Parteilichkeit  dieses 
Autors  und  seiner  Vereingenommenheit  gegen  Byron, 

Lord  Byron  to  Lady  Byron,  An  Epistle  explaining  the  Real 
Cause  of  Eternal  Separation,  And  Justifying  the  Practice  which 
led  to  it.  Forining  the  most  Curious  Passage  in  the  Secret 
History  of  the  Noble  Poet,  Influencing  the  Whole  of  Ilis  Future 
Career,  etc.“  —  Ein  noch  späterer  Neudruck  erschien  1875  in 
Brüssel. 

A.  Moll  „Die  konträre  Sexualempfindung“  3.  Auflage, 
Berlin  1899  S.  136—137. 

2)  J.  C.  Jeaffreson  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  68. 


190 


ebenfalls  cum  grano  salis  zu  nehmen  sein,  wenn  auch 
nicht  zu  leugnen  ist,  dass  der  Dichter  in  Venedig  sich 
ausserordentlichen  sexuellen  Ausschweifungen  ergab,  die 
hauptsächlich  die  Veranlassung  zu  der  grossen  Litteratur 
seiner  ,, Liebesabenteuer“  gegeben  haben  ^). 

Mit  Georg  IV.  (f  1830),  der  bis  in  seine  letzten 
Lebensjahre  sein  liederliches  Leben  fortgesetzt  hatte,  gelangte 
diese  ganze  galante  Zeit,  welche  die  zweite  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  und  das  erste  Drittel  des  19.  umfasst, 
zu  ihrem  Abschlüsse;  und  es  folgte  —  abgesehen  von  der 
kurzen  Kegierungszeit  des  Königs  Wilhelm  IV.  —  die 
auf  beinahe  65  Jahre  sich  bis  zur  unmittelbaren  Gegenwart 
erstreckende  lange  victorianische  Aera,  in  welcher  auch 
der  äusserliche  Charakter  der  vornehmen  Gesellschaft  ein 
durchaus  anderer,  man  darf  sagen  moralischerer  wurde, 
wenn  dies  letztere  Epitheton  auch,  wie  wir  kurz  darlegen 
werden,  eine  gewisse  Einschränkung  erfahren  muss. 

Stets  ist  der  Einfluss  und  die  Haltung  des  Hofes 
von  grösster  Bedeutung  für  den  Charakter  und  das  sitt¬ 
liche  Verhalten  der  vornehmen  Gesellschaft,  und  da  diese 
wiederum  vom  Bürgerstande  nachgeahmt  wird,  für  das 
ganze  gesellschaftliche  Leben  überhaupt.  So  konnte  das 
mustergültige,  glückliche  und  reine  Familienleben  der 
Königin  Victoria  nicht  ohne  Wirkung  bleiben  und  musste 
dem  wilden  Treiben  der  Kegentschaftsepoche  ein  jähes 
Ende  bereiten.  An  die  Stelle  der  Spielhöllen,  der  galanten 
Promenaden  von  ßanelagh  und  Vauxhall,  des  Tavernen- 
und  Bordelllebens  traten  die  streng  moralischen  fashionablen 

9  Z:  B.  „The  Loves  of  Byron,  his  Intrigues  with  Celebrated 
Women;“  „Amours  of  Lord  Byron“  London  1848;  „Private  In¬ 
trigues  of  Lord  Byron“ ;  „Privae  Life  of  Lord  Byron“  ;  C.  Reiter 
„Lord  Byrons  Liebesabenteuer“  ca.  1858,  2  Teile. 


191 


Klubs,  an  die  Stelle  der  so  viel  Gelegenheit  zu  Liebeleien 
und  zur  Verführung  bietenden  Routs  die  unschuldigen 
Receptions  und  Gard  en-Parties.  Das  Duell  wurde 
aufgehoben,  das  Theater  gründlich  reformiert,  und  so  war 
und  ist  die  heutige  vornehme  Gesellschaft  äusseiTich 
ein  Bild  der  sittlichen  Reinheit.  Nur  schade,  dass  ab  und 
zu  grelle  Blitze  eine  dunkle  Kehrseite  erhellen ! 

Solche  grelle  Blitze  sind  die  immer  sich  wiederholenden 
skandalösen  Ehebruchsprozesse,  solch  ein  fürchterlicher  Blitz 
war  die  Enthüllung  der  „Pall  Mall  Gazette“  über  die 
epidemisch  grassirende  Deflorationsmanie  der  SOiger  Jahre, 
die  in  ihrer  Art  wirklich  einzig  und  specifisch  englisch 
ist,  solche  Blitze  schleudert  in  jedem  Jahre  die  sogenannte 
„E lopement  Season“,  die  Entführungssaison,  in  der 
irgend  eine  vornehme  Lady  von  ihrem  Reitknecht  oder 
Kutscher  sich  entführen  lässt. 

Und  auch  das  galante  Leben  ist  nicht  völlig  erloschen. 
Nur  sucht  der  heutige  vornehme  Don  Juan  seine  Liebes¬ 
abenteuer  mehr  in  Paris  als  in  London,  und  besonders 
zur  Zeit  des  zweiten  Kaiserreichs  waren  die  vornehmen 
und  reichen  Engländer  ein  von  den  berühmten  Pariser 
Lionnes  sehr  begehrter  Artikel.  Dennoch  fehlt  es  auch 
in  der  heutigen  vornehmen  Gesellschaft  nicht  an  jenen 
mysteriösen  Wesen  aus  jener  anderen  Welt,  die  man  die 
halbe  nennt.  Es  giebt  sogar  gewisse  elegante  Damen,  die 
eine  vornehme  Wohnung  innehaben,  von  ihren  Revenuen 
leben  und  doch  weder  ehrbare  bürgerliche  Frauen  noch 
wirkliche  Kokotten  sind.  „C’est  une  femme  qui  garde  sa 
liberte  et  sa  dignite,  qu’on  n’approche  que  difficilement, 
qui  choisit  ses  compagnons  de  tendresse  non  sur  la  livree 
nais  d’apres  son  goüt.  Elle  garde  son  independance,  ne 
dedaigne  ni  les  cadeaux  ni  l’argent  offert,  mais  ne  lie  pas 


192 


son  existence.  Elle  aime  le  plaisir  on  femme  du  monde^ 
exquise  et  raffinee,  et  flanquerait  ä  la  porte  le  goujat  qui 
se  permettrait  des  plaisanteries  grossieres.  Elle  ne  ruine 
pas  les  hommes  comme  nos  sauteuses  parisiennes,  et  se 
livre  ä  l’amour  pour  Pamoiir,  y  apportant  tont  autant  de 
feu  que  le  partenaire“  i).  Hier  haben  wir  also  eine  Ver¬ 
wirklichung  des  Ideals  der  „freien  Liebe“. 

Neben  diesen  Frauen  giebt  es  immer  noch  vornehme 
Kokotten,  die  man  zur  Promenadenzeit  in  Bond  Street 
und  im  Hyde  Park  trifft  und  die  von  dem  Umgänge  mit 
anständigen  durchaus  nicht  gänzlich  ausgeschlossen  sind. 

Das  Bild,  welches  in  einem  bekannten  Buche  „Aus 
der  Londoner  Gesellschaft  von  einem  Heimischgewordenen“ 
(Leipzig  1885)  ein  fremder  Diplomat  von  dem  englischen 
High  Life  gezeichnet  hat,  ist  im  allgemeinen  ein  treues. 
Auch  er  vergisst  nicht,  die  hinter  der  Prüderie  sich  ver¬ 
bergende  Frivolität  zu  kennzeichnen,  die  besonders  in  den 
heiklen  Gesprächsthemen  oftmals  deutlich  ans  Tageslicht 
tritt ‘^).  Grelle  Streiflichter  auf  diesen  dunklen  Untergrund 
des  englischen  Gesellschaftslebens  lässt  auch  die  Verfasserin 
eines  Buches  fallen,  welches  1861  in  dem  bekannten  Berliner 
Verlage  von  Otto  Janke  erschien  und  den  Titel  führt: 
„Denkwürdigkeiten  einer  deutschen  Erzieherin“.  Diese 
Denkwürdigkeiten,  welche  durchaus  authentisch  sind  und 
wirkliche  Erlebnisse  und  Eindrücke  wiedergeben,  enthalten 
auch  einige  erschreckende  Schilderungen  der  sittlichen 
Verderbtheit  in  gewissen  englischen  Adelskreisen,  auf  die 
an  anderen  Stellen  noch  Bezug  genommen  werden  wird.. 


Re  1110  „La  vie  galante“  en  Angleterre“  S.  44 — 45. 
„Aus  der  Londoner  Gesellschaft“.  S.  118. 


193 


Es  dürfen  diese  Schattenseiten  in  dem  Leben  der 
vornehmen  englischen  Gesellschaft  um  so  weniger  ver¬ 
schwiegen  werden,  als  sie  für  gewöhnlich  durch  jene  schon 
so  oft  erwähnte  Prüderie  verdeckt  werden  und  als  ihnen 
auf  der  anderen  Seite  ein  so  hoher  und  edler  Lebensgenuss 
gegenübersteht,  wie  er  nur  in  England  möglich  ist.  Und 
deshalb  schliesse  ich  gern  diese  Schilderungen  mit  dem 
freundlichen  Bilde  jener  verfeinerten  Lebenskunst,  wie  es 
uns  der  Kunstkenner  Wagen  gezeichnet  hat^). 

„Fasst  man  alles  zusammen,  so  kann  man  wohl  be¬ 
haupten,  dass  niemand  das  Leben  auf  eine  so  edle  und 
mannigfaltige  Weise  geniesst  als  Engländer  aus  den  höheren 
Kreisen  der  Gesellschaft,  welche  sich  neben  dem  Reichtum 
auch  einer  allgemeinen  geistigen  Bildung  erfreuen.  Nimm 
zu  jenen  würdigen  erhebenden  Umgebungen  bildender  Kunst, 
zu  jenen  musikalischen  Genüssen  den  bequemsten  Gebrauch 
von  allen  Schätzen  der  Litteratur,  welcher  ihnen  durch 
ihre  trefflichen  Privat  -  Bibliotheken  geboten  wird,  den 
Aufenthalt  auf  den  reizendsten  Landsitzen,  oder  die  Reisen 
in  den  schönsten  Gegenden  Europa’s,  endlich  die  viel¬ 
seitigste  und  interessanteste  gesellige  Berührung,  so  wirst 
Du  mir  zugeben,  dass  ihnen  nicht  viel  zu  wünschen 
übrig  bleibt“. 


3.  Lady  Emma  Hamilton. 


Als  eine  ausserordentliche  Erscheinung  unter  den  vielen 
schönen  und  galanten  Frauen  des  18.  Jahrhunderts  tritt 

9  Wagen  „Kunstwerke  und  Künstler  in  England“  Bd.  II 

S.  78. 


13 


194 


uns  ein  Weib  entgegen,  das  nicht  nur  in  ilirem  Äusseren 
den  verkörperten  Typus  der  wunderbaren  englischen  Frauen¬ 
schönheit  darstellt,  („that  incarnation  of  healthy  animal 
beauty“)  ^),  sondern  auch  selbst  eine  Bildnerin  der  Schön¬ 
heit  und  des  Schönen  war,  welches  sie  selbstherrlich  ge¬ 
staltete,  mit  einem  sehr  eigenartigen  Gestaltungsmaterial  — 
dem  eignen  Körper.  Dieses  Weib  war  Emma  Damilton, 
deren  wunderbares  Leben  und  Schicksal  zugleich  einen 
merkwürdigen  Beitrag  zur  Sittengeschichte  der  vornehmen 
englischen  Gesellschaft  jener  Zeit  bildet  und  daher  wohl 
einer  näheren  nnd  besonderen  Betrachtung  wert  ist. 

Emma  Lyon  wurde  1761  in  der  Grafschaft  Chester 
als  Kind  armer  Eltern  geboren,  kam  mit  12  Jahren  als 
Kinderwärterin  in  die  Familie  des  Arztes  Thomas  zu 
Hawarden,  welcher  sie  stets  ein  dankbares  Andenken  be¬ 
wahrte.  Mit  16  Jahren  trat  sie  einen  Dienst  bei  einem 
Krämer  in  London  an,  kam  dann  zu  einer  reichen  Dame, 
bei  welcher  sie  ihre  grosse  Leselust  befriedigen  konnte  und 
alle  möglichen  schlechten  Eomane  durcheinander  las,  was 
ihre  Phantasie  frühzeitig  erhitzte  und  verwirrte.  Ihre  sich 
immer  mehr  entwickelnden  körperlichen  Reize  verschafften 
ihr  eine  Stellung  in  einer  Familie,  in  welcher  sie  an  allen 
Gesellschaften  und  Vergnügungen  derselben  teilnahm,  und  wo 
auch  ihr  Sinn  für  die  mimischen  Künste  geweckt  wurde. 

Ihre  fernere  Laufbahn  wurde  bestimmt  durch  ihre 
unvergleichliche  Schönheit.  Ein  Zeitgenosse  schildert 
uns  ihre  äussere  Erscheinung  folgendermassen. 

„Mit  dem  anmutsvollsten  Wüchse  verband  sie  eine 
vollkommen  regelmässige  Gesichtsbildung  und  etwas  unbe¬ 
schreiblich  Liebliches  und  Anziehendes  im  Ausdrucke  ihrer 


9  Trail  „Social  England“  Bd.  Y.  S.  299. 


195 


'Gesiclitszüge  und  Mienen.  Ihre  zephyrartige  Gestalt  lieh 
jeder  ihrer  Bewegungen  eine  seltene  Grazie,  lieicht  und 
tändelnd  hatte  ihre  Kegsamkeit  nichts  ungestünaes  und 
die  Heiterkeit,  die  sie  umschwebte,  war  weit  entfernt  von 
dem  Ausdruck  anlockenden  Leichtsinns.  Ihre  Silberstimme, 
ihr  ausdrucksvoller,  durch  das  richtigste  Gehör  geleiteter, 
natürlicher  Gesang  fing  schon  an,  im  häuslichen  Kreise 
zu  bezaubern  und  bald  ward  sie  als  thätige  Teilnehmerin 
an  den  dramatischen  Spielen  des  Hauses  ein  Gegenstand 
allgemeiner  Bewunderung  und  einstimmigen  Lobes.  Schon 
begann  sie,  jene  Kühnheit  und  Sicherheit  in  ihrer  Haltung 
und  ihrem  ganzen  Wesen  zu  zeigen,  welche  ihr  vorwaltender 
Charakterzug  blieb“ 

Palumbo  hat  ihr  Wesen  in  reiferen  Jahren  geschildert, 
in  dem  eindrucksvollen  italienischem  Idiom,  welches  uns 
menschlicheBeize  noch  treuer  malt  als  jede  andere  Sprache'-^). 

Emma  knüpfte  die  ersten  galanten  Beziehungen  auf 
eigentümliche  Weise  an.  Ein  Verwandter  von  ihr  wurde 
zum  Matrosen  gepresst,  und  als  sie  sich  bei  dem  Kapitän 
John  Willet  Payne  für  dessen  Freilassung  verwendete. 


9  „Geschichte  der  Lady  Emma  Hamilton“  Leipzig  1816 
S.  25—26. 

„Emma,  giä  adolescente,  era  dotata  di  singolare  bellezza 
che  attraeya  lo  |sguardo  di  chi  si  recava  in  quella  bottega. 
Le  sue  forme  gentili,  la  dolcezza  del  suo  sguardo  seducente, 
la  grazia  semplice  ed  elegante,  un  tono  di  voce  insinuante  e 
che  scendera  al  cuore,  i  modi  nrbani  e  familiari,  facevano  di 
lei  una  di  quelle  bellezze  che  quando  riuniscono  in  se  un 
animo  sensibile  e  passionato,  quadagnano  a  prima  vista  il 
piü  anstero  degli  uomini;  ella  potea  dirsi  appartenere  al 
numero  delle  piü  attraenti  bellezze  inglesi  del  sno  tempo“. 
Palumbo  „Maria  Carolina:  suo  carteggio  con  Lady  Emma 
Hamilton“  Neapel  1877  S.  8. 


13* 


196 


erlangte  sie  diese  nur  um  den  Preis  ihres  eigenen  Körpers. 
Sie  wurde  die  Geliebte  des  Kapitäns.  Darauf  verliebte  sich 
Sir  Henry  Feathersto n,  ein  reicher  und  angesehener 
Edelmann  in  sie,  und  sie  wurde  diesem  von  ihrem  ersten 
Liebhaber  abgetreten,  worauf  sie  auf  Featherston’s  Land¬ 
sitz  in  Sussex  einige  Monate  lang  in  Glanz  und  Genuss  lebte. 
Im  Herbst  führte  der  Edelmann  sie  nach  London,  verliess 
sie  aber  bald  gänzlich,  so  dass  sie  der  Armut  preisgegeben 
war.  Da  machte  sie  zufällig  die  Bekanntschaft  des  be¬ 
rüchtigten  Charlatans  Dr.  Graham,  des  Besitzers  jenes 
berühmten  „Tempels  der  Gesundheit“,  den  wir  im  5.  Kapitel 
kennen  lernen  werden.  Graham,  von  ihrer  Schönheit 
entzückt,  fasste,  um  „den  beschreibenden  Erklärungen 
seiner  Lehre  neues  Leben  zu  geben  und  den  sich  schon 
beschränkenden  Kreis  seiner  Schüler  auszudehnen“,  den 
kühnen  Entschluss,  ihnen  in  seinen  Vorlesungen  als  „Er¬ 
läuterungsmittel“  ein  junges  weibliches  Wesen  vorzuführen^ 
welches  zum  vollkommenen  Vorbilde  der  Gesundheit  und 
Schönheit  geeignet  wäre.  Er  suchte  und  fand  —  Emma, 
die  von  dem  Bande  des  Elends  plötzlich  zur  Kepräsentantin 
der  segensreichsten  Gottheiten  erhoben,  im  einfachsten 
Naturgewande  den  ganzen,  schnell  anwachsenden  Kreis 
lernbegieriger  Schüler  entzückte  und  mehreren  berühmten 
Malern  und  Bildhauern  zum  Muster  diente.  Mehrere- 
damals  verfertigte  schätzbare  Kunstwerke  beider  Gattungen 
waren  Nachbildungen  dieser  lieblichen  Formen.  Die  Zahl 
ihrer  Verehrer  ward  immer  grösser  und  beeiferte  sich,  sio 
auch  in  ihrer  äusseren  Lage  über  jeden  Mangel  zu  erheben“^). 

Besonders  der  exzentrische  Maler  Eomney  benutzte 
ihre  charakteristischen  Darstellungen  zu  artistischen  Nach- 


1)  „Geschichte  der  Lady  Emma  Hamilton“  S.  29 — 1^0.. 


197 


bildungen.  „Ein  zweiter  Apelles  er,  der  früher  schon 
ein  edles  Weib  und  zwei  Kinder  verlassen,  ward  Emma 
seine  Campaspe;  und  oft  sah  man  ihn  mehrere  Werke  ver¬ 
nachlässigen,  um  sein  Idol  in  irgend  einem  neuen  Charakter 
oder  in  einer  neuen  Stellung  zu  zeichnen  ...  Er  fühlte 
sich  entzückt  im  Anschauen  der  wunderbaren  Gewalt,  mit 
welcher  sie  ihre  beredten  Gesichtszüge  zu  beherrschen 
wusste;  und  unter  allen,  oft  sonderbar  wechselnden  Um¬ 
ständen,  worin  das  Schicksal  sie  versetzte,  suchte  sie  einen 
edeln  Stolz  darin,  ihm  als  Modell  zu  dienen.  Und  immer 
belebten  und  veredelten  die  Kraft  und  Mannigfaltigkeit 
des  Ausdrucks  ihrer  Empfindungen  die  Werke  des  Künstlers. 
Eins  der  ersten  Gemälde,  welches  er  nach  dem  beseelten 
Modell  entwarf,  war  Circe  in  Lebensgrösse,  mit  ihrem 
Zauberstabe.  Er  malte  es  ungefähr  um  das  Jahr  1782, 
und  die  Wirkung,  die  es  hervorbrachte,  war  ausserordent¬ 
lich.  Eine  Calypso,  eine  Magdalene,  eine  Wald- 
n  y  m  p  h  e  ,  eine  Bacchantin,  die  Pythische 
Priesterin  auf  dem  Dreifuss  und  eine  heilige 
Cäcilia  verdankten  dem  nämlichen  schönen  Urbilde  ihren 
Ursprung“  ^). 

Unter  den  zahlreichen,  von  Komney  gemalten  Bild¬ 
nissen  Emma ’s  stellt  eines  der  lieblichsten  sie  dar,  wie 
sie  mit  einer  gemischten  Empfindung  der  Bewunderung 
und  des  Entzückens  auf  eine  Sensitive  schaut,  wobei  die 
Idee  des  Künstlers  war,  in  ihr  eine  Gottheit  des  Gefühles 
zu  bezeichnen  ^). 


1)  a.  a.  S.  31—32. 

2)  Vgl.  Chesneau  „La  peinture  angiaise“  S.  50 — 51 
H.  D.  Traill  „Social  England“  Bd.  V.  S.  299. 


198 


Ein  sehr  kunstliebender  Edelmann  Sir  Charles- 
Greville,  aus  dem  Hause  Warwick,  machte  ebenfalls 
Emma  zu  seiner  Geliebten,  bildete  ihre  Talente  weiter 
aus  und  führte  sie  nach  Eanelagh,  damals  „dem  Lieblings¬ 
aufenthalt  der  Fröhlichkeit  und  Galanterie,  wo  ihre  Nymphen¬ 
gestalt  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  zog,  und 
solche  Bewunderung  erregte,  dass  sie  sich  veranlasst  sah, 
dem  um  sie  versammelten  Kreise  mehrerer  Freunde  ihres 
Geliebten  den  Genuss  einiger  höchst  anziehender  Proben 
ihrer  musikalischen  und  mimischen  Talente  zu  geben“ i). 
Sie  nahm  ihre  Mutter  zu  sich,  nannte  sich  jetzt  Emma 
Harte  und  wurde  von  Sir  Greville  Mutter  von  drei 
Kindern,  zwei  Töchtern  und  einem  Sohn,  für  deren  Tante 
sie  galt. 

Sir  Charles  Greville  war  der  Neffe  des  berühm¬ 
ten  Diplomaten  und  Kunstkenners  Sir  William  Ha¬ 
milton,  des  britischen  Gesandten  am  Hofe  von  Neapel, 
des  von  Winkelmann  und  Goethe  gepriesenen  Freundes 
und  Gönner  aller  nach  Italien  wallfahrtenden  Künstler. 
Wraxall  schildert  Sir  William  Hamilton  als  eine 
Gestalt  dem  Sennor  Rolando,  dem  Räuberhauptmann  in 
Gil  Blas  ähnlich,  mit  langem,  magerem,  dunkelbiaunem 
Gesichte  und  einer  grossen  Adlernase,  mit  zwar  etwas 
gemeinen,  doch  geistreichen  Zügen. 

Hamilton  gehört  zu  der  Zahl  jener  gelehrten 
englischen  Epikuräer,  die  sich  seit  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  im  sonnigen  Italien  niedergelassen  hatten,, 
um  hier  in  einer  milden  Natur  und  umgeben  von  den 

9  Geschichto  der  Lady  Hamilton  S.  33. 

Barthold  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  308.  Auf  dem  Bilde  von 
B  eechey  erscheint  er  als  eine  zusammengeschrumpfte  Gestalt, 
mit  kleinen  Augen  und  von  fahler  Gesichtsfarbe. 


199 


herrlichsten  Kunstschätzen,  im  Verkehr  mit  Gelehrten  und 
Künstlern,  die  Freuden  des  Lebens  in  reichstem  Maasse 
zu  gemessen.  Ich  nenne  von  ihnen  ausser  Hamilton 
noch  Sir  Horace  Man,  den  englischen  Kesidenten  in 
Florenz,  Acton,  den  Minister  Ferdinands  IV.  von 
Neapel,  Lord  Pembroke.  So  führte  auch  William 
Hamilton  in  Neapel  ein  äusserst  vielseitiges  Genuss¬ 
leben.  Er  „trieb  die  modische  Philosophie,  auch  die 
Dichtkunst,  studierte  wie  der  ältere  Plinius  die  Erschein¬ 
ungen  des  Vesuvs  und  als  moderner  Pausanias  die  Alter¬ 
tümer  von  Pompeji  und  Herkulanum.  Dabei  war  er  der 
leidenschaftlichste  Jäger  und  konnte,  selbst  als  Sieben- 
zigjähriger  Tage  und  Wochen  hindurch  mit  dem  Könige 
in  den  Bergwäldern  umherziehen,  oder  im  Sonnenbrände 
auf  offenem  Bote  den  Fischen  mit  dem  Wurfpfeile  nach¬ 
stellen.  Sein  Feuer  und  seine  bacchantische  Lust  an 
Leibesbewegungen  war  selbst  in  noch  höherem  Alter  so 
wenig  erloschen,  dass  er  noch  im  April  1801,  zur  Feier 
des  Sieges  Lord  Nelsons  vor  Kopenhagen,  mit  seiner 
Gattin  die  Tarantella  tanzte,  und  die  vierzig  Jahre  jüngere 
Virtuosin  gänzlich  erschöpfte.  Dass  der  italienisierte 
Schotte  auch  an  solcher  Augenweide  Gefallen  hatte,  wie 
der  Prinz  von  Francavilla  seinen  Gästen  beiderlei  Ge¬ 
schlechts,  unter  ihnen  der  Herzogin  von  Kingston  und 
Casanova,  anstössig  für  unser  sittliches  Gefühl  ver¬ 
anstaltete,  erfahren  wir  aus  Göthe’s  Reise,  welcher  nach 
Tische  ein  Dutzend  Jungen  im  Meere  schwimmen  sah, 
eine  Lust,  welche  Ritter  Hamilton  jeden  Nachmittag 
bezahlte.“ 

Dieser  kunst-  und  lebensfrohe  Mann  kam  im  Jahre 
1789  nach  London  und  lernte  hier  im  Hause  seines 


9  ibidem  S.  309. 


200 


Neffen  Greville  die  schöne  Geliebte  desselben  kennen, 
deren  Schönheit  und  künstlerischer  Geist  ihn  sofort  ge¬ 
fangen  nahmen  und  die  lebhafteste  Begierde  nach  ihrem 
Besitze  in  ihm  erweckten.  Greville’s  missliche  Ver¬ 
mögensumstände  begünstigten  die  Erfüllung  dieses  Wun¬ 
sches,  und  so  fand  Hamilton,  wie  Goethe  in  der 
italienischen  Reise  sagt,  „nach  so  langer  Kunstliebhaherei, 
nach  so  langem  Naturstudium,  den  Gipfel  aller  Natur- 
und  Kunstfreude  in  einem  schönen  Mädchen.“  Emma 
begleitete  ihn  nach  Italien  und  vervollkommnete  sich  dort 
unter  Hamilton’s  Leitung  in  ihren  künstlerischen 
Anlagen  so  sehr,  dass  der  entzückte  Lehrer  sie  schon  im 
folgenden  Jahre  heiratete,  wodurch  sie  den  Zutritt  bei 
Hofe  erlangte.  Hier  gewann  sie  bald  sehr  grossen  Einfluss, 
welcher  besonders  durch  ihre  immer  grösser  werdende 
Vertraulichkeit  mit  der  Königin  Karolina  von  Neapel  sich 
befestigte.  Über  den  Charakter  und  die  ausschweifende 
Lebensweise  der  letzteren  habe  ich  in  meinem  Werke  über 
den  Marquis  de  Sa d e  (3.  Auflage  S.  288 — 291)  aus¬ 
führliche  Mitteilungen  gemacht.  Nach  der  kritischen 
Revision  der  Mitteilungen  von  G  o  r  a  n  i  und  C  o  1  e  i  t  a  durch 
den  deutschen  Forscher  Moritz  Brosch  kann  nicht 
bezweifelt  werden,  dass  Karoline  den  Beinamen  einer 
neapolitanischen  Messalina  verdient,  indem  sie  nicht  nur 
mit  zahlreichen  Männern  vertraute  Beziehungen  unterhielt, 
sondern  auch  zu  ihrer  Freundin  Emma  Hamilton 
in  naturwidriger  Liebe  entbrannte.  Beide  waren  unzer¬ 
trennlich  und  wetteiferten  im  Arrangement  üppiger  Feste 
und  in  der  künstlerischen  Verfeinerung  eines  beständigen 
Genusslebens.  Emma  fand  auch  hier  zahlreiche  An¬ 
beter  und  blieb  keineswegs  unempfindlich  gegen  dieselben. 
So  erfreute  sich  u.  a.  Graf  Bristol,  der  Bischof  von 


201 


Derry,  ihrer  Gunst,  ein  geistvoller,  lebhafter,  derbwitziger 
Mann,  dessen  Unterhaltung  unerschöpflich  an  Anekdoten 
und  Conmots  war.  Einer  der  Briefe  Lord  Bristol’s  an 
Lady  Hamilton  schliesst  mit  den  Versen: 

Wär’s  Raserei,  o  Emma,  Dich  zu  lieben. 

Wer  strebte  jemals  weise  dann  zu  sein? 

Die  berühmteste  und  für  ihr  Leben  folgenreichste 
Liaison  der  Lady  Hamilton  war  diejenige  mit  Nelson, 
•dem  grossen  britischen  Admiral  und  Sieger  von  Abukir, 
welcher  im  Jahre  1798  zuerst  nach  Neapel  kam,  wo  ihm 
zu  Ehren  von  Lord  und  Lady  Hamilton  ein  grosses 
Fest  veranstaltet  wurde,  dem  1800  Personen  beiwohnten. 
Bald  wurde  das  Verhältnis  zwischen  Emma  und  Nelson 
sehr  innig.  Sie  durchstreiften  gemeinschaftlich  in  Ver¬ 
kleidung  die  Strassen  Neapels  und  besuchten  öffentliche 
Lokale,  wo  sie  in  Gesellschaft  von  Mädchen  sich  ergötzten. 
Von  Neapel  begleitete  Nelson  die  während  eines  Auf¬ 
ruhrs  mit  dem  Hofe  nach  Palermo  fliehende  Geliebte  und 
liess  sich  mit  ihr  von  den  begeisterten  Sicilianern  durch 
rauschende  Feste  verherrlichen.^)  Im  Jahre  1800  kehrten 


1)  Palumbo  (a.  a.  0.  S.  44)  teilt  das  folgende  von  dem 
Chirurgen  Professor  Antonio  La  Manna  verfasste  Gedicht 
nuf  das  berühmte  Liebespaar  mit: 

Di  queste  mense  a  cimentar  l’onore 
Non  verrä  la  discordia  in  fetro  aniante 
Col  pomo,  onde  Giunon,  l’Ideo  pastore 
Bieca  ancor  guarda,  e  la  littä  sul  Xanto. 

Bella  Miledi,  e  quäl  superbo  core 
Puö  contrastarti  di  bellezza  il  yanto  ? 

Si  Pallade,  Giunon,  la  Dea  d’amore 
Perdon  moi  pregi  e  ma  beltade  accanto  ? 


202 


Lord  und  Lady  Hamilton  in  Begleitung  von  Nelson 
nach  London  zurück  und  bezogen  dort  eine  gemeinschaft¬ 
liche  Wohnung  in  Piccadilly,  wo  Emma  ihrem  Geliebten 
einen  Knaben  gebar,  der  bei  der  Taufe  den  Namen  seines 
Vaters,  Horatio  Nelson,  erhielt.  Während  der  Tren¬ 
nung,  die  durch  Nelson’ s  Expeditionen  nach  Kopenhagen 
und  Boulogne  veranlasst  war,  richtete  Ne  Iso  n  die  leiden¬ 
schaftlichsten  Briefe  an  das  geliebte  Weib,  in  denen  es 
u.  a.  heisst:  „Sie  brauchen  kein  Weib  in  der  Welt  zu 
fürchten ;  denn  alle  ausser  Ihnen  sind  mir  nichts.  Ich 
kenne  nur  eine;  denn  wer  kann  wie  meine  Emma  sein?‘‘ — 
„Möge  mir  bald  der  Himmel  den  Segen  verleihen,  Ihr 
liebes  Engelgesicht  zu  sehen !  Sie  sind  unvergleichlich. 
Nein,  keine  ist  wert.  Ihnen  die  Schuhe  zu  putzen.  Ich 
bin,  war  stets  und  werde  immer  sein  Ihr  fester,  bestän¬ 
diger  und  unwandelbarer  Freund!“  Am  6.  September 
1802  starb  Sir  William  Hamilton,  wodurch  Emma 
gezwungen  wurde,  das  Haus  in  Piccadilly  zu  verlassen, 
und  nach  Clargesstreet  zog.  Nelson  setzte  ihr  eine 
jährliche  Summe  von  1200  Pfund  aus,  nachdem  sie  ihm 
noch  ein  Mädchen  geboren  hatte.  Durch  den  Heldentod 
Nelson’s  bei  Trafalgar  (21.  Oktober  1805)  fand  diese 
neuerliche  Vereinigung  ein  jähes  Ende.  Kurz  vor  seinem 
Tode  rief  Nelson  aus:  „Ich  scheide,  es  wird  bald  mit 
mir  vorbei  sein.  Meiner  lieben  Lady  Hamilton  gebt 
mein  Haar  und  Alles,  was  mir  sonst  gehört!“  und  noch 

Chi  la  prudenza  d’Amilton?  a  cui 
(Ne  mai  scelta  miglior  far  si  potea) 

La  Brettagna  aflidö  gli  affari  moi? 

Chi  dl  Giierriero  il  vanto  altri  che  Marte 
Contrastar  ti  poträ,  Nelson?  e  sia 
Giudice  pur  Pistesso  Buonaparte. 


203 


einmal,  schon  sterbend,  ermahnte  er  den  Arzt:  „Hardy, 
sorgen  Sie  für  meine  liebe  Lady  Hamilton!  Sorgen 
Sie  für  die  arme  Lady  Hamilton!“ 

Nach  dem  Tode  ihres  Heldengeliebten  ging  es  mit 
Emma  schnell  abwärts;  sie  ergab  sich  einem  ausschweif¬ 
enden  Leben,  stürzte  sich  in  Schulden,  kam  1813  ins 
Schuldgefängnis  und  starb  1815  zu  Calais  an  einem 
Leberleiden  A) 

Diese  ausserordentliche  Frau  hat  mehr  noch  als  durch 
ihren  galanten  und  abenteuerlichen  Lebenslauf  auf  einem 
anderen  Gebiete  eine  dauernde  sitten-  und  kunstgeschicht¬ 
liche  Bedeutung  erlangt.  Sie  war  die  Erfinderin  und 
erste  vollendete  Darstellerin^)  der  sogenannten  plastischen 
Attitüden,  der  „lebenden  Statuen“,  unserer  heutigen 
„lebenden  Bilder“  (Tableaux  vivants),  welche  ja  jetzt  in 
den  Varietes  eine  so  grosse  und  zweideutige  Bolle  spielen, 
'  von  Lady  Hamilton  aber,  dieser  plastischen  Zauberin,  mit 
höchster  und  edelster  Kunst  ausgeführt  wurden.  Schön 
charakterisiert  B ar b ey  d’Aurevilly  den  Charakter  von 
Emma’s  Kunst:  „Comme  tout  est  singulier  dans  ce  pays 
original,  le  meilleur  sculpteur  qu’il  ait  produit  etait  une 
femme,  Lady  Hamilton,  digne  d’etre  Italienne,  et  qui 
sculptait,  par  la  pose,  dans  le  marbre  du  plus  beau  corps 
qui  ait  jamais  palpite.  Statuaire  etrange  qui  etait  aussi  la 

0  „Geschichte  der  Lady  Emma  Hamilton“  Leipzig  1816; 
„The  Letters  of  Lord  Nelson  to  Lady  Hamilton“  London  1814, 
2  Bände;  J.  C.  Jeaffreson  „Lady  Hamilton  and  Lord  Nelson“ 
London  1887,  2  Bände. 

2)  Nach  Friedländer  („Darstellungen  aus  der  Sitten¬ 
geschichte  Roms“  6.  Auflage,  Leipzig  18i9  Bd.  II,  S.  456)  war 
allerdings  schon  der  „Gewand-  oder  Manteltanz“  der 
römischen  Kaiserzeit  eine  den  mimisch-plastischen  Darstell¬ 
ungen  der  Lady  Hamilton  verwandte  Tanzart. 


204 


-statue,  et  dont  les  cliefs-d’oeuvre  sont  morts  avec  eile ;  gloire 
viagere  qui  ri’a  pas  plus  dure  que  les  fremissements  de 
la  vie  et  l’ardente  emotion  de  quelques  Jours !  C’est  encore 
une  page  ä  ecrire;  mais  oü  prendre  la  plume  de  Diderot 
pour  la  tracer?“^) 

Die  Zeitgenossen  haben  uns  enthusiastische  Schilde¬ 
rungen  der  zauberhaften  Metamorphosen  hinterlassen,  in 
welchen  Emma  die  herrlichsten  Bilder  der  Antike  in 
schneller  Folge  vor  den  entzückten  Augen  der  Zuschauer 
vorbeiführte,  und  es  seien  einige  ausgezeichnete  Schilde¬ 
rungen  jener  „lebenden  Skulpturen“  hier  mitgeteilt. 

„Das  Genie  der  Mrs.  Hamilton“,  sagt  Archen- 
holtz,^)  „zeigte  sich  aber  vorzüglich  in  einer  neuen  Er¬ 
findung.  Es  war  eine  Nachahmung  der  antiken  Gewänder 
und  anderer  Kleidungsarten  berühmter  weiblicher  Schil- 
dereien  und  Bildsäulen,  welche  gemalte  oder  gemeisselte 
Figuren  sie  sodann  selbst  mit  grosser  Kunst  personificierte. 
So  stellte  sie  das  lebende  Bild  einer  im  Nachdenken  hin¬ 
gegossenen  Madonna  des  Guido  auf;  und  in  wenig 
Augenblicken,  vermöge  einer  geringen  Veränderung  im 
Gewand  und  äussern  Schmuck,  war  die  Madonna  ver¬ 
schwunden,  und  in  eine  vor  Fröhlichkeit  taumelnde  Bac¬ 
chantin,  in  eine  jagende  Diana,  und  dann  wieder  in  eine 
mediceische  Venus  verwandelt.  —  Auf  diese  Weise  stellte  sie 
alle  durch  den  Pinsel  und  den  Meissei  erzeugten  grossen 
Kunstwerke,  insofern  das  schöne  Geschlecht  der  Gegen¬ 
stand  desselben  war,  mit  einer  bewundernswürdigen  Täu¬ 
schung  dar,  denn  die  von  den  Künstlern  auf  Leinwand 

J.  Barbey  d’Aurevilly  „Du  Dandysme  et  de  G. 
Brummeil“  Paris  1862  S.  162 — 163. 

2)  Archen holtz  „Britische  Annalen“  1791  Bd.  VII,  S. 
167—168. 


205 


und  in  Stein  hingezauberten  Figuren  wurden  nun  gleich¬ 
sam  durch  sie  beseelt. ‘‘ 

Mrs.  St.  George  sah  Lady  Hamilton  und  ihre 
Darstellungen  im  Jahre  1800  in  Deutschland,  wo  sie  auf 
der  Durchreise  nach  England  verweilte,  und  beschreibt 
ihre  Person  und  ihre  Vorstellung  folgendermassen  : 

„Ihre  Figur  ist  gross,  aber,  mit  Ausnahme  der  Füsse 
wohl  proportioniert.  Ihre  Knochen  sind  robust,  und  sie 
hat  ein  ausserordentliches  Embonpoint.^)  Sie  hat  die 
Büste  einer  Ariadne;  alle  ihre  Züge  sind  fein,  besonders 
die  Kopfform  und  die  Ohren.  Die  Zähne  sind  ein  wenig 
unregelmässig,  aber  ziemlich  weiss.  Ihre  Augen  hellblau^ 
mit  einem  braunen  Fleck  in  dem  einen,  welcher  Mangel 
aber  ihrer  Schönheit  und  dem  Ausdrucke  ihres  Gesichtes 
keinen  Eintrag  thut.  Augenbrauen  und  Haare  sind 
schwarz,  und  ihr  Teint  ist  nicht  zart.  Ihr  Gesichtsaus¬ 
druck  ist  markant,  häufig  wechselnd  und  erregt  Interesse, 
ihre  Bewegungen  sind  im  gewöhnlichen  Leben  ungraziös ; 
ihre  Stimme  ist  laut,  doch  nicht  unangenehm.  .  .  . 

Ich  frühstückte  mit  Lady  Hamilton  und  sah  sie  nach 
einander  die  schönsten  Statuen  und  Gemälde  darstellen. 
Sie  nimmt  Stellung,  Ausdruck  und  Draperie  mit  grosser 
Leichtigkeit,  Schnelligkeit  und  Genauigkeit  an.  Einige 
indische  Shawls,  ein  Stuhl,  einige  antike  Vasen,  ein  Kranz 
von  Rosen,  ein  Tamburin,  und  einige  Kinder  bilden 
ihren  ganzen  Apparat.  Sie  steht  an  dem  einen  Ende 
des  Zimmers,  mit  einem  hellen  Licht  zur  Linken,  während 
die  Fenster  alle  geschlossen  sind.  Ihr  Haar  ist  kurz, 
nach  antiker  Art  frisiert  und  ihr  Gewand  ein  einfaches 
Kattunhemd,  sehr  leicht,  mit  losen  Ärmeln  bis  zum  Hand- 


1)  Damals  stand  sie  schon  im  40.  Lebensjahre. 


206 


gelenk.  Sie  arrangiert  die  Shawls  so,  dass  sie  griechische, 
türkische  und  andere  Draperien  oder  auch  zahlreiche 
Arten  von  Turbans  bilden.  Diese  Herstellung  von  Tur¬ 
bans  ist  ein  wahres  Kunststück,  so  schnell,  leicht  und 
schön  geht  es  von  statten.  Es  ist  eine  herrliche  Dar¬ 
stellung,  amüsant  für  den  Nichtkenner  und  im  höchsten 
Grade  interessant  für  den  Kunstliebhaber.  Hauptsächlich 
ahmt  sie  die  Antike  nach.  Jede  Vorstellung  dauert  zehn 
Minuten.  Es  ist  merkwürdig,  dass  sie,  die  so  ungraziös 
im  gewöhnlichen  Leben  ist,  während  der  Vorstellung  ein 
Bild  höchster  Schönheit  und  Grazie  wird.^i) 

Eine  unvergleichlich  schöne  Schilderung  der  Attitüden 
der  Lady  Hamilton,  die  in  ihrer  leichten  Grazie  und 
Kürze  uns  am  besten  diese  Eigenschaften  bei  der  Hamilton 
ahnen  lässt,  hat  Goethe  in  der  „Italiänischen  Keise“ 
entworfen,  und  damit  der  wunderbaren  Künstlerin  das 
dauerndste  und  würdigste  Denkmal  gesetzt. 

„Eine  Engländerin  von  etwa  zwanzig  Jahren.  Sie 
ist  sehr  schön  und  wohlgebaut.  Er  hat  ihr  ein  Griechisch 
Gewand  machen  lassen,  das  sie  trefflich  kleidet;  dazu 
löst  sie  ihre  Haare  auf,  nimmt  ein  paar  Shawls  und  macht 
eine  Abwechslung  von  Stellungen,  Geberden,  Mienen  u.  s.  w., 
dass  man  zuletzt  wirklich  meint,  man  träume.  Man  schaut, 
was  so  viele  Künstler  gerne  geleistet  hätten,  hier  ganz 
fertig,  in  Bewegung  und  überraschender  Abwechselung. 
Stehend,  knieend,  sitzend,  liegend,  ernst,  traurig,  neckisch, 
ausschweifend,  bussfertig,  lockend,  drohend,  ängstlich  u.  s.  w., 
eins  folgt  aufs  andere  und  aus  dem  andern.  Sie  weiss  zu 
jedem  Ausdruck  die  Falten  des  Schleiers  zu  wählen,  zu 

1)  Joseph  Grego  „Thackerayana.  Notes  and  Anec- 
dotes.  Illustrated  by  nearly  six  hundred  Sketches  by  William 
Makepeace  Tliackeray“  London  1875  S.  111  und  S.  112. 


207 


wechseln,  und  macht  sich  hundert  Arten  von  Kopfputz 
mit  denselben  Tüchern.  Der  alte  Ritter  hält  das  Licht 
dazu,  und  hat  mit  ganzer  Seele  sich  diesem  Gegenstand 
ergeben.  Er  findet  in  ihr  alle  Antiken,  alle  schönen  Profile 
der  Sicilianischen  Münzen,  ja  den  Belvedereschen  Apoll 
selbst.  So  viel  ist  gewiss,  der  Spass  ist  einzig!  Wir 
haben  ihn  schon  zwei  Abende  genossen.  Heute  früh  malt 
sie  Tischbein.“ 

’  Die  schönsten  Attitüden  der  Lady  Hamilton  hat 
der  preussische  Historienmaler  Friedrich  Rehberg  ge¬ 
zeichnet  und  in  einem  Bande  von  24  Kupferstichen  ver¬ 
öffentlicht."^) 

Henry  Angelo  erwähnt  in  seinen  „Lebenserinner¬ 
ungen“,  dass  Emma  auch  einst  in  der  Königlichen 
Akademie  der  Künste  Modell  gestanden  habe.^)  Vielleicht 
bezieht  sich  hierauf  eine  sehr  drastische  Radirung  des 
Karrikaturisten  Thomas  Rowlandson,  früher  im 
Besitze  des  Bibliophilen  Pisanus  Fraxi,  jetzt  im  South 
Kensington  Museum  zu  London.  Sie  trägt  die  Bezeichnung 
„Lady  H  *  *  ^  ^  Attitudes“  und  stellt  das  Innere 

eines  Malerateliers  dar:  Ein  alter  Mann  zieht  einen 
Vorhang  zurück  und  zeigt  auf  ein  nacktes  Mädchen,  welches 
vor  einem  Jüngling  Pose  steht,  der  vor  einer  Staffelei  sitzt, 
mit  einer  Hand  zeichnet  und  mit  der  anderen  ein  Glas 
vors  Auge  hält.  Im  Hintergründe  rechts  umarmen  sich 
zwei  Gestalten  und  links  vorn,  auf  dem  Boden,  küssen 


1)  Drawings  faithfully  copied  from  Nature  etc.“  By 
Frederick  Rehberg,  Historical  Painter  in  Ins  Prussian 
Majesty’s  Service  at  Rome,  1794. 

2)  „Reminisceuces  of  Henry  Angelo,  with  Memoirs  of 
his  late  Father  and  Friends“  London  1830  Bd.  II,  S.  242. 


208 


sich  zwei  Köpfe.  Die  Komposition  ist  sehr  geistreich,  und 
besonders  das  nackte  Mädchen  gut  gezeichnet^). 

Lady  Hamilton ’s  plastische  Darstellungen  fanden 
besonders  in  Deutschland  ernsthafte  Nachahmungen,  während 
sie  in  anderen  Ländern  sehr  bald  zu  den  frivolen  „poses 
plastiques“  und  „tableaux  vivants“  ausarteten. 

Neben  Elise  Bürger  (1769 — 1833)  und  Sophie 
Schröder  (1781 — 1868)  war  es  besonders  Johanna 
Henriette  Eosine  Hän  del-Schüt  z  (1772 — 1849)r 
die  in  Deutschland  durch  ihre  vortrefflichen  Darstellungen 
plastischer  Attitüden  allgemeines  Aufsehen  erregte.  Sie 
war  ursprünglich  Schauspielerin  und  hatte  dann  1794  in 
Frankfurt  a.  M.  durch  den  Maler  Pforr  das  Kehberg’- 
sche  Kupferwerk  über  die  Attitüden  der  Lady  Hamilton 
kennen  gelernt,  wodurch  die  Neigung  zu  ähnlichen  künst¬ 
lerischen  Darstellungen  in  ihr  geweckt  worden  war,  der  sie 
später  nach  ihrer  1807  erfolgten  Heirat  mit  dem  dramatischen 
Schriftsteller  Schütz  ungehindert  folgen  konnte.  Bis- 
zum  Jahre  1820,  wo  sie  ihre  Laufbahn  beschloss,  unter¬ 
nahm  sie  grosse  Kunstreisen  in  allen  europäischen  Ländern, 
zur  Darstellung  ihrer  höchst  originellen  und  phantastischen 
Attitüden,  ln  dem  Kapitel  „Die  Kindesmörderin‘‘  seiner 
„Jugenderinnerungen  eines  alten  Mannes“  hat  der  Maler 
Wilhelm  von  Kügelgen  eine  sehr  dramatische  Schilde¬ 
rung  einer  solchen  Vorstellung  der  Händel-Schütz 
gegeben,  aus  der  wir  die  interessantesten  Stellen  mitteilen.. 

„Als  die  herrliche  Gestalt  das  Podium  bestieg,  war 
alles  Auge,  und  nun  begannen  die  wunderbaren  so  berühmt 
gewordenen  Gewandvvandelungen,  an  denen  mein  Vater  sich 


L  Vgl.  Pisanus  Fraxi  „Centuria  librorum  abscondito- 
rum“  London  1879,  S.  357 — 359. 


209 


aufrichtig  ergötzte.  Alle  weiblichen  Kostüme  des  klassischen 
Altertums,  priesterliche  und  profane,  vornehme  und  geringe, 
ägyptische,  griechische,  römische  wechselten  schnell  vor 
unseren  Augen  in  den  Attitüden  bekannter  antiker  Bild¬ 
werke,  und  immer  war  die  Künstlerin  höchst  reizend.  Jede 
Stellung,  jeder  Faltenwurf  stand  ihr  wohl  an,  und  selbst 
meine  Mutter  schien  ihr  mit  wachsendem  Interesse  zuzusehen. 
Ich  hing  mit  trunkenen  Blicken  an  der  götterartigen  Er¬ 
scheinung  .  .  .  Als  Sibylle  imitierte  die  Künstlerin  ein  be¬ 
kanntes  Bild  meines  Vaters.  Dann  streckte  sie  sich  nieder  auf 
die  Estrade,  und  unter  ihren  weiten  Schleiern  schienen  die 
mächtigen  Glieder  einer  Löwin  zu  schwellen;  sie  stellte 
eine  Sphinx  dar.  Die  Sphinx  aber  ward  zur  Jammergestalt 
einer  büssenden  Magdalena  mit  langem  aufgelösten  Haar, 
und  diese  erhob  sich  dann  als .  Mater  dolorosa,  um 
sich  endlich  in  eine  heitere,  strahlend  schöne  Himmels¬ 
königin  zu  verklären.  Ein  Zuck  und  Euck  in  den  Ge¬ 
wändern,  und  die  Verwandlung  war  stets  vollständig 
vollbracht. 

Nun  aber  geschah  das  Überraschendste.  Die  Züge 
der  Actrice  verdunkelten  sich,  ihr  Auge  stierte,  ihr  Haar 
geriet  in  Unordnung,  die  schweren  Gewänder  fielen  ihr 
vom  Leibe  und  in  wüstem  liederlichem  Aufzug  schien  sie 
heissen  Gewissenskampf  zu  kämpfen.  Sie  kniete  nieder, 
wollte  beten,  aber  der  Himmel  war  verschlossen,  die  Hölle 
siegte.  Da  plötzlich  schoss  sie  wie  ein  Lämmergeier  herab 
auf  meine  kleine  Schwester,  packte  sie,  riss  sie  mit  festem 
Griff  vom  Schoss  der  Mutter  und  sprang  zurück  mit 
ihrem  Kaube.  In  ihrem  Gesicht  malte  sich  Wahnsinn 
und  Verzweiflung,  ein  Dolch  blitzte  auf,  und  das  vor 
Schrecken  halbtote  Kind  hing  den  Kopf  zu  unterst  über 
den  nackten  fleischigen  Arm  der  Kindesmörderin.  Das 

14 


210 


Alles  war  das  Werk  von  ein  paar  Augenblicken,  und  diese 
Darstellung  vielleicht  die  glänzendste  und  beste;  aber 
meiner  Mutter  war’s  doch  ausser  allem  Spasse.  Erschrocken 
sprang  sie  auf  und  nahm  ihr  Kind  sanft  aus  den  Händen 
der  Furie  zurück.  Mit  solchem  Knalleffekte  war  die 
Schaustellung  beendet.“ 

Wie  man  aus  dieser  Darstellung  ersieht,  erfuhr  die 
plastisch  -  mimische  Kunst  in  Deutschland  eine  Fort¬ 
bildung  nach  der  Richtung  des  Dramatischen  hin,  während 
die  Hamilton  mehr  das  Statuenhafte  betont  hatte.  Jene 
erstere  Richtung  hat  auch  ein  männlicher  Darsteller, 
Gustav  Anton,  Freiherr  von  Seckendorff  (1775 
bis  1823)  in  seinen  öffentlichen  Vorstellungen  gepflegt 
und  die  Bedeutung  derselben  für  die  Schauspielkunst  in 
einem  besonderen  Werke  untersucht. i) 


0  G.  A.  Y.  Seckendorff  „Vorlesungen  über  Dekla¬ 
mation  und  Mimik“  Braunscbweig  1816,  2  Bände.  —  Vgl. 
auch  die  bedeutende  Abhandlung  über  dieses  Thema  von 
Wilhelm  Henke:  „Zwei  Arten  von  Stil  in  der  Kunst  der 
Mimik  in  dessen  Vorträgen  über  „Plastik,  Mimik  und  Drama“. 
Rostock  1892,  S.  162—188. 


Viertes  Kapitel. 


Die  Mode. 

Kleidung  und  Mode  sind  ein  Produkt  des  mensch¬ 
lichen  Geschlechtslebens.  Dieser  Satz,  noch  vor  kurzem, 
z.  B.  von  Schurtz  in  seiner  „Philosophie  der  Tracht“, 
bestritten,  ist  durch  die  exakte  Forschung  der  letzten 
Jahre,  wie  sie  besonders  von  hervorragenden  Anthropologen 
und  Ethnologen  (v.  d.  Steinen,  Westermarck,  Stratz 
u.  A.)  betrieben  worden  ist,  in  vollem  Umfange  bestätigt 
worden.^)  Hiernach  hat  sich  die  Kleidung  als  ein  Mittel 
der  geschlechtlichen  Anlockung  entwickelt,  welche  durch 
ihre  ständige  Begleiterin,  die  Mode,  auf  die  verschieden¬ 
artigste  Weise  variirt  worden  ist,  sich  aber  immer  auf 
jene  Eeize  zurückführen  lässt,  welche  durch  die  Hervor¬ 
hebung  und  Vergrösserung  gewisser  Teile  auf  der 
einen  Seite,  durch  ihre  Entblössung  auf  der  andern 
Seite  hervorgebracht  werden.^)  Sowohl  die  Verhüllung 

1)  Es  dürfte  gerade  in  Beziehung  auf  die  Betrachtung  der 
englischen  Mode  von  Interesse  sein,  dass  schon  im  vorigen 
Jahrhundert  William  Alexander,  der  berühmte  Verfasser 
der  „History  of  women“,  in  diesem  Werke  den  sexuellen  Ur¬ 
sprung  der  Kleidung  behauptet  hat.  Vgl.  Bd.  II.  S.  84—85. 

2)  Vgl.  über  diese  Grundprinzipien  der  Mode  J.  Bloch 
„Beiträge  zur  Aetiologie  der  Psychopatbia  sexualis“  Teil  I 
Dresden  1902  S.  139—175. 


14* 


212 


gewisser  Teile  als  auch  ihre  Entblössung  dienen  io 
gleichem  Masse  durch  Vermittelung  der  erwähnten  Keize^ 
der  sexuellen  Erregung,  was  schon  Tasso  erkannt  hat,, 
wenn  er  sagt : 

Non  copre  sue  bellezze,  e  non  l’espöse. 

Unschwer  wird  man  bei  dem  Studium  der  Moden 
der  verschiedenen  Zeiten  und  Völker  überall  auf  diese- 
beiden  sexuellen  Grundelemente  derselben  stossen,  wie- 
dies  auch  aus  der  Betrachtung  der  wichtigsten  Momente 
in  der  Geschichte  der  englischen  Mode  sich  ergeben  wird. 

Von  einer  englischen  Mode  kann  man  nur  in 
einem  beschränkten  Sinne  reden,  da  England  noch  mehr 
als  alle  übrigen  europäischen  Länder  frühzeitig  unter  den 
in  dieser  Hinsicht  allbeherrschenden  Einfluss  Frankreich& 
geriet.  Walsing h am  datirt  die  Einführung  und  Ver¬ 
breitung  der  französischen  Moden  in  England  von  der  Er¬ 
oberung  von  Calais  im  Jahre  1347  an.^)  Immerhin  lassen  sich 
aber  auch  einige  Besonderheiten  der  englischen  Mode  fest¬ 
stellen,  und  besonders  in  den  späteren  Zeiten  prägt  sich  der 
englische  Nationalcharakter  vielfach  auch  in  auffallenden 
Erscheinungen  der  Mode  aus,  wie  denn  das  sogenannte- 
Dandytum  etwas  specifisch  Englisches  darbietet. 

Während  die  angelsächsischen  Eroberer  im  allgemeinen 
an  der  primitiven  germanischen  Tracht  festhielten, 
huldigten  die  Normannen  bereits  einem  grösseren  Kaffine- 
ment  in  der  Mode  und  entfalteten  einen  grösseren  Prunk,, 
der  sich  besonders  in  dem  Aufkommen  seidener  Kleider 
(mit  Ende  des  13.  Jahrhunderts)  geltend  machte.  Anno- 


1)  J.  D’Israeli  „Curiosities  of  literature“  London  1895  S.  84.. 
Vergl.  Bruno  Köhler  „Allgemeine  Trachtenkunde“' 
Teil  II,  Leipzig  (Reclam)  S.  188 — 198. 


213 


1286  erschienen  auf  einem  Balle  in  Kennelworth  Castle 
in  Warwickshire  zuerst  die  Frauen  einiger  Edelleute  in 
seidenen  Kleidern. i)  Dabei  wurden  die  Oberkleider  weit 
und  lang,  die  Unterkleider  eng  und  kurz  getragen. 
Erstere  bedeckten  ringsum  den  Boden.  Diese  „Kleider¬ 
schwänze“  wurden  vielfach  Gegenstand  der  Satire.  „Die 
Damen  machen  ihre  Schwänze  jetzt  tausendmale  so  lang 
als  Pfauen  und  Elstern“  heisst  es  in  einem  alten  englischen 
Spottgedichte.^)  Dieses  überlange  Oberkleid  war  bei 
Prostituirlen  seitlich  fast  bis  zur  Hälfte  hinauf  aufgeschlitzt, 
so  dass  die  mit  enganliegenden  Hosen  bekleideten  Beine 
sichtbar  wurden.  Dazu  kamen  noch  besondere  Beutel 
für  die  Brüste,  welche  dadurch  ganz  besonders  accentuirt 
wurden.^) 

Die  eigentliche  allmächtige  Herrschaft  der  Mode 
beginnt  im  14.  Jahrhundert,  besonders  in  den  letzten 
Jahrzehnten  desselben.  Bruno  Köhler  bemerkt:  „Immer 
eifrigerwurden  jetzt  inEngland  die  französisch-burgundischen 
Modethorheiten  nachgeahmt.  Bisher  waren  noch  immer 
einige  Jahrzehnte  darüber  vergangen,  ehe  man  sich  die 
in  Frankreich  aufgekommenen  Bekleidungsarten  ganz  zu 
eigen  gemacht  hatte;  jetzt  hielt  man  jedoch  in  allen 
Modedingen  mit  den  Franzosen  gleichen  Schritt.  Das 
sich  wieder  bemerkbar  machende  Bestreben,  den  fremden 
Gewändern  ein  besonderes  englisches  Gepräge  zu  ver¬ 
leihen,  führte  bald  dahin,  dass  die  bizarren  französisch- 


b  Alexander  „History  of  Women  etc.“  London  1779 
Bd.  11.  S.  133. 

2)  Friedrich  Hott enroth  „Trachten,  Haus-  Feld-  und 
Kriegsgeräthschaften  der  Völker  alter  und  neuer  Zeit.“  2. 
Auflage,  Stuttgart  1891  Bd.  II  S.  133. 

3)  Bruno  Köhler  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  219 — 220. 


214 


burgundischeii  Kleider  in  England  zum  Teil  ein  noch 
ungeheuerlicheres  Aussehen  erhielten  und  sich  demgemäss- 
auch  noch  entsprechend  unbequemer  im  Gebrauch  erwiesen 
als  in  Frankreich.  In  der  Folge  macht  sich  dann  ein 
derartiger  Kleiderluxus  geltend,  dass  selbst  die  niedere- 
Bevölkerung  Hab  und  Gut  opferte,  nur  um  möglichst 
prächtig  gekleidet  erscheinen  zu  können“. i) 

Dieser  Luxus  war  besonders  zur  Zeit  Richards  11^ 
unerhört.  Sir  John  Arundel  besass  nicht  weniger  als- 
52  neue  Anzüge  aus  golddurchwirkten  Kleidern.  Die- 
Prälaten  insbesondere  schwelgten  in  den  luxuriösesten 
Extravaganzen  der  Mode.  Chaucer  sagt  von  ihnen,  dass- 
sie  täglich  ihre  Kleidung  wechselten  (had  „chaunge  of 
clothing  everie  dlaie“).  Er  hat  in  „The  Persone’s  Tale^^ 
die  ganze  scharfe  Lauge  seiner  Satire  über  diesen  Mode¬ 
teufel  seiner  Zeit  ergossen  und  verbreitet  sich  dort  ins¬ 
besondere  über  die  in  geschlechtlicher  Beziehung  höchst 
bedenklichen  Folgen  der  übergrossen  „scantness“  d.  h. 
Enge  der  Hosen,  deren  enges  Anliegen  die  Gesäss-  und 
Genitalregion  in  der  schamlosesten  Weise  hervortreten 
Hess,  so  dass  bei  vielen  Personen  „the  buttokkes  behind“ 
aussahen,  „as  if  they  were  the  hinder  part  of  a  sheape 
in  the  ful  of  the  mone.“^)  Indem  man  nach  Hotten roth, 
dem  Beispiele  des  effeminirten  Richards  II.  folgend, 
die  weiten  Ärmel  auch  an  den  knappen  Röcken  anbrachte, 
die  engen  und  kurzen  Ärmel  mit  den  Fahnen  aber  an 
den  schleppenden  Roben,  welche  um  den  Oberkörper  her 
gleichfalls  fest  anschliessend  gemacht  wurden,  befestigte, 
brachte  man  es  zuwege,  dass  die  Männer,  namentlich  von 
hinten  betrachtet,  wie  Weiber  aussahen.  Überdies 


ibidem  Bd.  IV  S.  26. 

2)  D’Israeli  u.  a.  0.  S.  83  und  S.  84. 


215 


stattete  man  die  langen  Röcke  noch  mit  einem  Stehkragen 
aus,  welcher  vorn  an  das  Kinn  stiess  und  hinten  etwas 
höher  an  die  Haarwurzeln.  Dazu  rasierte  man  das  Gesicht 
und  trug  es  völlig  bartlos  in  weibischer  Glätte.^)  Hinzu 
kam  noch  eine  ungemein  grosse  Mannichfaltigkeit  der 
Farben  in  den  einzelnen  Teilen  der  Kleidung,  wie  uns 
dieselbe  besonders  aus  den  Schilderungen  in  Chaucer’s 
„Canterbury  Tales vertraut  ist.  Sogar  ein  und  dasselbe 
Kleidungsstück  war  verschiedenfarbig  (party-coloured). 
Ein  Strumpf  war  oben  weiss  und  unten  rot,  oder  weiss 
und  blau,  oder  weiss  und  schwarz,  oder  schwarz  und  rot 
u.  dgl.  m.“)  Alles  dieses  musste  zu  einer  Verweichlichung 
und  Verweiblichung  der  Männer  führen  und  den  homo¬ 
sexuellen  Beziehungen  einen  bedeutenden  Vorschub  leisten. 

Diese  bunte  und  abenteuerliche  Tracht  erhielt  sich 
durch  das  ganze  15.  Jahrhundert  bis  fast  zur  Mitte 
des  16.  Jahrhunderts.  Ein  altes  von  dem  geistreichen 
Andrew  Borde  (geboren  1480)  gezeichnetes  Bild  aus 
der  Zeit  Heinrichs  VIH.  spielt  in  sehr  witziger  Weise 
auf  diese  „wild  variety  of  dresses“  in  jener  Epoche  an. 
Es  stellt  einen  nackten  Engländer  dar,  der  am  rechten 
Arme  ein  Kleidungsstück  hängen  hat  und  in  der  linken 
Hand  eine  Scheere  hält,  mit  der  Unterschrift: 

I  am  an  Englishman,  and  naked  I  stand  here, 

Musing  in  my  mind,  what  rayment  I  shall  were; 

For  now  I  will  were  this,  and  now  I  will  were  that, 
And  now  I  will  were,  what  I  cannot  teil  what.^) 
Während  unter  Hei nric h  VIIL  auf  der  einen  Seite 
die  glattrasierten  Gesichter  verschwanden  und  dem  Barte 


0  Hottenroth  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  133. 

2)  D’Israeli  S.  84. 

3)  DTsraeli  a.  a.  0.  S.  84. 


216 


Platz  macbten,  tauchte  auf  der  anderen  Seite  eine  neue 
unsittliche  Eigenthümlichkeit  der  Mode  auf,  das  war  die 
sogenannte  Schamkapsel  der  Männer,  eine  besondere 
Auspolsterung  der  Hosen  in  der  Gegend  der  Geschlechts¬ 
teile,  die  dadurch  in  der  unanständigsten  Weise  gewisser- 
massen  nach  aussen  projiciert  und  den  lüsternen  Blicken 
preisgegeben  wurden.  H  o  1 1  e  n  r  o  t  h  schildert  die  scham¬ 
lose  Hosentracht  jener  Zeit  folgendermassen :  „Man  trug 
die  Hosen  häufig  der  Länge  nach  in  Eiemen  zerschlitzt, 
mit  ausgepolsterten,  andersfarbigen  Unterhosen  gefüttert 
und  mit  farbigen  Zeugstreifen  wagrecht  in  kurzen  Zwischen¬ 
räumen  verbunden,  oder  man  schmückte  die  ausgestopften 
Hosen  sonstwie  mit  bunt  unterlegten  Schlitzen.  So 
gestaltet  führten  die  Hosen  den  Namen  „Trussen.“  Die 
Schamkapsel,  auswattiert  und  geschlitzt,  kam  auf  einen 
dreieckigen  Latz  zu  sitzen,  und  sah,  während  die  Trussen 
von  den  Rockschössen  fast  ganz  verdeckt  wurden,  stets 
zwischen  den  letzteren  hervor,  “i) 

In  der  elisabethanischen  Periode  hinderte  die  steife 
spanische  Tracht  durchaus  nicht  die  Entfaltung  eines 
glänzenden  Luxus  und  das  Auftreten  verschiedener 
Excentricitäten  auf  dem  Gebiete  der  Mode.  So  wurde 
nach  J.  D’ Israeli  die  Mode  der  enormen  Beinkleider, 
bis  zu  den  lächerlichsten  Excessen  gesteigert.  Die  Stutzer 
jener  Zeit  stopften  ihre  Hosen  mit  Lumpen,  Federn  und 
anderen  Gegenständen  aus,  bis  sie  dieselben  zu  einer 
enormen  Weite  aufgetrieben  hatten,  so  dass  sie  grossen 
Säcken  glichen,  und  man  bei  öffentlichen  Schauspielen 
eigene  Sitze  für  diese  ungeheuerlich  aufgebauschten  unteren 
Partien  herrichten  musste.  Dem  entsprechend  wurden 


Hottenroth  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  141. 


217 


die  Damen  durch  riesige  Reifröcke  buchstäblich  in  gehöriger 
Entfernung  von  einander  gehalten.  Dabei  vereinigten 
die  echten  Stutzer  alle  Moden  der  Welt  in  ihrem  Anzüge.^) 
Nimmt  man  noch  die  bekannten  enormen  Halskrausen 
der  spanischen  Tracht  hinzu,  die  sich  aber  in  England 
allmählich  an  Grösse  und  Umfang  verzehnfacht  hatten, 
so  begreift  man,  welch  eine  Last  ein  solches  ä  la  mode  ge¬ 
kleidetes  Individuum  mit  sich  herumschleppte,  und  wie 
froh  man  damals  sein  musste,  wenigstens  in  der  Nacht 
derselben  entledigt  zu  sein  und  gänzlich  nackt  sich  zur 
Ruhe  zu  begeben.  Denn  bis  auf  Jak  ob  1.  waren  Nacht¬ 
hemden  noch  etwas  sehr  Seltenes.  Archenholtz  be¬ 
richtet:  „Als  dieser  König  noch  ein  Kind  und  unter  der 
Aufsicht  der  Gräfin  von  Mar  war,  wurde  er  in  der  Nacht 
von  einer  Kolik  befallen.  Alle  männlichen  und  weiblichen 
Bedienten  stürzten  herbei,  und  zwar  splitternackend,  nur 
allein  die  Gräfin  erschien  in  einem  Halbhemde“. Die 
mythologischen  Feste  und  Maskenspiele  unter  Elisabeth 
und  Jakob  I.  gaben  Veranlassung  zu  den  barocksten 
Kostümirungen,  von  denen  Ben  Jonson  in  seinen 
Maskenspielen  eine  sehr  anschauliche  Schilderung  giebt. 
In  der  „Masque  of  Hymen“  trugen  die  Damen  „weisse 
Leibchen,  auf  denen  Pfauen  und  Früchte  in  Silber  ein¬ 
gestickt  waren,  darunter  ein  loses,  gefälteltes,  fleisch¬ 
farbenes,  silbergestreiftes  Kleid  mit  goldenem  Gürtel  und 
darunter  ein  anderes  flatterndes,  lasurblaues  Tuchkleid  mit 
Silberstickereien  und  Goldschnüren.  Ihr  Haar  war  unter 
einer  reichen,  kostbaren,  mit  allerlei  auserlesenen  Diamanten 
geschmückten  Krone  nachlässig  zusammengebunden.  Ihre 


J,  D’Israeli  a.  a.  0.  S.  83—84. 

2)  Archenholtz  „Britische  Annalen“  Bd.  I  S.  419. 


218 


durchsichtigen  Schleier  reichten  bis  zum  Fussboden.  Ihre 
Schuhe  waren  himmelblau  oder  goldgelb  und  mit  Kubinen 
und  Diamanten  besetzt“.^) 

Ein  Beispiel  für  die  luxuriösen  Ausschweifungen  der 
Mode  unter  Jakob  1.  bietet  dessen  Günstling,  der 
Herzog  von  Buckingham,  dessen  Aufwand  jedes  Mass 
überstieg.  Abgesehen  davon,  dass  er  zu  seiner  Kleidung 
stets  die  kostbarsten  Zeuge,  wie  Sammet,  Atlas,  Gold- 
und  Silberstoff  wählte,  Hess  er  sie  nicht  allein  mit  den 
theuersten  Litzen,  Buntstickereien  und  dgl.  aufs  Reichste 
schmücken,  sondern  auch  mit  Perlen,  Edelsteinen  und 
besonders  diamantnen  Knöpfen  in  kunstvoller  Goldarbeit 
besetzen.  Und  derartige,  vollständige  Anzüge  besass  er 
um  1625  nicht  weniger  als  siebenundzwanzig,  von  denen 
jeder  gegen  350ü0  Francs  kostete,  während  er  für  den 
Festanzug  allein,  in  welchem  er  auf  der  Hochzeit  Karls 

I.  erschien,  500000  Francs  verausgabte  !^) 

Dieser  überladenen  Pracht  folgte  in  der  frivolen  und 
leichtfertigen  Epoche  der  Restauration  unter  Karl  H. 
eine  Mode  der  Nuditäten.  Nicht  die  Pracht  und 
Schönheit  der  Kleider,  sondern  die  des  Leibes  wird  zur 
Schau  gestellt,  und  die  schönen  Damen  am  Hofe  Karls 

II.  wetteifern  mit  einander,  ihre  verborgenen  Reize  den 
lüsternen  Blicken  ihrer  Bewunderer  möglichst  zugänglich 
zu  machen.  Weiss^)  charakterisiert  die  Mode  dieser  Zeit 
folgendermassen  : 

„Wie  im  Verhältnis  zur  französischen  Gesamtgestaltung 
verblieb  die  Kleidung  auch  noch  während  der  Regierung 


1)  Taine  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  237. 

2)  H.  Weiss  „Kostümkunde“  Stuttgart  1872  Bd.  S.  1028. 

3)  ibidem  Bd.  H  S.  1034—1035. 


219 


Karls  II.,  ungeachtet  ihrer  sich  nun  bis  ins  Einzelne- 
vollziehenden  Ausgleichung  mit  jener.  Es  war  wesentlich 
die  von  ihm  selber  eingeleitete  bis  zu  offenkundiger  Lüder- 
lichkeit  begünstigte  Art  seiner  Maitressenwirthschaft,  was 
dem  Vorschub  leistete.  Der  Aufwand  in  Stoffen,  Verzierung 
und  Schmuck,  in  Verwendung  von  Bändern,  Schleifen, 
kostbaren  Kanten  und  Spitzen,  erreichte  wie  in  Frankreich 
den  höchsten  Grad;  hinsichtlich  der  Formen  jedoch  hielt 
man  sich  mindestens  von  den  auffälligsten  Übertreibungen, 
die  von  der  meist  massenhaften  Arm-  und  Hand  Verschleierung 
durch  Spitzenwerk,  der  längs  der  Öffnung  der  oberen  Kobe 
beliebten  allzugrossen  Kandaufbauschungen  (,,bouillons“) 
u.  a.  m.  ferner,  solches  im  Ganzen  zu  grösserer  Zwang¬ 
losigkeit  stimmend.  Um  so  weniger  aber  Hess  man  sich 
wiederum  irgend  eines  der  von  dort  gebotenen  Mittel 
entgehen,  welche  eine  Steigerung  rein  körperlicher 
Reize  bezweckten.  Sowohl  in  Entblössung  von  Hals, 
Brust  und  Arm,  als  auch  in  Benutzung  von  falschem 
Haar,  Schminke  und  Schönheitspflästerchen  („patches“) 
gab  man  den  französischen  Vorgängern  nicht  nur  nichts 
nach,  vielmehr  ging  wohl  gelegentlich  noch  darüber  hinaus.“ 
In  der  That  erreichte  die  Schamlosigkeit  in  der 
Entblössung  der  weiblichen  Schultern  und  Brüste,  in  welcher, 
wie  D’Israeli  schildert, Ö  die  Königin  die  anderen  Hof¬ 
damen  beinahe  übertraf,  einen  so  hohen  Grad,  dass  sich 
sogar  verschiedene  litterarische  Proteste  dagegen  erhoben. 
1672  erschien  ein  Buch  mit  dem  Titel  „Neue  Instruktionen 
für  die  Jugend  in  Betreff  ihres  Benehmens,  nebst  einer 
Abhandlung  über  einige  Neuerungen  in  der  Mode;  gegen 
das  Pudern  der  Haare,  die  nackten  Brüste 


D’Israeli  a.  a.  0.  S.  86. 


220 


und  Schönheitspflästerchen  und  andere 
unziemlichen  Gebräuche.“  Der  Verfasser  hat 
zwei  Bilder  von  Frauen  seinem  Büchlein  mitgegeben, 
darstellend  die  „Tugend“  und  das  „Laster“.  Die  erstere  ist 
keusch  und  züchtig  gekleidet.  Beim  „Laster“  gucken 
aus  einer  niedrigen  Schnürbrust  zwei  grosse  Brüste  hervor, 
und  das  Gesicht  ist  durch  zahlreiche  verschieden  geformte 
Schönheitspflästerchen  verunstaltet.^)  Grösseres  Aufsehen 
noch  erregte  ein  anderes  gegen  die  Nuditäten  gerichtetes 
Werk,  welches  Edward  Cooke  1678  erscheinen  liess 
und  zu  welchem  der  berühmte  Theologe  Richard 
Baxter  eine  Vorrede  schrieb.  Es  führt  den  Titel  ,,Eine 
gerechte  und  vernünftige  Anklage  gegen  die  nackten 
Brüsie  und  Schultern“  (Ajust  and  reasonable  reprehension 
of  naked  breasts  and  shoulders  1678,  8  ^).  Endlich 
erschien  1683  eine  dritte  Schrift,  betitelt  „Englands 
Eitelkeit,  oder  die  Stimme  Gottes  gegen  die  monströse 
Sünde  des  Stolzes  in  der  Kleidung  und  Erscheinung“ 
(England’s  Vanity;  or  the  Voice  of  God  against  the 
monstrous  sin  of  Pride  in  Dress  and  Apparel),  welche 
die  Lüderlichkeiten  in  der  Mode  geisselte.^) 

Eine  absonderliche  Sitte  jener  Zeit  war  auch  das 
Tragen  von  Muffen  durch  Männer.  So  erzählt  Samuel 
Pepys  in  seinem  Tagebuche,  dass  er  den  alten  Muff 
seiner  Frau  selbst  in  Gebrauch  genommen  und  ihr  dagegen 
«inen  neuen  gekauft  habe.^) 


L  ibidem  S.  86. 

2)  ibidem  S.  86;  W  e  i  s  s  a.  a.  0.  II  S.  1035;  Gay 
„Bibliographie  des  ouvragss  relatifs  ä  l’amour“  3.  Auflage, 
Turin  1871  Bd.  I  S.  3. 

3)  Traill  „Social  England“  Bd.  IV.  S.  485. 


221 


Das  einzig  Gute  an  der  Mode  der  Restaurationsepoche 
war  ihre  verhältnissmässig  grosse  Natürlichkeit  und  Ein¬ 
fachheit,  die  trotz  aller  Frivolität  einen  wohlthuenden 
Eindruck  machte.  Im  Gegensätze  dazu  zeichnet  sich  die 
Mode  des  18.  Jahrhunderts  durch  ihre  Künstlichkeit  und 
den  dadurch  bedingten  rapiden  Wechsel  aus.  Georgia  na 
Hill  sagt:  ,,Kein  Jahrhundert  schwelgte  so  in  Künst¬ 
lichkeit.  Kleidung,  Gewohnheiten,  Vergnügungen,  Reden 
—  alle  bezeugen  in  gleichem  Maasse  den  Widerwillen 
gegen  die  unverfälschte  Natur.“')  Man  muss  in  dem 
Werke  von  Malcolm  (Bd.  II  S.  312 — 357)  die  Zu¬ 
sammenstellung  der  Capricen  der  Mode  zwischen  1700 
und  1800  studiren,  um  den  Beweis  für  die  Richtigkeit 
dieses  Urteils  vor  Augen  zu  haben.  Auch  W  e  i  s  s  be¬ 
trachtet  den  häufigen  Mode  Wechsel  als  die  charakte¬ 
ristische  Erscheinung  im  England  des  18.  Jahrhunderts, 
wobei  die  frühzeitige  Entwickelung  eines  in  allen  Farben 
schillernden  Stutzerthums  sogar  in  Frankreich  nicht 
ihresgleichen  hatte.^)  Einen  anschaulichen  Überblick  über 
den  Modewechsel  in  Beziehung  auf  die  englische  weibliche 
Kleidung  giebt  W.  Alexander.^)  Am  Beginne  des  18. 
Jahrhunderts  sei  allgemein  die  Meinung  verbreitet  gewesen, 
dass  die  Natur  den  weiblichen  Unterleib  viel  zu  gross 
gestaltet  habe,  weshalb  man  denselben  auf  alle  mögliche 
Weise  eingeschnürt  und  verlileinert  ^habe.  Gegen  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  begann  man  zu  entdecken,  dass 
die  Natur  im  Gegenteile  den  weiblichen  Unterleib  noch 
lange  nicht  so  gross  gemacht  habe,  als  er  eigentlich  sein 
sollte.  Daher  wurde  der  Defect  ausgebessert,  und  um 

G.  Hill  „Women  in  English  Life“  Bd.  I  S.  307. 

2)  Weiss  a.  a.  0.  Bd.  11  S.  1274. 

3)  W.  Alexander  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  137 — 138, 


222 


1759  und  1760  sahen  alte  und  junge  Frauen  so  aus, 
als  ob  sie  sämtlich  im  Stadium  der  Schwangerschaft 
wären.  Zehn  Jahre  später  kam  wieder  die  erste  Mode 
auf.  Nicht  weniger  ins  Auge  springend  waren  die 
Kevolutionen,  welche  sich  Brüste  und  Schultern  in  den 
einzelnen  Modephasen  des  18.  Jahrhunderts  gefallen  lassen 
mussten.  Im  Anfänge  des  Jahrhunderts  war  es  höchst 
indecent,  zwei  Zoll  unterhalb  des  Halses  nackt  zu  sein; 
in  der  Mitte  war  diejenige  mit  dem  feinsten  Geschmacke 
gekleidet,  welche  den  grössten  Theil  ihrer  Brüste  und 
Schultern  den  Blicken  preisgab.  Einige  Jahre  später  war 
jede  Frau  bis  zum  Kinn  eingehüllt.  In  den  70iger  Jahren 
kamen  Brüste  und  Schultern  wieder  zum  Vorschein.  In 
einer  Satire  vom  Ende  des  Jahrhunderts,  die  sich  in 
höchst  witziger  Weise  über  den  rapiden  Wechsel  der 
Moden  lustig  macht,  heisst  es:  ,,Es  wurde  neulich  Abends 
in  Drury  Lane  mit  Erstaunen  bemerkt,  dass  Lady  P  .  .’s 
Kleid  seit  mehr  als  einer  —  halben  Stunde  ausser  Mode 
war.^‘i) 

Hie  Hauptursache  dieser  ausserordentlichen  Variabi¬ 
lität  der  Mode,  die  selbst  in  Frankreich  nicht  in  dieser 
Ausdehnung  zu  beobachten  ist,  war  das  Aufkommen  der 
grossen  Kaufläden  und  Modebazare,  die  bereits 
im  18.  Jahrhundert  in  London  eine  Entwicklung  erreichten, 
hinter  welcher  die  anderen  europäischen  Hauptstädte  weit 
zurückblieben.  Noch  1792  rechnet  v.  Schütz  das  „Auf¬ 
putzen  der  Kaufmannsgewölbe  zu  den  Eigenheiten  der 
englischen  Nation“,  und  „für  einen  Fremden  ist  solches 
ein  so  ungewöhnlicher  Anblick,  bei  welchem  man  sich 
stundenlang  verweilen  kann.  Hinter  den  hohen  Fenstern 


1)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  61. 


223 


mit  grossen  Scheiben  des  unteren  Stockwerkes  stellt 
der  Kaufmann  seine  Waren  zur  Schau  aus,  und  Viele 
verstehen  die  Kunst,  ihren  Laden  so  lockend  aufzuputzen, 
dass  manche  Käufer  gereizt  werden“.^) 

In  Cheapside  und  Charing  Cross  bestanden  solche 
grossen  Bazare  und  Kaufläden  schon  am  Anfänge  des 
18.  Jahrhunderts^),  später  aber  wurden  Old  und  New- 
Bondstreet  die  Gegend  dieser  Modebazare  und  wurden 
bald  „hoch  angeschrieben  in  den  Annalen  des  Luxus 
und  der  Mode“  als  „promenoirs  du  caprice  et  du  bon 
ton“  und  „ecoles  de  coquetterie“.^) 

Das  Besuchen  der  grossen  Kaufläden  bürgerte  sich 
frühzeitig  als  ein  notwendiger  Bestandteil  des  fashionablen 
Lebens  ein,  sodass  schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
dafür  ein  eigenes  Wort  gebildet  wurde,  shopping  nämlich 
Alexander  sagt:  „Shopping“,  wie  man  es  nennt,  ist 
ein  fashionables  weibliches  Amüsement.  Zwei,  drei  und 
bisweilen  mehr  Damen  machen  in  Begleitung  ihrer  Galans 
eine  Kundreise  durch  die  vornehmsten  Läden  und  besich¬ 
tigen  die  fashionabelsten  Waren,  ohne  jede  Absicht,  auch 
nur  einen  Sixpence  auszugeben.  Nachdem  sie  die  Kauf¬ 
leute  den  ganzen  Vormittag  gequält  haben,  kehren  sie 
nach  Hause  zurück,  entweder  ohne  eine  Ahnung  der  be¬ 
gangenen  Thorheiten,  oder,  was  schlimmer  ist,  an  dem 
Gedanken  an  die  von  ihnen  verursachte  Störung  und 
Belästigung  sich  noch  nachträglich  ergötzend“.^)  Das 
tägliche  „shopping“  galt  und  gilt  noch  heute  während 


q  Y.  S  c  h  ü  t  z  „Briefe  über  London“  Hamburg  1792  S.  223. 

The  Foreigner’s  Giude  S.  66. 

3)  Tableau  descriptif  de  Londres  S.  275. 

0  Alexander  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  98 — 100. 


224 


der  Saison  für  ebenso  fasMonabel  wie  etwa  in  Paris  die 
tägliche  Zurschaustellung  der  eigenen  Person  in  einer 
Loge  der  grossen  Operh)  Gewöhnlich  begannen  diese 
Promenaden  in  der  Bond  Street  gegen  3  oder  4  Uhr 
Nachmittags.  Jouy  teilt  die  Besucher  und  Besucherinnen 
der  Modeläden  in  drei  Gruppen.  Die  einen  machen  wirk¬ 
liche  Einkäufe,  andere  gehen  aus  Neugierde  und  um  dem 
guten  Ton  zu  genügen  hin  und  eine  dritte  Gruppe  thut 
es  aus  lauter  Langeweile.^) 

Sehr  anschaulich  schildert  Born eman  n  das  Treiben 
in  Bond  Street:  „Hier  ist  es,  wo  die  üppige  Lebewelt, 
die  da  glänzen  will  im  Eitelkeitsschaum,  zusammenströmt, 
und  im  Auf-  und  Abwallen,  so  zur  Tages-  als  Abendzeit 
sich  beschauet,  mustert  und  abhechelt  nach  Gebühr. 
Hier  —  wo  die  Eleganten,  wie  sonst  schlichte  Leute  nur 
für  den  Wechsel  der  Jahreszeiten,  so  für  die  verschiedenen 
Tagesstunden,  anders  und  wieder  anders  gekleidet  er¬ 
scheinen;  das  Neueste  aus  dem  rastlosen  Schöpfungsreiche 
der  Mode  zur  Schau  tragen,  einkaufen  und  Alles  und  Jedes 
zwei  und  drei  mal  teurer  bezahlen  als  in  den  übrigen 
Gegenden  Londons.  Aber  es  muss  erkauft  sein  in  den 
Läden  der  gefeierten  Strasse,  soll  es  Gnade  finden  vor 
dem  Scharfblick  verfeinerter  Sinne.  —  Zur  Bond  Street 
wallfahrten  täglich,  die  den  Leib  mit  Putz  und  Kleidern 
beschicken,  und  was  sonst  für  Flittergeschnörkel  die 
fleissigen  Hände  regt,  um  abzulauschen,  was  über  Nacht 
frisch  hervorgebrochen  im  grossen  Treibhause  der  Mode. 
So  ist  denn  hier  immerdar  ein  lieblich  buntes  Gewimmel“.^) 

Tableau  descriptif  S.  273. 

2)  Jouy  „L’hermite  de  Londres“  Bd.  HI  S.  7. 

3)  Wilhelm  B  o  r  n  e  m  a  n  n  „Einblicke  in  England  und 
London  im  Jahre  1818“  Berlin  1818  S.  158 — 159. 


225 


Höchst  eigentümlich  war  die  Rolle,  welche  die 
männlichen  und  weiblichen  Angestellten  in 
den  grossen  Modeläden,  unter  welchen  die  von  Oakley  und 
Prichard  die  berühmtesten  waren,  spielten,  welche  Rolle 
zugleich  ein  neuer  Beleg  für  die  engen  Beziehungen 
zwischen  Mode  und  Sexualleben  ist. 

Schon  seit  1765  kam  der  Gebrauch  auf,  in  den 
Läden  für  weibliche  Moden  junge,  kräftige  und  schöne 
Männer  anzustellen,  welche  durch  den  Eindruck  ihrer 
Persönlichkeit  auf  die  vornehme  Damenwelt  den  Absatz 
befördern  sollten,  und  schon  um  jene  Zeit  erwuchsen  aus 
diesen  Beziehungen  mannigfaltige  Ärgernisse.^)  Aus  dem 
Ende  des  Jahrhunderts  berichtet  Boettiger:  „Weil  das 
Damenvölkchen  dieser  Hauptstadt  für  eine  hübsche 
Männergestalt  und  frische  rote  Wangen  nicht  fühllos  ist, 
so  sorgen  die  schlauen  Bondstreeter  für  wohlgebaute, 
sattvolle  und  vielversprechende  Ladendiener,  mit  denen 
eine  lüsterne  Lady  wohl  ein  paar  Dutzend  Worte  mehr 
wechseln  mag,  als  gerade  der  Handel  erfordert.  Hier 
sitzt  der  Knoten,  warum  das  vornehme  Frauenvolk  gar 
nicht  aus  Bondstreet  fortkommen  kann,  und  an  einem 
Aufsatze,  an  ein  paar  Ellen  Band,  oder  an  ein  Paar  Schuhen 
den  ganzen  geschlagenen  Morgen  feilschet  und  schachert. 
Wie  nun  oben  bemerkt  worden,  dass  es  viele  Laden¬ 
dienerinnen  in  London  giebt,  und  dass  Bondstreet  einen 
erlesenen  Vorrat  derselben  hat,  so  ist  nicht  zu  vergessen, 
dass  der  artigen  und  wohlaussehenden  „Shopmen“  noch 
weit  mehr  sind.  Je  anziehender  der  Ladendiener,  desto 
häutiger  und  getreuer  die  weiblichen  Kunden.“^) 

Malcolm  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  358—358. 

Boettiger  „London  und  Paris“  Weimar  1799  Bd.  IV 

S.  275. 


15 


226 


Als  ähnliches  Lockmittel  dienten  für  die  männliche 
Kundschaft  die  hübschen  Ladenmädchen  und  Modistinnen. 
„Toutes  ces  jolies  marchandes  rivalisent  entr’elles,  pour 
fixer  l’attention  des  promeneurs.  En  achetant  des  bagatelles, 
on  glisse  quelque  propros  d’amour;  la  marcbande  repond 
par  un  doux  sourire  ou  quelque  furtif  coup  d’oeil.“^) 
Sehr  häufig  traf  man  Abends  diese  schönen  Modistinnen 
am  Arme  ihres  Galan  in  Ranelagh  und  ebenso  häufig  betrat 
eine  solche  vielbegehrte  und  umschwärmte  Ladennymphe 
die  abschüssige  Bahn  der  Prostitution,  wobei  ihr  die 
männlichen  Stutzer,  die  „von  11  Uhr  ab  bis  5  übr  in 
Bond  Street  flaniren  oder  in  den  Kautmannsgewölben,  bei 
den  Zuckerbäckern,  in  den  Obstläden,  Kaffeehäusern 
u.  s.  w.  den  Rahm  der  Mode,  des  Geschmackes,  der 
Schönheit  oben  abschöpfen  wollen“  ^),  nur  allzu  gern  be¬ 
hilflich  waren. 


1)  Tableau  descriptif  S.  275. 

London  und  Paris  Bd.  IV  S.  275. 

Diese  Verhältnisse  bestanden  noch  im  19.  Jahundert. 
Louis  Blanc  schildert  in  seinen  „Lettres  sur  l’Angleterre“ 
(Paris  1865  Bd.  I  S.  45—46)  sehr  amüsant  die  Wertschätzung 
der  männlichen  Angestellten  seitens  der  Damen.  „Ils  sont  si 
polis,  disient-elles,  ces  jeunes  gens!  Ils  se  croient  tenus  ä 
tant  d’egards  dans  leurs  cravates  blanches !  Ils  sont  si  patients, 
surtout!  —  Montrez-moi  ceci  .  .  .  non,  cela  .  .  et  puis  ceci 
encore  et  puis  encore  cela.  —  On  reste  une  heure  dans  le 
magasin,  on  s’en  va  sans  rien  acheter,  et  le  jeune  homme  est 
trop  galant  pour  y  prendre  garde.  C’est  9a  qui  s’appelle  faire 
des  emplettes.  Mais  que  deviendrait,  juste  ciel!  le  supreme 
bonheur  du  s  hopp  in g,  le  jour  oü  nous  aurions  face  ä  face 
des  personnes  de  notre  sexe,  qui  le  j^rendraient  avec  nous  sur 
un  pied  d’egalite,  oseraient  n’etre  pas  toujours  de  bonne  hu- 
meur,  et  s’impatienteraient  de  nos  fläneries  dans  le  monde  de 
la  curiosite  ?  Adieu  le  charme  I  Acheter  qui  est  un  plaisir, 


227 


In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  entwickelte 
sich  der  Luxus  in  der  Mode  in  einer  erstaunlichen  Weise 
wie  in  keinem  anderen  europäischen  Lande.  Nach 
Archenholtz  war  der  Aufwand  in  der  Kleidung  so 
übertrieben,  dass  man  weniger  Rücksicht  auf  den  Putz 
nahm  als  auf  die  Lust,  Geld  zu  verschwenden.  Eine 
gewöhnliche  Schlafhaube  der  Herzogin  von  Devonshire 
kostete  zehn  Guineen,  und  die  Nachtkleidung  der  ver- 
wittweten  Herzogin  von  Rutland  wurde  mit  hundert 
Guineen  bezahlt.  Als  der  Obeist  L.  sich  auf  einen  Ver¬ 
gleich  mit  seinen  Gläubigern  einlassen  musste,  wurde 
u.  a.  die  Rechnung  eines  Hutmachers  präsentirt,  der  in 
der  kurzen  Zeit  von  17  Monaten  Hüte  im  Preise  von  119 
Pfund  Sterling  geliefert  hatte. i)  Im  allgemeinen  zahlten 
Damen  von  Rang  500  Guineen  und  mehr  jährlich  an  ihre 
Putzmacherin;  ausserdem  wurden  auch  gute  Beraterinnen 
in  Modesachen  extra  honorirt.  So  war  die  berühmte 
Schauspielerin  Mrs.  Abington  eine  sehr  begehrte 
Ratgeberin  solcher  Art.  Sie  fuhr  in  der  Stadt  umher, 
sprach  bei  den  einzelnen  Damen  vor  und  verdiente  da- 


devriendrait  ime  affaire.“  Welche  Rolle  noch  in  der  neuesten 
Zeit  die  grossen  Kaufläden  und  Modebazare  spielen,  erhellt  aus 
dem  Abschnitte  „Händler  und  Bazare“  der  Enthüllungen  der 
„Pall  Mall  Gazette“.  Vergl.  die  deutsche  Übersetzung,  Budapest 
1885  S.  75 — 76.  —  In  der  Nummer  des  „Daily  Telegraph“  vom 
3.  Juli  1900  findet  sich  ein  Bericht  über  die  Natur  des  „shopping“, 
welches  auch  heute  noch  von  vielen  Damen  zur  Anknüpfung 
galanter  Beziehungen,  besonders  ausserehelichen,  benutzt  wird, 
weshalb  die  Detectives  behufs  Auskundschaftung  des  Ehe¬ 
bruches  besonders  auf  die  Läden  und  Kaufhäuser  ihre  Auf 
merksamkeit  richten. 

Ü  Archenholtz  „Britische  Annalen  auf  das  Jahr  1788“ 
S.  412—415. 


15* 


228 


durch  noch  1500  bis  1600  Pfund  jährlich.  Ihr  „geschmack¬ 
voller  Anzug  auf  der  Bühne  war  beständig  das  Studium 
der  Zuschauerinnen,  wobei  sie  der  schleunigsten  Nach¬ 
ahmung  ihrer  Putzart  versichert  war.“ 

Natürlich  führte  dieser  Luxus  oft  weniger  bemittelte- 
Damen  auf  den  Weg  der  Corruption,  zu  Ehebruch  und 
Prostitution.  Sie  verkauften  ihre  Keize  an  den  Meist¬ 
bietenden,  um  von  dem  Erlöse  ihre  kostspieligen  Toiletten 
bestreiten  zu  können.  Hüttner  berichtet:  „Ich  habe 
mir  es  seit  einem  Jahre  zum  Geschäfte  gemacht,  den 
Ursachen  der  vielen  Ehebruchsprozesse  nachzuforschen  und 
gefunden,  dass  unter  fünf  Weibern,  die  von  ihren  Männern 
geschieden  werden,  immer  wenigstens  drei  sind,  die  durch 
Luxus  in  Kleidern  und  den  Mangel  an  Mitteln,  ihn  be¬ 
streiten  zu  können,  verleitet  wurden,  dem  Golde  des  Ver¬ 
führers  aufzuopfern,  was  er  durch  seine  persönlichen 
Reize  nie  von  ihnen  würde  erlangt  haben.“ Auch  in- 
den  mittleren  und  niederen  Ständen  herrschten  ähnliche 
Verhältnisse.  „Die  Weiber  und  Töchter  von  Tanz-  und 
Musikmeistern,  von  Schuhmachern,  Schneidern  und  anderu 
Handwerkern  unterscheiden  sich  in  unseren  Tagen  in  der 
Kleidung  oft  wenig  oder  garnicht  von  Damen  vom  ersten 
Range,  indem  sie  nicht  nur  die  Pracht,  sondern  auch 
alle  modischen  Thorheiten  der  Grossen  nachahmen.“ 

Was  nun  die  Einzelheiten  dieses  Luxus  in  der  Mode 
betrifft,  so  zeigte  sich  derselbe  zunächst  in  der  Haar¬ 
tracht,  vorzüglich  der  weiblichen.  Nach  Alexander 
wäre  dies  ein  uraltes  Erbe  aus  angelsächsischer  Zeit,  da 
bereits  die  angelsächsischen  Frauen  die  Coiffüre  für  ihre 

1)  Archen holtz  „England  nnd  Italien“  Bd.  I  S.  165  —  166.. 

Hüttner  a.  a.  0.  S.  40, 

3)  ibidem  S.  41. 


229 


rgrösste  persönliche  Schönheit  hielten  ^).  Seit  der  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  entwickelte  sich  die  Haartracht  zu 
einer  enormen  Grösse.  Alexander  erklärt  es  für  un¬ 
möglich,  alle  die  unglaublichen  Variationen  der  weiblichen 
‘Coitfüre  seiner  Zeit  aufzuzählen.  Sie  war  durch  die 
Verwendung  der  verschiedensten  Materialien  wie  Wolle, 
Bänder,  Spitzen,  Straussenfedern,  Locken,  Kämme,  Nadeln, 
Pomaden  und  Pasten,  falschen  Haares  zu  einer  solchen 
'Grösse  aufgetürmt,  dass  sie  für  gewöhnlich,  wenn  die 
Betreffende  stand,  ein  Drittel  der  ganzen  Länge  des 
Körpers  ausmachte  !^)  Oft  auch  prangte  ein  completer 
Blumen-  oder  Obstgarten  auf  dem  Haupte.  Der  Schau¬ 
spieler  Garrick  machte  diese  letztere  Mode  lächerlich, 
indem  er  eines  Tages  als  Weib  verkleidet  auf  der  Bühne 
■erschien,  in  einer  aus  allen  möglichen  Sorten  von  Ge¬ 
müsen  aufgebauten  Haartracht,  aus  der  besonders  die 
roten  Wurzeln  gar  lächerlich  hervorlugten.^)  Sogar 
Kutschen,  Schiffe  und  Tiere  krönten  die  2  Fuss  hohe 
‘Coiffüre^).  Zahlreiche  Anekdoten  cursirten  über  die 
Folgen  dieser  extravaganten  Mode.  So  erzählte  man  sich 
von  einer  Dame,  die  in  einer  Abendgesellschaft  über 
sheftige  Schmerzen  im  Nacken  klagte.  Es  stellte  sich 
heraus,  dass  sie  während  der  Fahrt  zu  der  Gesellschaft 
gezwungen  gewesen  war,  den  Kopf  so  tief  zu  beugen,  dass 
das  Kinn  auf  den  Knieen  ruhte,  weil  die  Haartracht  viel 
zu  hoch  für  das  Dach  der  Kutsche  gewesen  war.  Karri- 
katuren  jener  Zeit  stellen  Damen  in  Sänften  mit  offenem 

1)  Alexander  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  114. 

2)  ibidem  H,  139. 

3)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  38. 

4)  W.  M.  Cooper  „Der  Flagellaiitisiniis  und  die  Flagel¬ 
lanten“  Dresden  1899  S.  143. 


230 


Dache  vor,  aus  welchem  die  ungeheure  Coiffure  weit 
hervorragt. 

Da  die  kunstvollen  Haarfrisuren  sehr  viel  Zeit  und 
Geld  zu  ihrer  Herstellung  erforderten,  so  wurden  sie  von 
vielen  Damen  möglichst  selber  erneuert  und  natürlich 
auch  Nachts  beim  Schlafen  nicht  aufgelöst^).  Dieses 
wochenlange  Tragen  derselben  Coiffüre  hatte  natürlich 
ein  Kanzigwerden  der  darin  enthaltenen  Pomaden^),  eine 
Ansammlung  von  Unreinlichkeiten  aller  Art  darin  zur 
Folge,  ja  nicht  selten  siedelte  sich  Ungeziefer  in  dem 
monatelang  nicht  gekämmten  Kopfhaar  an.^) 

Neben  der  natürlichen  spielte  die  künstliche  Haar¬ 
tracht,  die  Perrücke,  während  des  ganzen  18.  Jahr¬ 
hunderts  eine  grosse  Rolle.  Georgiana  Hill  nennt 
dieselbe  „the  great  feature  in  the  dress  of  the  18th 
Century“  ^).  Sie  wurde  zuletzt  nicht  nur  von  Männern, 
sondern  auch  von  Frauen,  Mädchen  und  Jünglingen,  jasogar 
von  kleinen  Mädchen  von  noch  nicht  14  Jahren  getragen^). 
Ein  Lied  der  Zeit  schildert  die  Perrücke  als  unent¬ 
behrlichen  Bestandteil  der  modischen  Toilette : 

And  now  for  to  dress  up  my  beau  witli  a  grace, 

Let  a  well-frizzled  wig  be  set  off  from  bis  face, 

With  a  bag  quite  in  taste  from  Paris  just  come, 

That  was  made  and  ty’d  up  by  Monsieur  Frisson, 

With  powder"^)  quite  grey,  then  bis  head  is  complete  f 
If  dress’d  in  the  fashion;  no  matter  for  wit. 

1)  Hill  a.  a.  0.  11,  37. 

Traill  „Social  England“  Bd.  Y  S.  356. 

3)  Hill  a.  a.  0.  11,  44. 

4)  „Nocturnal  Revels,  or  the  History  of  King’s  Place  andl 
other  modern  Nunneries“.  London  1779  Bd.  1  S.  102. 

5)  Hill  a.  a.  0.  H,  9. 

6)  Hüttner  a.  a.  0.  S.  35. 

Der  Puder  war  stets  j)arfümirt,  wofür  die  yerschie- 
densten  Duftstolfe  verwendet  wurden.  Hill  11,  12 — 13. 


231 


Im  Mai  1795  zeigte  ein  gewisser  Koss,  der  sich 
„Proprietor  of  tlie  ornamental  Hair-Manufactury“  nannte, 
öffentlich  an,  dass  er  aus  Deutschland,  Spanien  und  Italien 
300  Pfund  herrliches,  langes  Haar  erhalten  hätte,  und 
zwar  von  der  schönsten  Länge  und  den  schönsten  Farben, 
die  man  jemals  in  England  gesehen  habe.  Er  lud  die 
Damen  ein,  in  sein  Warenlager  in  Bishopgate  Street  zu 
kommen,  wo  sie  „über  sein  ganz  vortreffliches  geschmack¬ 
volles  Assortiment  von  Haaren  erstaunen  würden.  Seine 
Chignons  wären  von  französischen  Haaren,  aber  von  den 
schönsten,  welche  die  Einbildung  sich  nur  denken  kann. 
Er  habe  deren  1000  Stück  vorrätig,  von  50  verschiedenen 
Längen  und  allein  20  Arten  brauner  Schattierungen, 
dabei  fast  eine  unendliche  Menge  von  anderen  Farben, 
als  schwarzgrau,  rot,  fleischartig  u.  s.  w.“  Die  Preise 
dieser  Chignons  variirten  von  5  Schilling  bis  zu  5 
Guineen,  i) 

Diese  Perrückenmanie  erzeugte  auch  eine  spezielle 
Gattung  von  Dieben,  die  Perrücken  di  ebe,  die  sich 
sehr  zahlreich  in  den  Strassen  Londons  umhertrieben  und 
durch  äusserst  geschickte  Handgriffe  die  Perrücken  von 
den  Köpfen  der  Passanten  entfernten  und  wieder  verkauften.^) 

Wie  auf  das  Kopfhaar,  wurde  auch  von  Seiten  des 
schönen  Geschlechts  auf  den  Hut  der  grösste  Wert  gelegt. 
Archenholtz  bemerkt:  „Die  schönste  Zierde  der  Eng¬ 
länderinnen  aber  ist  der  Hut,  der  jetzt  mit  Bändern  und 
Federn  reichlich  versehen  ist.  Ohne  denselben  darf  keine 
weibliche  Person  hohen  oder  niedern  Standes  ihren  Fuss 

0  Archenholtz  „Britische  Annalen“  Bd.  XVI  (1795) 
S.  182 — 183.  Vergl.  über  die  Haarhcändler  auch  G.  Ilill  a.  a. 
0.  Bd.  II  S.  13—14. 

Hill  a.  a.  0.  Bd.  H.  S.  22—23. 


auf  die  Strasse  setzen.  Kein  Betlelweib  sogar  lässt  sich 
ohne  Hut  sehen.  Sie  haben  eine  eigene  Art,  ihn 
aufzusetzen,  die  von  den  Damen  anderer  Länder  nur  sehr 
unvollkommen  nachgeahmt  wird,  daher  auch  bei  diesen 
die  grosse  Wirkung  eines  solchen  Hutes  nicht  so  sichtbar 
ist.  Diese  Wirkung  veranlasste  Lin gu et  zu  sagen,  dass, 
wenn  Homer  diese  reizende  Tracht  gekannt  hätte,  er 
der  Venus  zu  ihrem  Gürtel  noch  einen  englischen  Hut 
würde  gegeben  haben.“ 

Der  berühmteste  dieser  Damenhüte  war  neben  dem 
„mob“  und  dem  „fly-cab  ä  la  Therese“  der  „Ranelagh- 
Mob“,  ein  Hut,  der  von  den  Demimondainen  in  Ranelagh 
erfunden  worden  war.  Er  bestand  fast  ausschliesslich 
aus  Gaze,  die  um  den  Kopf  geschlungen  und  unter 
dem  Kinn  gekreuzt  wurde  und  an  der  Hinterseite  des 
Kopfes  mit  den  herabhängenden  Enden  befestigt  wurde.“) 

Auch  auf  den  weiblichen  Busen  richteten  sich  die 
Modeextravaganzen  jener  Zeit  zum  Teil  in  recht  eigen¬ 
tümlicher  Weise.  Über  den  Gebrauch  der  Schnürbrüste 
(Korsetts)  bemerkt  Georg  Förster:^)  „Ein  anderer 
Gräuel  des  hiesigen  Anzuges  sind  die  Schnürbrüste,  die 
so  allgemein  wie  jemals  getragen  werden,  und  jetzt  nur 
wegen  der  fürchterlich  hohen  Florbusen  eine  Exkreszenz 
vor  der  Brust  bilden,  welche  wenigstens  diesen  zarten 
Teil  vor  Beschädigung  sichert,  aber  zur  Schönheit  der 
weiblichen  Figur  nicht  beiträgt.“  Schlimmer  waren  die 


b  Archenholtz  „England  und  Italien“  Bd.  III  S.  73. 
Traill  „Social  England“  ßd.  V  S.  356;  Ilill  a.  a.  0. 
Bd.  II  S.  55. 

3)  „Briefe  und  Tagebücher  Georg  Försters  von  seiner 
Reise  am  Niederrhein,  in  England  und  Frankreich,  im  Frühjahr 
1790“  herausgeg.  von  Albert  Leitzmann,  Halle  1893  S.  234. 


233 


künstlichen  Busen,  die  in  London  erfunden  und 
besonders  in  den  letzten  Jahren  des  18.  Jahrhunderts 
getragen  wurden.^)  „Es  war  letztes  Spätjahr  unter 
Frauenzimmern  von  Ton  so  allgemein  Mode,  halbnackt 
zu  erscheinen  und  die  verborgenen  Keize  ihres  Körpers 
zur  Schau  auszustellen,  dass  ein  beträchtlicher  Teil  der 
hiesigen  weiblichen  Beaumonde,  der  keine  natürlichen 
Busen  aufzuzeigen  hatte,  zu  künstlichen,  von  Wachs  ver¬ 
fertigten  seine  Zuflucht  nahm,  um  ja  nicht  durch  die 
Mode  verraten  zu  werden.  Madame  Thiknesse  erzählt 
in  ihrem  neulich  erschienenen  moralischen  Romane 
„The  School  for  Fashion“  Teil  II  pag.  119  eine  hierher¬ 
gehörige  wahre  Anekdote: 

Eine  junge  Dame,  die  in  wenig  Tagen  mit  einem 
würdigen  Manne  getraut  werden  sollte,  befand  sich  mit 
ihrem  Bräutigam  in  einer  Assemblee  im  Hause  einer  Frau 
von  Stande.  Da  die  Gesellschaft  äusserst  zahlreich  war, 
wurde  die  Luft  bald  bis  zum  Ersticken  heiss  und  ver¬ 
ursachte  der  unglücklichen  Nymphe  eine  plötzliche  Ohn¬ 
macht.  Das  ganze  Zimmer  geriet  auf  einmal  in  Bewegung. 
Die  anwesenden  Damen  eilten  zu  ihrer  Hülfe  herbei ;  man 
öffnete  ihr  das  Kleid  in  der  Gegend  des  Busens,  um  ihr 
mehr  Luft  zu  verschaffen,  als  auf  einmal  —  zwei  der 
niedlichsten  wächsernen  Brüste  unter  dem  flornen  Busen¬ 
tuche  auf  den  Boden  fielen.  Die  Damen  schrieen,  ob  sie 
gleich,  wie  ich  nicht  zweifle,  sich  heimlich  über  diese 
öffentliche  Entdeckung  freuten.  Es  lässt  sich  eher  denken, 
als  beschreiben,  wie  gross  das  Erstaunen  des  armen 
getäuschten  Bräutigams  war,  der  ohne  Zweifel  von  den 
Reizen  des  alabasternen  Busens  seiner  Geliebten  oft  wird 


y  Weiss  a.  a.  0.  Bd.  H  S.  1278. 


234 


bezaubert  gewesen  sein.  Seine  Liebe  gegen  das  betrüge¬ 
rische  Weib  verwandelte  sieb  auf  einmal  in  tiefe  Ver¬ 
achtung;  die  Unglückliche  wurde  ein  Gegenstand  des 
allgemeinen  Spottes,  und  sie  verlor  auf  einmal  Liebhaber, 
Bewunderung  und  die  Achtung  ihrer  Bekannten.“^) 

Wiederholt  kam  ferner  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts 
die  merkwürdige  Mode  der  falschen  Bäuche,  dei 
„Pads“  oder  „Paddies“  auf.  Nachdem  sie  erst  Ende  der 
üOiger  Jahre  vorübergehend  aufgetaucht  war,  machte  sie 
sich  wiederum  in  den  90iger  Jahren  geltend.  Archen- 
holtz  berichtet:  „Es  war  die  widersinnige  Erfindung 
mit  Hintansetzung  von  Anständigkeit  und  Delikatesse, 
die  weibliche  Leibesform  durch  falsche  Bäuche  zu  ver¬ 
unstalten;  eine  Unförmlichkeit,  die  dem  weiblichen  Ge¬ 
schlecht  nur  im  nahen  Gebärstande  eigen  ist.  Man  nannte 
diese  seltsamen  Ausstaffierungen  Pads,  und  die  kleinen 
Paddies;  sie  waren  gewöhnlich  von  Zinn,  daher  man 
ihnen  auch  den  Namen  zinnerne  Schürzen  beilegte.  Diese 
künstlichen  Bäuche  fanden  sehr  grossen  Beifall,  besonders 
bei  den  unverheirateten  Frauenzimmern,  daher  die  Witz¬ 
linge  sagten,  dass  in  den  Zeichen  des  Himmelskreises 
auch  eine  Kevolution  vorgegangen,  und  die  Zwillinge  der 
Jungfrau  zu  nahe  gekommen  wären.  Überhaupt  gaben 
diese  falschen  Bäuche  den  Spöttern  Waffen,  die  sie  auch 
unbarmherzig  brauchten,  und  dadurch  die  Pads  bald  in 
Verachtung  brachten.  Auch  war  eine  solche  Mode  zu 
abgeschmackt,  um  von  langer  Dauer  zu  sein.  Sie  entstand 
in  London  im  Februar  (1793)  und  mit  Ende  des  Frühlings 
war  sie  in  England  vorüber,  sie  ging  nun  nach  Dublin, 
wo  sie  den  Damen  ebenfalls  willkommen  war.  Durch  die 


1)  Hüttner  a.  a.  0.  S.  33—34. 


235 


Art  Völkerwanderung,  die  der  französische  Krieg  erzeugte,, 
kam  sie  auch  durch  die  flüchtigen  Engländerinnen  nach 
Deutschland,  wo  jedoch  die  Nachahmung  unterblieb.“  i) 

Täuschte  diese  künstliche  Yergrösserung  des  vorderen 
Umfanges  des  Unterleibes  eine  veritable  Schwangerschaft 
vor,  so  zielte  die  Yergrösserung  der  Hüft-  und  Gesäss- 
gegend  mittelst  Keif  rock  und  Tournüre  auf  die 
Erweckung  eigenartiger  sexuellperverser  Vorstellungen. 
„Wie  können  doch  die  delikaten  Weiber  den  Anblick 
jenes  Teils  der  tierischen  Ökonomie,  die  so  sehr  ekelhaft 
ist,  dem  Auge  gleichsam  aufdringen?“  fragt  entrüstet  die 
Y^ollstonecraft^),  wohl  ahnend,  dass  die  weiblichen 
Posteriora  auf  gewisse  Arten  von  Wollüstlingen  eine 
grosse  Anziehungskraft  ausüben,  und  dass  die  Accentuirung 
dieser  Gegend  auch  die  Aufmerksamkeit  normal  empfin¬ 
dender  Individuen  auf  dieselbe  lenken  und  perverse 
Ideeenassociationen  hervorrufen  muss. 

Auch  beim  Reifrock  ist  es  auf  eine  ungeheuerliche 
Yergrösserung  der  natürlichen  Formen  der  Beckengegend 
abgesehen.  Vermittelst  eines  sehr  grob-materiellen  Reizes 
wird  das  Auge  auf  die  dort  verborgenen  Reize  förmlich 
hingedrängt.  Der  „hooped  petticoat“  war  Gegenstand 
vielfacher  Verhöhnungen  und  Spottlieder  von  Seiten  des 
Volkes.  Ein  Lied  von  1721  besingt  recht  humorvoll  das 
tragikomische  Schicksal  einer  solchen  krinolinenge- 
schmückten  Modedame : 


L  Archenholtz  „Britische  Annalen“  Bd.  XI.  S.  420  bis 
421.  —  Über  falsche  Bäuche  in  Frankreich  nnd  Spanien,  vgl. 
J.  Bloch  a.  a.  0,  Teil  I  S.  155. 

2)  M.  W  0 1 1  s  1 0  n  e  c  r  a  f  t  „Rettung  der  Rechte  des  Weibes“ 
Schnepfenthal  1794 Bd.  II  S.  140 — 141.  —  Vergl.  auch  Addi  son’s 
Bemerkungen  über  den  Reifrock  im  80.  Stück  des  „Spectator“. 


236 


An  elclerly  lady  wbose  bulky  squat  ügure 

By  hoop  and  white  damask  was  renderd  inuch  bigger, 

Without  hood  and  bare-neck’d  to  the  Park  did  repair, 

To  shew  her  new  clothes,  and  to  take  the  fresh  air; 

Iler  shape,  her  attire,  rais’d  a  shout  and  lond  laughter; 
Away  waddles  Madam  ;  the  mob  hurries  after. 

Quoth  a  wag,  then  observing  the  noisy  crowd  follow, 

As  she  came  with  a  hoop,  she  is  gone  with  a  hollowd) 
Seit  1794,  also  schon  vor  der  Zeit  des  französischen 
Direktoriums,  kam  in  England  die  sogenannte  „fashion 
of  nakedness“,  die  Mode  der  Nacktheiten  auf,  durch 
welche  der  Körper  bis  aufs  äusserste  entschleiert  wurde.“) 
Oben  waren  Busen  und  Nacken,  unten  die  Beine  sichtbar. 
Später  führte  Lady  Charlotte  Campbell  die  noch 
schamlosere  Tracht  ein,  welche  Madame  Tallien  der 
Pariser  Gesellschaft  des  Direktoriums  aufoctroyirt  hatte, 
und  bei  welcher  eine  dünne,  durchsichtige  Mousselinhülle 
die  ganze  Bekleidung  des  Körpers  bildete.^)  ,, Man  kann 
die  Umrisse  ihrer  Glieder  durch  die  musselinene  Nebel¬ 
hülle,  die  sie  umgiebt,  ohne  Mühe  erkennen.  Einige  süsse 
Thoren,  die  im  Kufe  stehen,  Kenner  des  guten  Geschmacks 
zu  sein,  sind  entzückt  beim  Anblicke  der  halbbedeckten 
Reize  und  bewundern  die  nackte  Grazie  laut,  erheben  ihre 
runden,  fleischigen  Schultern  mit  rhapsodischem  Feuer 
und  preisen  den  verräterischen  Zauber  ihres  vollen  nied¬ 
lichen  Busens  und  die  Symmetrie  ihrer  Glieder;  und  siehe 
da,  die  Hässlichen  und  Schönen  glauben,  dass  sie,  um 
lür  Grazien  gehalten  zu  werden  und  die  allgemeine  Be- 


1)  J.  P.  Malcolm  „Anecdotes  of  the  Manners  and  Cu- 
stoms  of  London  duriug  the  18th  Century“  London  1810  Bd. 
II.  S.  323. 

Archenholtz  „Annalen“  Bd.  XIII.  S.  437. 
Archenholtz  „Annalen“  Bd.  XIX  S.  292. 


237 


Wanderung  auf  sich  zu  ziehen,  nur  ihre  dichteren  Kleider 
mit  einem  Musselinnebel  verwechseln  dürfen,  und  in 
wenigen  Tagen  sind  die  modischen  Spaziergänge,  New- 
bondstreet,  Pall  Mall,  der  Hydepark,  Ken- 
sington  Garden  etc.  etc.  mit  Schaaren  von  halbnackten 
Figuren  erfüllt.  Zwar  weht  ein  schneidender  Nordostwind ; 
Erkältung,  Krankheit  und  Tod  dringt  mit  der  scharfen 
Luft  auf  den  dünnbekleideten  Körper  ein;  die  Schönen 
zittern  vor  Kälte;  aber  die  Mode  will  es  nun  einmal  nicht 
anders  haben,  und  Doktor  und  Apotheker  und  Toten¬ 
gräber  können  auf  eine  reiche  Ernte  rechnen.“  i)  Über 
diese  Ausschreitung  der  Mode  liefen  ebenfalls  zahlreiche 
Anekdoten  und  Spässe  um,  die  man  besonders  den 
Quäkern  in  den  Mund  legte. 

Höchst  merkwürdig  und  spezifisch  englisch  war  die 
Sitte  der  Frauen,  die  Schuhe  mit  gewissen  Zu¬ 
richtungen  gegen  das  Beschmutztwerden  auf  der  Strasse 
zu  versehen.  Gewöhnlich  waren  es  ringförmige  eiserne 
Apparate,  welche  mit  Riemen  an  den  Schuhen  befestigt 
und  beim  Betreten  des  Hauses  abgenommen  wurden  ^). 
Der  Ursprung  dieser  seltsamen  Sitte  war  wohl  die  Mode 
der  seidenen  und  Zeug-Schuhe  in  den  mittleren  und 
oberen  Ständen,  da  nur  Dienstmädchen  Schuhe  aus  Leder 
trugen  ^).  Später  wurden  die  ringförmigen  Apparate  durch 
Holzsandalen  mit  eisernen  Stelzen  ersetzt.  B  o  r  n  e  m  a  n  n 
schildert  den  schwerfälligen,  ungraziösen  Gang  der  mit 
solchen  Holzschuhen  ausgerüsteten  Frauen  sehr  anschaulich. 

1)  Hüten  er  a.  a.  0.  S.  32 — 33. 

Archenholtz  „England“  Bd.  III  S.  72;  Schütz  a. 
a.  0.  S.  222. 

3)  Archenholtz  a.  a.  0. 

Bornemann  a.  a.  0.  S.  49 — 50. 


238 


.^,Es  ist,  wie  gewölinlicli,  ein  wenig  schlammig  in  den 
Strassen.  Frauen  und  Mädchen  haben  dann  ihre  Stelzen 
angethan.  Holzsandalen  auf  drei  Zoll  langen  Eisenstähen 
befestigt,  die  unten  an  einen  Stahlring  genietet  sind. 
In  weichem  Boden  gleicht  der  Eindruck  solcher  Tritte 
der  Fährte  eines  unbekannten  Tieres  mit  scharf  ein¬ 
schneidenden  Schalen.  So  schreiten  die  Schönen^  Jung 
und  Alt,  im  tüchtigen  Streckschritt  (3  Fuss  Weite  mag 
das  Normalmass  sein)  flüchtig  hinweg  über  den  Schmutz. 
Ohne  Klipp-Klapp-Geräusch  freilich  nicht,  denn  jeder 
Auftritt  schallt  völlig  wie  der  Hufschlag  eines  Litthauers, 
dem  die  Eisen  wackeln.  —  Sind  die  Schmutzstellen 
•durchwatet,  wird  das  Pflaster  reinlich,  schnell  werden  die 
Holzpantoffeln  wieder  abgestreift  und  nun  frei  und  zierlich 
in  den  Händen  mitgeführt,  bis  ihr  abermaliges  Anlegen 
nötig  erscheint.  Auf  solchen  Stelzen  mit  Leichtigkeit 
hinzuschreiten,  mag  viel  Übung  erfordern  und  wohl  schon 
in  frühester  Jugend  eingelernt  werden  müssen,  wie  man 
denn  wirklich  auch  die  kleinsten  Kinder  damit  an¬ 
gethan  sieht.“ 

Damen  aus  den  höchsten  Sphären  der  Gesellschaft 
verschmähten  natürlich  diese  recht  primitive  und  bäurische 
Art,  sich  vor  dem  Strassenschmutz  zu  schützen  und  be¬ 
dienten  sich  der  Tragsessel  (Sänften,  Porte  -  Chaisen), 
deren  Anzahl  um  1795  ausserordentlich  gross  war,  „einer 
mehr  von  den  hundert  sinnlichen  Beweisen  des  zu¬ 
nehmenden  Luxus  und  der  grösseren  Weichlichkeit  der 
Briteffh  während  es  im  15.  Jahrhundert  nur  kranken 
Personen  gestattet  war,  sich  eines  Tragsessels  zu  bedienen  ^). 


9  Archenholtz  „Annalen“  Bd.  XVI  S.  176—177. 


239 


Ein  unentbehrlicher  Bestandteil  der  fashionabeln 
Toilette  einer  englischen  Lady  des  18.  Jahrhunderts  war 
der  Fächer. 

Die  Geschichte  desselben  in  England  reicht  bis  ins 
14.  Jahrhundert  zurück,  wo  er  unter  Eich ard  II.  zuerst 
erschien,  später  besonders  unter  Heinrich  VIII.  bei  den 
oberen  Klassen  beliebt  war.  Auch  Elisabeth  schwärmte 
für  den  Fächer  und  besass  einen  solchen,  der  mit 
Diamanten  besetzt  war.  Zur  Zeit  Shakespeare’s  kosteten 
Fächer  bis  zu  40  Pfund.  Falstaff  sagt  in  den  „Weibern 
von  Windsor“  zu  Pistol:  „Lady  Brigitte  hat  ihren  Fächer 
verloren,  und  ich  habe  ihr  auf  Ehre  versichert,  dass  Du 
ihn  nicht  gestohlen  hast“.  Der  Fächer  wurde  damals 
mittelst  einer  goldenen  Kette  am  Gürtel  befestigt“.  — 
Das  18.  Jahrhundert  erlebte  die  Apotheose  des  Fächers. 
Jede  Dame  trug  ihn.  Der  Fächer  wurde  zu  einem  all¬ 
gemeinen  Ausdrucks-  und  Verständigungsmittel  über 
Politik,  Theater,  Litteratur,  Kunst  u.  s.  w.,  die  alle  auf 
demselben  durch  Schrift  oder  Bild  vertreten  waren  und 
je  nach  den  Tageszeiten  und  der  Gelegenheit  herangezogen 
wurden.^)  Ein  junges  Mädchen  der  Zeit  schreibt  in  ihren  Er¬ 
innerungen:  ,,Dann  bekam  ich  auch  Fächer!  Einer  ist 
jetzt  genug  für  ein  junges  Mädchen,  aber  wir  gingen 
mit  Fächern  wie  Japanesen,  und  ich  bekam  einen  für  die 
Strasse,  einen  für  morgens,  einen  für  abends  und  einen  für 
grosse  Gelegenheiten“.^)  Diesen  Fächerluxus  geisselt  ein 
Dichter  mit  folgenden  Versen; 


b  S.  Blondel  „Histoire  des  eventails  chez  tous  les 
peuples  ä  tontes  les  epoques“  Paris  1875  S.  73 — 74. 

2)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  52. 

3)  Cooper  a.  a.  0.  S.  143.  , 


240 


Neat  lady  tliat  is  fresh  and  fair 

Who  never  knew  what  belong’d  to  good  housekeeping  care, 
But  buys  several  fans  to  play  witli  the  wanton  air, 

And  seventeen  or  eighteen  dressings  of  other  women’s  hair. 

Gray  schrieb  ein  berühmtes  Gedicht  über  den 
Fächer.  Viele  Fächer  waren  beschrieben  oder  bemalt. 
Als  John  Gay’s  satirisch-lascive  ,,Beggar’s  Opera“  er¬ 
schienen  war,  gebrauchten  die  vornehmen  Damen  Fächer, 
auf  denen  Arien  daraus  gedruckt  waren  ^).  Ein  sehr 
sonderbarer  Fächer  „enthielt  die  Geschichte  von  England 
in  einer  Nuss.  Er  war  in  Compartiments  abgeteilt,  und 
stellte  in  kleinen  Bilderchen  die  vornehmsten  Begeben¬ 
heiten  der  letzten  tausend  Jahre  vor.  Der  Erfinder 
versicherte  dabei,  dass  dieser  Fächer  das  Studium  der 
Geschichte  sehr  erleichtern  würde.  Ein  anderer  Fächer 
zeigte  die  Bildnisse  des  Prinzen  und  der  Prinzessin  von 
Wales,  umgeben  mit  40  auffallenden  Karrikaturen,  Cha¬ 
raden  u.  s.  w.“^).  Schlimmer  waren  aber  die  obscönen 
Bilder,  welche  die  Fächer  vieler  Damen  verunzierten,  deren 
schamlose  Natur  eine  Lady  vor  die  schwere  Wahl  stellte 
—  wie  ein  Correspondent  an  eins  der  Modejournale 
schrieb  —  ob  sie  vor  oder  hinter  dem  Fächer  erröten 
sollte.^) 

Seit  dem  14.  Jahrhundert  war  das  Keiten  und 
Fahren  unter  der  englischen  Damenwelt  Brauch  und 
ist  bis  heute  ein  integrirender  Bestandteil  fashionablen 
weiblichen  Lebens  geblieben.  Archenholtz  bemerkt: 
„Die  englischen  Frauenzimmer  haben  auch  manches  Eigen- 

1)  J.  G.  Th.  Grässe  „Handbuch  der  allgemeinen  Litte- 
raturgeschichte“  Leipzig  1850  Bd.  III  S.  400. 

Archenholtz  „Annalen“  Bd.  XVI  S.  181. 

Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  92.  —  Vergleiche  auch  das 
Prachtwerk  der  Lady  Schreiber  „Fans  and  Fanleaves“  Lon¬ 
don  1890.  —  Sehr  satirisch  hat  Addison  im  64.  Stück  des 
„Spectator“  die  Rolle  des  Fächers  in  der  Liebe  beleuchtet. 


241 


tümliche  in  ihren  Sitten.  Hierunter  gehört  das  Keiten. 
Tausende  maclien  sich  täglich  dieses  Vergnügen  hei  gutem 
Wetter,  in  Amazonenkleidern  und  in  die  Quere  sitzend. 
Dieser  Gebrauch  wurde  von  der  Königin  Anna,  Gemahlin 
Kichards  11.  eingeführt  und  ist  seitdem  Landessitte 
geworden“.^)  Schütz  beschreibt  es  am  Ende  des  18. 
Jahrhunderts  als  einen  auffälligen  Anblick,  einen  „eng¬ 
lischen  Wagen  mit  zwei  Frauenzimmern  zu  sehen,  wo 
eine  die  Peitsche  in  der  Hand  hält  und  die  andere  die 
mutigen  Engländer  mit  Anstand  zu  dirigiren  versteht.“ 

In  neuerer  Zeit  bot  diese  Sitte  der  Chronique  scandaleuse 
ein  sehr  reiches  Material,  indem  sehr  häufig  intime  Be¬ 
ziehungen  zwischen  den  Reiterinnen  und  ihrem  Groom 
die  Folge  des  täglichen  „Rotten-Row“  sind,  welche  nicht 
selten  mit  einer  Entführung  endigen.  R  e  m  o  fand  in  den 
Tageszeitungen  einiger  Monate  nicht  weniger  als  17  der¬ 
artige  Fälle  verzeichnet^). 


Das  18.  Jahrhundert  und  die  ersten  Jahrzehnte  des 
19.  Jahrhunderts  waren  die  goldene  Zeit  des  männ¬ 
lichen  Stutzertums  in  England.  Dieses  Land  ist 
das  eigentliche  Geburtsland  des  echten,  unverfälschten 
Dandytums.  Hier,  wo  das  Exzentrische,  das  Indi¬ 
viduelle  mehr  hervortritt  als  anderswo,  wo  dabei  aber 
auf  den  äusseren  Schein  ein  unendlich  grosser  Wert 
gelegt  wird,  ist  der  geeignetste  Boden  für  die  Entwickelung 

9  Archenholtz  „England“  Bd.  III  S.  73. 

2)  Schütz  a.  a.  0.  S.  90 — 91. 

Remo  a.  a.  0.  S.  76. 


16 


242 


jener  merkwürdigen  Spezies  von  Männern,  die  ihr  ganzes 
Wesen  gewissermassen  in  ihre  Kleidung  verlegen. 
„Paraitre,  c’est  etre  pour  les  Dandys,  comme  pour  les 
femmes“,  sagt  Barhey  d’  Aurevilly  von  dem  englischen 
Stutzer.')  Aber  es  muss  hervorgehoben  werden,  dass 
dieser  äussere  Schein  nicht  das  blosse  lächerliche  Kleider¬ 
gepränge  eines  gewöhnlichen  Durchschnittsgecken  war, 
sondern  der  echte  englische  Dandy,  wie  ei  besonders  im 
Anfänge  des  19.  Jahrhunderts  hervortrat,  suchte  sein 
Äusseres,  seine  Kleidung  möglichst  individuell  zu 
gestalten  und  sich  in  einen  möglichst  anffälligen  Kontrast 
zu  dem  rein  Konventionellen  der  Mode  zu  setzen  und 
gerade  hierdurch  die  Bewunderung  der  Menge  zu  erregen. 
Thus  Beaux,  in  person  and  in  mind 
Excelled  by  tliose  tliey  leave  hehind, 

On,  througli  the  world  undaunted,  press, 

Backed  by  the  Mighty  Power  of  Dress; 

Wliile  folks  less  confident  than  tliey, 

Stare,  in  mucb  wonder,  —  and  give  way.^) 

Nirgends  giebt  es  auch  so  zahlreiche  Bezeichnungen 
und  termini  technici  für  den  Stutzer  wie  in  England. 
Ich  nenne  nur  die  bekanntesten:  Beau,  Buck,  Maccaroni, 
Jessamy,  Pretty  fellow,  Blood,  Exquisite,  Tulip,  Fop, 
Swell,  Spark,  Dandy. 

Die  ältesten  Stutzer  waren  die  „Beaux“,  die  bereits 
unter  Karl  IL  und  der  Königin  Anna  ihre  Triumphe 
feierten.^)  Zu  ihnen  gehörten  u.  A.  Sir  George  Hevett 

1)  J.  Barbey  d’Aureyilly  „Du  Dandysme  et  de  G. 
Brummeil“  Paris  1862  S.  124. 

2)  Pierce  Egan  „Life  in  London“  ed.  Camden 
Hotten,  New  Edition,  London  1900  S.  176 — 177. 

3)  Vergleiche  den  Artikel  „Beaux“  in  Misson  de  Val- 
bourg’s  „Memoires  et  obseiwations  faites  par  un  yoyageur 
en  Angleterre“  Haag  1698  S.  28 — 29. 


243 


Wilson,  der  seliöne  Fiel  ding  (f  1712),  der  Colonel 
Edgeworth,  der  Dichter  Steele  nnd  als  letzter  der 
berühmte  Nash,  der  sich  einen  Beau  von  drei  Genera¬ 
tionen  nannte,  da  er  unter  Carl  II.  geboren  war  und 
unter  Georg  IIT.  starb,  um  dann  noch,  wie  der  Dichter 
Austey  in  seinem  „New  Bath  Guide“  meint,  in  der 
Unterwelt  als  Stutzer  das  Gefolge  der  Proserpina  zu  ent¬ 
zücken.^)  Dieser  ältesten  Stutzergeneration  hat  Addison 
in  der  bekannten  Analyse  eines  Stutzergehirns  im  „Spec- 
tator“  ein  satirisches  Denkmal  gesetzt.^) 

Seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  kamen  die 
„M accar  onis “  oder  Jessamie s“^)  auf.  Den  ersteren 
Namen  führten  sie  nach  ihrer  Vorliebe  für  die  italienische 
Speise,  die  sie  bei  Almack’s  genosssen.  Sie  gründeten 
einen  Klub,  der  wie  Horace  Walpole  an  Lord  Hert- 
ford  in  einem  Brief  vom  6.  Februar  1764  schreibt  „aus 
all  den  vielgereisten  jungen  Männern  besteht,  die  lange 
Locken  und  Lorgnetten  tragen.“^)  Im  Jahre  1772 
stolzirten  sie  in  einer  sehr  engen  buntkarrirten  Jacke, 
Weste  und  Hosen  umher,  mit  einem  ungeheuer  grossen 
Knoten  künstlichen  Haars  hinten  am  Kopfe,  einem  lächer¬ 
lich  kleinen  Miniaturhütchen  auf  demselben,  mit  roten 
Absätzen  an  den  Schuhen,  in  der  Hand  einen  ungeheuren 
Spazierstock  mit  langen  Troddeln  haltend.^) 

Überhaupt  unterlag  die  Männ erkleidung  im  18. 
Jahrhundert  demselben  häufigen  Wechsel  wie  die  weibliche 

1)  B  arb  ey  d’A  ur  e  yü ly  a.  a.  0.  S.  45 — 47 ;  G e  or  giana 
Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  111. 

2)  Vergl.  Taine  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  307. 

3)  Traill  a.  a.0.  Bd.'Y  S.  355. 

Henry  B.  Wheatley  „London  Fast  and  Present“ 
London  1891  Bd.  II  S.  453. 

■  :  Baker  „Strcots  of  London"  S.  324;  Leigh  Hunt 

„The  old  Court  Suburb‘‘  3d.  edition.  London  o.  J.  S.  292. 

16* 


244 


Toilette.  Jedes  Jahr  brachte  eine  andere,  oft  von  der 
vorjährigen  grundverschiedene  Mode.  Die  „Toiletten“  der 
Männer  wurden  ebenso  sehr  beachtet  und  durchgehechelt 
wie  diejenigen  der  Frauen.  „Wie?  er  redete  Sie  in  einem 
solchen  unscheinbaren  Rocke  an  ?  Was  für  ein  schäbiger 
Kerl!“  sagt  Evelina’s  Tanzpartner  in  Miss  Burney’s 
„Evelina“  zu  seiner  Tänzerin,  als  sie  einen  andern  Herrn 
abschlägig  beschieden  hat.  Der  Verfasser  eines  sehr 
seltenen  Werltes  „Thoughts  on  Gallantry,  Love  and 
Marriage“  sagt  von  der  verweichlichten  Männergeneration 
um  1750:  ,,Da  ist  noch  ein  anderer  Typus  von  Männern,, 
der  ebenso  aus  der  Gesellschaft  jedes  feinfühligen  Weibes- 
verbannt  sein  sollte.  Das  sind  die  „Fops“  und  „Fribbles“^ 
die  „Petits  Maitres“  unserer  Zeit.  Diese  hübschen  Jungen 
(pretty  fellows),  welche  ganz  als  Puder,  Essenz  und 
Parfüm  umherlaufen.  Was  für  ein  Glück,  frage  ich,, 
kann  ein  gebildetes  Weib  vernünftiger  Weise  von  dem 
intimen  Umgänge  mit  einem  Mann  von  dieser  verächt¬ 
lichen  Art  erwarten?  Seine  eigene  theure  Person  ist  der 
einzige  Gegenstand  seiner  Sorge  und  Pflege;  jeder  seiner 
Wünsche  gipfelt  in  ihr,  und  kein  Gedanke  verirrt  sich 
jemals  ausserhalb  des  eigenen  Ich.  Hier,  Ihr  Damen,, 
habt  Ihr  ein  Objekt  für  Euren  Witz  und  Eure  Spässe;. 
hier  einen  Angriffspunkt  für  Eure  Satire.  Ein  „Fop“  ist 
ein  Mann  in  der  Maske  und  verdient  als  solcher  Eure 
grösste  Verachtung.  Aber  ach!  wie  weit  von  Verachtung^ 
entfernt  ist  Eure  gewöhnliche  Behandlung  dieser  vergol¬ 
deten  Spielzeuge,  dieser  glitzernden  Nichtse?  Anstatt 
diese  „Dinge  von  Seide“  zu  verachten,  dient  Ihr  nur  zu 
häufig  ihrer  Eitelkeit,  durch  kritikloses  Lob  und  Be¬ 
wunderung.“ 

1)  „Thoughts  on  Gallantry,  Löve  and  Marriage“  London 
1754  S.  24—25. 


245 


Dieser  übertriebene  Kleiderluxus  musste  mit  Not¬ 
wendigkeit  zu  einer  Verweichlichung  und  Effemi¬ 
nation  der  Männer  führen  und  den  Typus  der  ,,pretty 
fellows“  und  der  „Exquisites“  erzeugen,  welche  von  den 
in-  und  ausländischen  Autoren  des  18.  Jahrhunderts  so 
sehr  gegeisselt  und  verspottet  werden.  Archenholtz^) 
bemerkt:  ,,Die  Männer  sind  jetzt  mehr  als  in  irgend 
einem  Zeiträume  den  Weibern  ähnlich.  Sie  tragen  ihre 
Haare  lang  gekräuselt,  mit  Mehl  bestreut,  und  von 
Wohlgerüchen  duftend;  sie  verdicken  und  verlängern  sie 
durch  geborgte  Locken;  sie  legen  die  zu  den  Schuhen 
und  Kniegürteln  gehörigen  Schnallen  als  unbequem  bei 
Seite,  und  bedienen  sich  an  derer  Statt  seidener  Bänder; 
auch  die  Degen  werden,  wo  es  nur  mit  Anstand  geschehen 
kann,  der  Bequemlichkeit  halber  nicht  angelegt;  ihre 
Hände  bekleiden  sie  mit  Handschuhen;  ihre  Zähne  werden 
nicht  bloss  geputzt,  sondern  weiss  gemacht,  und  ihre 
Gesichter  gemalt.  Die  Männer  entwöhnen  ihre  Füsse 
vom  Gehen  und  Fahren,  wo  sie  nur  können,  sehnen  sich 
nach  weichlichen  Speisen,  nach  bequemen  Polstern  und 
sanften  Lagerstätten.  Um  auch  den  Weibern  an  Putz 
nicht  nachzugeben,  so  müssen  feine  Leinewand  und  Spitzen 
zum  täglichen  Gebrauch  dienen;  sie  umgürten  sich  mit 
Uhren,  bedecken  die  Finger  mit  Kingen  und  füllen  ihre 
Taschen  mit  Tändeleien.“  Nach  Hüttner  unterschied 
sich  der  Mann  oft  nur  durch  die  Beinkleider  von  einem 
Weibe.  Diese  mit  einer  weibischen  Ängstlichkeit  behaf¬ 
teten  Stutzer  suchten  auf  alle  möglichen  Weisen  ihre 
„körperlichen  Beize“  ins  rechte  Licht  zu  setzen,  was  auf 
Bällen  und  Maskeraden,  in  Opern  und  Concerten  oft 


1)  Archen  holtz  a.  a.  0. 


246 


auf  die  abstossendste  Weise  geschah. i)  Kein  Wunder, 
dass  diese  effeminirten  „Exquisites“  auch  an  allen 
Schmerzen  und  Leiden,  die  sonst  Weibern  eigentümlich 
sind,  laborirten.  So  bekam  einmal  in  Bond  Street  ein 
solches  feines  Herrchen  einen  richtigen  Ohnmachtsanfall 
und  wurde  in  einen  Laden  gebracht.  Hier  stellte  sich 
heraus,  dass  der  junge  Mann  —  zu  eng  geschnürt  war!^) 

Sogar  die  fleischfarbenen  Tricots  gewisser 
Ballettänzerinnen  wurden  von  den  Männern  adoptirt. 
Schütz^)  berichtet:  „Manche  suchen  durch  die  lächer¬ 
lichsten  Karrikaturen  Aufsehen  zu  erregen.  So  sah  ich 
zum  Beispiel  einige  Engländer  mit  fleischfarbenen  Unter¬ 
kleidern  und  ebensolchen  Strümpfen  im  St.  James  Park 
auf-  und  niedergehen.  Der  Anzug  war  mit  Vorsatz  so 
knapp  gemacht,  um  desto  täuschender  die  natürliche 
Farbe  des  Körpers  vorzustellen.  Der  Zweck  wurde  auch 
erreicht,  denn  von  Ferne  glaubte  ich  in  der  That,  es 
wären  Bedlams  Bürger  aus  ihren  Gemächern  entsprungen, 
hätten  unr  Schuhe  und  Kleider  angelegt  und  den  übrigen 
Körper  unbedeckt  gelassen.  .  .  .  Das  hätte  ich  nie  ge¬ 
glaubt,  dass  es  unter  den  ernsthaften  Engländern  so  viele 
Stutzer  gäbe.  Sie  können  daher  leicht  denken,  wie  gross 
meine  Verwunderung  war,  Männer  zu  sehen,  die  statt  der 
Stöcke  kleine  dicke  Knüppel  in  der  Hand  hielten,  die, 
weil  sie  gerade  nicht  länger  als  eine  halbe  Elle  waren, 
zum  Gehen  gar  nicht  konnten  gebraucht  werden.  Von 
den  meisten  wurden  diese  Stöcke  ebenso  wie  die  Fächer 
von  den  Damen  in  der  Hand  gehalten.“ 

1)  Hüttner  a.  a.  0.  S.  78  u.  S.  82. 

John  Bee  „Sportsman’s  Slang  etc.“  London  1825 

S.  22. 

Schütz  a.  a.  0.  S.  86 — 87.  . 


247 


Andere  Stutzer  liefen  mit  einer  hohen  Coiffure  ganz 
nach  weiblicher  Art  herum,  trugen  einen  mächtigen  Blu- 
menstrauss  auf  der  Brust,  hatten  in  dem  geschmückten 
Antlitze  Schönheitspflaster,  bemalte  Augenbrauen,  grinsten 
wie  Affen,  sprachen  einen  affectirten  französisch-italienisch- 
englischen  Jargon  und  steckten  im  Winter  ihre  Hände 
in  grosse  Muffe.  Letzere  wurden  um  die  Mitte  des  18. 
Jahrhunders  von  den  Männern  ebenso  häufig  benutzt  wie 
zur  Zeit  der  Restauration.  „Ich  sende  Ihnen  einen  hüb¬ 
schen  kleinen  Muff,  den  Sie  in  die  Tasche  stecken 
können,“  schrieb  Walpole  Weihnachten  1764  an  George 
M  ontagu.^) 

Das  Frisieren  der  Männerköpfe  war  im  18.  Jahr¬ 
hundert  eine  sehr  umständliche  Angelegenheit.  Im  Fri¬ 
seurladen  beschäftigten  sich  oft  vier  Personen  mit  einem 
Kopfe.  „Einer  machte  den  Zopf,  und  von  den  andern 
drei  Personen  hatte  jeder  eine  Seite  des  Kopfes  zu  seiner 
Disposition  übernommen,  unterdessen  ein  Fünfter  die 
heissen  Eisen  ab-  und  zulangte. “^)  Burke  belegte  die 
gepuderten  Stutzerköpfe  mit  dem  geschmackvollen  Namen 
„Guineapigs“  d.  h.  Meerschweinchen. 

Sehr  verbreitet  unter  der  fashionablen  englischen 
Männerwelt  jener  Zeit  war  das  Tragen  von  Brillen  und 
Augengläsern,  welches  entschieden  damals  bei  weitem 
häufiger  beobachtet  wurde  als  heutzutage,  daher  wohl 
nicht  allein  auf  ein  wirkliches  physisches  Bedürfnis  zu-  . 
rückgeführt  werden  darf.  Moriz  fielen  die  vielen  rei¬ 
tenden  Leute  mit  Brillen  auf,  unter  ihnen  zahlreiche 
jugendliche  Personen.^)  Schütz^.)  bemerkt:  „Ausserin 

h  11-  B.  Baker  „Stories  of  the  Streets  of  London“  S.  324. 

2)  Schütz  a.  a.  0.  S.  211. 

3)  „Moriz’  Reisen“  S.  8. 

h  ibidem  S.  79. 


248 


Spanien  wird  das  Brillentragen  in  keinem  Lande  so  häufig 
gefunden  als  eben  in  England.  Man  sieht  junge  Leute 
mit  Brillen  auf  der  Londoner  Börse  sowohl  als  in  der 
Komödie,  in  Tavernen  und  Kaffeehäusern.  Viele  essen 
und  trinken  mit  Brillen  auf  der  Nase,  und  noch  auf¬ 
fallender  ist  es,  wenn  junge  Leute  sich  der  Brillen  sogar 
beim  Beiten  und  Fahren  zu  bedienen  pflegen.  Der 
Engländer  natürlicher  Hang  zum  Sonderbaren,  den  sie 
bei  jeder  Gelegenheit  zeigen,  mag  auch  wohl  vieles  zum 
Brillentragen  mit  beitragen.  Doch  ist  es  gewiss,  dass 
Viele  ihres  blöden  Gesichts  wegen  genötigt  sind,  sich 
dieser  Instrumente  zu  bedienen;  ob  solches  aber  von 
•  starkem  Gebrauch  des  Kaminfeuers  herrühre,  oder  wohl 
gar  von  zu  starkem  Opferfeuer,  welches  man 
in  Cytherens  Tempel  angezündet,  das  wäre  eine 
^  Untersuchung,  die  wir  den  englischen  Physikern  über- 
sy  ..  lassen  wollen.“  Besonders  eitle  Gecken  liesen  die  Brillen 
in  Gold  einfassen,  ja  sogar  mit  Brillanten  besetzen.^) 

Von  den  einzelnen  Berufsklassen  stellten  besonders 
die  Theologen  und  Ärzte  ein  grosses  Contingent  zu  den 
Stutzern  und  galanthommes.  „Die  ungeheure  Allonge- 
perrücke,  der  Stock  mit  einem  grossen  unförmlichen 
goldenen  Knopf,  das  Sammetkleid  und  die  feierliche 
Miene  der  Ärzte,  sind  nicht  mehr  zu  sehen ;  denn  die 
neueren  Aesculape  erschienen  in  der  Modefrisur,  nach  dem 
neuesten  Geschmack  gekleidet  und  mit  Spazierstöckchen 
versehen,  dabei  bemühen  sie  sich  auch,  durch  ihre  ga¬ 
lanten  Manieren  zu  gefallen.  Die  Theologen  trugen  einen 
Berg  Haare  auf  dem  Kopfe,  hatten  schwarze  Talare,  ernste 
Blicke  und  überhaupt  ein  ehrwürdiges  Ansehen;  jetzt 


L  Archenholtz  „Annalen“  Bd.  I,  S.  414. 


249 


eine  doppelte  Reibe  zierlich  gebrannter  Locken,  reichlich 
mit  Pomade  gekittet,  und  mit  Puder  ausstatfiert,  lederne 
Hosen,  Stiefeln,  Busenspitzen,  sehr  feine  Schnupftücher  und 
diamantene  Ringe.“ 

Den  künstlichen  Busen  und  Bäuchen  des  schönen 
Geschlechtes  entsprechen  bei  den  Männern  die  künstlichen 
Waden. Auch  auf  die  Fussbekleidung  wurde  ganz  be¬ 
sondere  Sorgfalt  verwendet.  Der  Beruf  der  Schuhputzer 
erfreute  sich  eines  lebhaften  Zuspruches.  Denn  manche 
Stutzer  Hessen  ihre  Schuhe  am  Tage  wohl  mehr  als  zehn 
Mal  putzen.^) 

Der  sehr  ausgeprägte  Reinlichkeitssinn  der  Engländer 
veranlasste  einen  täglichen  Wechsel  der  Wäsche,  nur  die 
unteren  Stände  wechselten  dieselbe  wöchentlich.^)  Aber 
freilich  existierte  in  diesem  Lande  der  Excentricitäten  auch 
ein  „Club  der  scbmutzigen  Hemden“,  der  entschieden 
gegen  jedes  Reinlichkeitsbedürfnis  Front  macht.  Er  hatte 
in  der  Strasse  Low  Holborn  unter  der  Erde  sein  Local. 
Auf  den  Einladungskarten  an  die  Mitglieder  stand  als 
Postscriptum :  Besuchende  Fremde  ohne  Hemden  werden 
nicht  zugelassen. 

Unter  der  Aegide  des  Prinzen  von  Wales,  des 
späteren  Königs  Georg  IV,  entwickelte  sich  das  englische 
Stutzertum  am  Anfänge  des  19.  Jahrhunderts  zu  dem 
eigentlichen  Dandytum,^)  in  welchem  dieser  Fürst 

1)  ibidem  Bd.  I,  S.  420 — 421. 

„Se'rails  de  Londres“  S.  175. 

Schütz  a.  a.  0.  S.  211. 

•*)  Archenholtz  „England“  ßd.  III.  S.  141. 

Archenholtz  ,. Annalen“  Bd.  I.  S.  437. 

Das^Fort  .,Dandy“  ist  nach  Bee  („Sportsniann’s  Slang“ 
London  1825  S.  63)  erst  im  Jahre  1816,  in  dem  bereits  Bru- 
mmell’s  Rolle  als  bewundertes  Vorbild  aller  Stutzer  aus¬ 
gespielt  war,  aufgekommen;  die  Verkörperung  desselben  war 
aber  schon  lauge  vorher  da. 


250 


selbst  und  sein  Freund  George  Brummeil  die  erste 
Rolle  spielten. 

Das  Wesen  des  „ersten  Gentleman  von  Europa“,  wie 
Georg  IV.  (1762 — 1830)  sich  selbst  gerne  nannte,  war 
nach  Thackeray’s  treffenden  Worten  weiter  nichts  als 
ein  Rock,  eine  Perrücke,  ein  geziertes  Lächeln,  nichts  als 
äussere  Maske:  „Was  war  dieser  Georg  selbst,  was  war 
er?  Ich  durchdenke  sein  ganzes  Leben  und  sehe  nichts 
von  ihm  als  eine  affektierte  Kopfneigung,  ein  geziertes 
Lächeln.  Ich  will  es  versuchen  und  ihn  in  einzelne 
Stücke  zerlegen,  da  finde  ich  seidene  Strümpfe,  wattierte 
Polster,  eine  Schnürbrust,  einen  Rock  mit  Borten,  einen 
Pelzkragen,  einen  Ordensstern  und  ein  blaues  Band,  ein 
herrlich  duftendes  Taschentuch,  eine  nussbraune,  mit  Öl 
gesalbte  Perrücke,  eine  Reihe  Zähne,  einen  grossen 
schwarzen  Stock,  Westen,  ünterwesten,  noch  mehr  Westen 
und  weiter  nichts.“  Ö  Seinen  Eintritt  in  die  grosse  Welt 
bezeichnete  er  durch  die  herrliche  Erfindung  einer  neuen 
—  Schuhschnalle  von  einem  Zoll  Länge  und  fünf  Zoll 
Breite,  die  fast  den  ganzen  Fuss  bedeckte  und  an  jeder 
Seite  auf  die  Erde  reichte.  Auf  dem  ersten  Hof  ball  trug 
er  einen  Rock  von  leuchtend  roter  Seide  mit  weissen 
Handkrausen,  seine  weissseidene  Weste  war  mit  bunten 
Fäden  reich  gestickt  und  mit  einer  Menge  Zierrat  beklebt, 
sein  Hut  war  mit  zwei  Reihen  Stahlperlen  geschmückt, 
insgesamt  fünftausend.'  Derselbe  war  nach  einer  neuen 
militärischen  Mode  aufgekrämpt.^  Seit  1784  wurde  die 
Residenz  dieses  königlichen  Hohlkopfs,  Carlton  House,  der 
„Focus  der  Dandies“  der  vornehmen  Gesellschaft  Londons^). 

1)  Thackeray  „Die  vier  George“  S.  113 — 114. 

2)  ibidem  S.  119. 

Baker  „Streets  of  London“  S.  325. 


251 


Unter  ihnen  trat  im  Anfänge  des  19.  Jalirhunders  George- 
Br  ummell  dem  nachmaligen  Könige  ebenbürtig  an  die 
Seite  und  erwarb  sich  den  zweifelhaften  Euf  des  „Dandy“ 
par  excellence. 

Bekanntlich  hat  dieser  seltsame  Modeheld  in  dem 
geistvollen  französischen  Schriftsteller  Jules  Barbey 
d’Aurevilly,  der  selbst  ein  Dandy  war,  einen  leiden¬ 
schaftlichen  Bewunderer  und  begeisterten  Biographen 
gefunden,  dessen  Schrift  „Du  Dandysme  et  de  Georges 
Brummeil“  (Paris  1862)  eine  eigenartige  Apotheose  des 
Dandytums  darstellt. 

In  der  That  war  B rummell  (geboren  1778)  ein 
sehr  merkwürdiges  Spezimen  der  Gattung  Dandy,  wie 
aus  der  folgenden  kurzen  Betrachtung  seiner  Lebensweise 
und  seines  Lebenslaufes  hevorgeht. 

Das  Geheimnis  seines  „unvergesslichen  Kostüms“  lag 
nach  Georgiana  Hill  in  der  erstaunlichen  Sorgfalt, 
welche  er  auf  das  geringste  Detail  derselben  verwendete. 
Zwar  war  die  Toilette  eines  Gentleman  in  jenen  Tagen 
an  sich  schon  eine  langwierige  Sache,  aber  Br  ummell 
übertraf  alle  in  diesem  Punkte.  Denn  jeden  Morgen 
verbrachte  er  nicht  weniger  als  drei  volle  Stunden  bei 
der  Toilette.  Er  hatte  drei  Friseure  für  den  Vorder-, 
Hinter-  und  die  Seitenteile  des  Kopfes.  Der  „Clou“ 
seiner  Kleidung  war  die  Kravatte.  Die  Muster  dazu 
liess  er  sich  von  einem  Maler  zeichnen.  Wenn  die  erste 
Schleife  nicht  gut  gebunden  war,  wurde  die  Kravatte 
einfach  weggeworfen  und  eine  neue  genommen.  Er  trug 
täglich  drei  Kravatten,  die  letzte  wurde  nach  dem  Ver¬ 
lassen  der  Oper  oder  des  Theaters  umgebunden,  bevor  er 
zum  Abendessen  oder  zum  Kartenspiele  ging.  Ausserdem. 


252 


wechselte  er  dreimal  täglich  das  Hemd!  Natürlich  waren 
seine  Wäscherechnungen  ganz  kolossale.^) 

Brummeil  führte  den  Grundsatz  in  das  Dandytum 
ein,  dass  das  Vornehmste  zugleich  das  Einfachste  sei. 
Er  vermied  in  seiner  Toilette  alles  Auffällige,  Bunte, 
Schreiende,  alle  Extravaganzen  der  Gecken  des  18.  Jahr¬ 
hunderts.  Barbey  d’Aurevilly  sagt:  „Le  luxe  de 
Brummelt  etait  plus  intelligent  qu’eclatant;  il  etait  une 
preuve  de  plus  de  la  sürete  de  cet  esprit  qui  laissait 
Pecarlate  aux  sauvages,  et  qui  inventa  plus  tard  ce  grand 
axiome  de  toilette:  „Pour  etre  bien  mis,  il  ne  faut  pas 
etre  remarque!“^)  Daher  wurde  u.  a.  der  übermässige 
Gebrauch  von  Parfümen,  Pomaden  und  Ölen  streng  von 
ihm  verpönt.^) 

Nach  Brummeil  musste  der  echte  Dandy  Jilles 
Lächerliche  und  Übertriebene  in  seiner  Kleidung  und  in 
seinem  Auftreten  vermeiden,  dabei  aber  doch  durch  sein 
blosses  Äusseres  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich 
ziehen.  Dass  ihm  das  Letztere  in  so  hohem  Grade  ge¬ 
lang,  verdankte  er  einer  seltsamen  Mischung  von  höchster 
Intelligenz,  Ironie,  Impertinenz,  Indolenz  und  Grazie  in 
seinem  Wesen,  welche  alle  Welt  bezauberte.^) 

Von  1799  bis  1814  gab  es  kein  Fest,  keine  gesell¬ 
schaftliche  Versammlung  in  London,  bei  welcher  die 
Gegenwart  des  berühmten  Dandy  nicht  als  ein  Triumph, 
seine  Abwesenheit  nicht  als  eine  Blamage  betrachtet  worden 
wäre.  Sein  Name  wurde  in  den  Zeitungen  an  der  Spitze 
aller  Eingeladenen  abgedruckt.  Bei  den  Bällen  in  Almack’s, 

1)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  115-117. 

2)  Barbey  d’Aurevilly  a.  a.  0.  S.  80—81. 

3)  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  117. 

■*)  Barbey  d’Aurevilly  S.  87:  S.  98. 


253 


bei  den  Rennen  von  Ascott  spielte  er  die  Hauptrolle. 
Einmal  veranstaltete  er  selbst  ein  Hanover  Square  ein 
als  „Dandies’  Ball“  berühmt  gewordenes  Fest.  Er  war 
Vorsitzender  des  Watier- Clubs,  dessen  Mitglied  auch  Lord 
Byron  war.  Er  war  die  Seele  der  Gesellschaften  in 
Carlton  House  und  eine  Zeit  lang  der  Busenfreund  des 
Prinzen  von  Wales,  der  ihn  allein  als  ebenbürtigen  Neben¬ 
buhler  auf  dem  Gebiete  der  Toilette  anerkannte.  Sogar 
die  geistigen  Grössen  seiner  Zeit  verstand  er  zu  fesseln. 
Der  Dichter  Moore  hat  ihn  besungen,  Byron  ihn  Öfter 
anerkennend  erwähnt.  Barbey  d’Aurevilly  meint,  dass 
die  Persönlichkeit  Brummell’s  bei  der  Schöpfung  des 
„Don  Juan“  vorgeschwebt  habe,  da  diese  Dichtung  ganz 
den  „Ton  des  Dandy“  habe.  Das  Geheimnis  der  Wirkung 
B  r  u  m  m  e  1  l’s  beruht  zum  grössten  Teile  auf  dem  Umstande, 
dass  er  sich  nicht  gemein  machte  und  in  allen  Gesell¬ 
schaften  gewissermassen  nur  als  ein  leuchtendes  Meteor 
auftauchte,  indem  er  überall  nur  ganz  kurze  Zeit  ver¬ 
weilte.  Er  stellte  als  Princip  des  Dandysmus  den  Grund¬ 
satz  auf,  dass  man  so  lange  bleiben  müsse,  bis  man  eine 
sichtbare  Wirkung  erzielt  habe,  dann  aber  schleunigst 
fortgehen  müsse.  Für  ihn  war  der  Effekt  nur  eine  Frage 
der  Zeit. 

Die  Frauen  vergötterten  Brumm  eil.  Die  berühmte 
Courtisane  Henriette  Wilson  gedenkt  in  ihren  Memoiren 
seiner  mit  leidenschaftlichen  Worten.^) 

Das  Ende  dieses  berühmten  Dandy  war  ein  trauriges. 
Er  musste  im  Mai  1816  England  verlassen,  da  er  sich 

1)  Vergl.  darüber  den  „Daily  Telegraph“  vom  19.  Juli  1903. 

-)  Barbey  d’Aureyilly.  S.  104;  S.  107. 

3)  ibidem  S.  71. 

4)  ibidem  S.  73. 


254 


<durcli  das  Spiel  ruinirt  liatte  und  sein  ehemaliger  Freund, 
der  Prinzregent  (Georg  IV.)  ihm  jede  Unterstützung  ver¬ 
sagte.  In  Calais  wurde  er  eine  Zeit  lang  von  Freunden 
unterhalten.  Sein  Ansehen  als  Modepapst  war  noch 
■unvermindert.  Viele  vornehme  Engländer  pilgerten  zu 
ihm,  um  sich  seinen  Rat  in  Kleidungsangelegenheiten  zu 
holen.  Aber  allmählich  hörten  die  Unterstützungen  auf, 
und  dann  gerieth  auch  er  immer  mehr  in  Vergessenheit. 
König  Wilhelm  IV.  ernannte  ihn  1830  zum  Consul  in 
Uaen,  welche  Stellung  ihm  später  wieder  genommen  wurde. 
Zuletzt  stolzirte  er,  ein  completer  Narr,  als  eine  traurige 
Ruine  seiner  einstigen  Herrlichkeit,  immer  noch  auf  eine 
^gewisse  Eleganz  bedacht,  in  den  Strassen  von  Caeri  umher, 
wo  ihn  Barbey  d’Aurevilly  noch  persönlich  sah. 
Er  starb  in  den  dreissiger  Jahren.^) 

Fürst  Hermann  v.  Pückler-Muskau,  der  das 
■  englische  Dandythum  zur  Zeit  BrummelPs  persönlich 
kennen  gelernt  hatte,  entwirft  davon  in  den  „Briefen 
eines  Verstorbenen“  die  folgende  Schilderung: 

„In  der  Regel  braucht  ein  solcher  Elegant  wöchentlich 
'20  Hemden,  24  Schnupftücher,  9 — 10  Sommer  „Trowsers“, 
-30  Halstücher,  wenn  er  nicht  schwarze  trägt,  ein  Dutzend 
Westen  und  Strümpfe  ä  discretion.  Ich  sehe  deine  haus- 
Irauliche  Seele  von  hier  versteinert.  Da  aber  ein  Dandy 
ohne  drei  bis  vier  Toiletten  täglich  nicht  füglich  aus- 
kommen  kann,  so  ist  die  Sache  sehr  natürlich,  denn 

1)  erscheint  er  in  der  Frühstücks-Toilette  in  chine¬ 
sischem  Schlafrock  und  indischen  Pantoffeln. 

9  ibidem  S.  126;  S.  134;  S.  188;  S.  154. 

2)  Vergl.  auch  die  vortreffliche  Schilderung  B  r  u  m  m  e  1  l’s  in 
‘Calais  in  des  Fürsten  von  Pückler-Muskau  „Briefen  eines 
Werstorbenen.“  München  1830  Bd.  II.  S.  313—320. 


255 


2)  Morgentoilette  zum  Eeiten  im  Frock  coat,  Stiefeln 
und  Sporen. 

3)  Toilette  zum  Diner  in  Frack  und  Scliulien. 

4)  Balltoilette  in  Pnmps,  ein  Wort,  das  Schuhe,  so 
leicht  wie  Papier  bedeutet,  welche  täglich  frisch 
lackirt  werden.“^) 

Eine  Ergänzung  nach  der  psychologischen  Seite  erfährt 
diese  Schilderung  durch  Gronows  feine  Charakteristik  des 
Dandytums  unter  der  Ägide  Brumm  eil’ s.  Er  sagt, 
dass  die  Dandies  „weder  hochgeboren,  noch  reich,  noch 
schön,  noch  klug,  noch  angenehm  waren,  sondern  ge¬ 
wöhnliche  Männer  von  mittlerem  Alter,  mit  grossem 
Appetit  waren,  die  in  White’s  Bogenfenster  sassen,  ziemlich 
viel  fluchten,  niemals  lachten,  ihren  eigenen  Jargon  hatten, 
nach  Tische  etwas  düster  blickten  und  fast  alle  von  dem 
Prinzregenten  oder  Beau  Brumm  eil  patronisirt wurden.“^) 
Es  kann  aber  nicht  geleugnet  werden,  dass  gerade 
dieses  durchaus  originelle  Dandytum  in  England  die  Ver¬ 
mittelung  und  den  Übergang  zu  einer  allmählichen  Verein¬ 
fachung  der  männlichen  Kleidung  gebildet  hat.  Überhaupt 
hatte  die  englische  Mode  am  Anfänge  des  19.  Jahrhunderts 
sich  fast  gänzlich  von  dem  allbeherrschenden  Einflüsse 
der  französischen  emancipiert  und  eine  grosse  Selbst¬ 
ständigkeit  gewonnen.  Weiss  bemerkt  darüber:  „Das 
von  solchen  Verhältnissen  getragene,  nun  stetig  wachsende 
Gefühl  eigentlicher  Volkstümlichkeit,  fortdauernd  genährt 
durch  die  beständig  steigende  geistige  Entfaltung  auf 
allen  Gebieten  der  Wissenschaft,  steigerte  die  Abschwenk¬ 
ungen  von  den  französischen  Gebahren  in  immer  rascher 


9  „Briefe  eines  Verstorbenen.“  Stuttgart  1831.  Bd.  IV.  S.  49. 
2)  Traill  a.  a.  0.  Bd.VI  S.  98. 


256 


fortschreitendem  Umfange,  selbst  bis  zur  Abneigung  da¬ 
gegen.  Mit  der  Verselbstständigung  dieses  Gefühls  mehrte 
sich  gleicbmässig  das  Bedürfnis  nach  wiederum  eigen 
volkstümlicher  Weise.  So  denn  in  zunehmendem  Maasse 
geradezu  absichtlich  bestrebt,  die  leichtfertige  französische, 
bloss  äusserliche  Verfeinerung  durch  bewusste  Natürlich¬ 
keit  und  eine  damit  zusammenklingende  gediegene  Ein¬ 
fachheit  zu  ersetzen,  blieb  nun  dies  auch  keineswegs  frei 
von  mancherlei  Übertreibungen,  worin  einzelne  sich  dann 
wohl  gar  bis  zu  einem  niedrigen  Grade  von  Kenommisterei 
verloren.  Im  Ganzen  aber  trat  es  dem  französischen  Un¬ 
wesen  in  ebenso  entschiedener  als  imponierender  Form 
entgegen,  so  dass  es  in  Frankreich  zahlreiche  Nachäfter 
fand  und  damit  anch  den  französischen  Einfluss  überhaupt 
herabstimmte.“ 

So  ist  der  moderne  männliche  Gesellschaftsanzug, 
namentlich  der  Frack,*-^)  wesentlich  englischer  Herkunft, 
und  gegenwärtig  empfängt  die  europäische  Herrenmode 
mindestens  ebenso  häufig  von  London  ihre  Inspirationen, 
wie  von  Paris.  Namentlich  spielte  der  frühere  Prinz  von 
Wales,  jetzige  König  Eduard  VH.  eine  grosse  Rolle  in 
dieser  Beziehung.  Sombart  bemerkt:  „Das  Centrum 
für  die  Entstehung  der  Herrenmoden  ist  noch  immer  die 
Umgebung  des  Prinzen  von  Wales,  dessen  Herrschaft 
namentlich  für  Hutformen  und  Cravattenfarben  weit  über 
die  Grenzen  beider  Indien  hinausreicht.  “^) 

Die  weibliche  englische  Kleidung  des  19.  Jahrhun¬ 
derts  blieb  im  allgemeinen  in  etwas  grösserer  Abhängig- 

H.  Weiss  „Kostümkunde“  Bd.  II.  S.  1176. 

2)  Traill  a.  a.  0.  Bd.  VI.  S.  95. 

3)  W.  Sombart  „Wirtschaft  und  Mode“  Wiesbaden. 
1902.  S.  19. 


257 


keife  von  der  französischen.  Bornemann  geisseife  um 
1818  das  „ballonarfeig  prall  übergenähfee  Kleid,  dem  wohl 
noch,  um  nichfes  unbezeichnefe  zu  lassen,  inmifefeen  ein 
Tüllknopf  aufgepflanzfe  wird.“i)  Als  die  Kaiserin  Eugenie 
die  Krinoline  wieder  eingeführfe  hafefee,  war  England  das 
ersfee  Land,  welches  diese  barbarische  Mode  sogleich  be¬ 
gierig  aufnahm,  und  wenn  auch  seife  1880  die  „esfehefeic“ 
und  „dress  reform  movemenfes“  der  allzu  grossen  Neigung, 
die  französischen  Exferavaganzen  nachzuahmen,  energisch 
enfegegenarbeifeen,  so  konnfeen  sie  selbsfe  in  der  neuesfeen 
Zeife  den  Import;  der  unglaublichsfeen  Modeverirrungen 
nicht;  verhindern,  wie  dies  z.  B.  die  sogenannfeen  Busen¬ 
ringe  sind. 

In  der  englischen  Zeifeschriffe  „Sociefey“,  Jahrgang 
1899  finden  sich  sehr  merkwürdige  Einzelheifeen  über 
diese  raffinirfee  Mode,  welche  auch  in  einer  Auszüge  aus 
dieser  Zeifeschriffe  bringenden  deufeschen  Schrift  mitgeteilt 
werden.^)  Sie  besteht  im  wesentlichen  darin,  dass  die 
Brustwarzen  durchbohrt  und  durch  die  Löcher  goldene 
mit  Brillanten  besetzte  Einge  gezogen  werden.  Natürlich 
ist  der  Zweck  dieser  recht  augenfällig  an  die  Lippen- 
und  Nasenpflöcke  der  Wilden  erinnernden  Operation  ein 
rein  erotischer,  indem  durch  die  Anbringung  eines 
Schmuckes  an  einer  solchen  eigenartigen  Stelle  bei  der 
Dekolletirung  die  Aufmerksamkeit  auf  letztere  gelenkt 
werden  soll.  Der  Busenring  konkurrirt  also  in  dieser 
Beziehung  mit  der  Schnürbrust.  Freilich  entwickelt  eine 
Modistin  aus  der  Oxford  Street  in  einem  Briefe  an  den 
Herausgeber  der  „Society“  ganz  sonderbare  Anschauungen 

1)  Borne  mann  a.  a.  0.  S.  51. 

2)  E.  Neumann  „John  Bull  beim  Erziehen“  Neue  Folge, 
Bd.  II,  Dresden  1901  S.  15  fl.  S.  24  S.  29  ff.  S.  55  ff.  S.  84  ff. 

17 


258 


über  die  Ursachen  der  Mode  der  Busenringe.  Sie 
schreibt:  „Längere  Zeit  wollte  es  mir  nicht  einleuchten, 
warum  ich  mich  einer  doch  immerhin  schmerzhaften 
Operation  ohne  genügenden  Grund  unterziehen  solle. 
Bald  aber  kam  ich  auf  die  Ursache,  der  zu  Liebe  viele 
Damen  den  vorübergehenden  Schmerz  ertrugen;  ich  fand, 
dass  die  Büsten  der  Ringe  tragenden  Damen  ohne  Aus¬ 
nahme  runder  und  voller  entwickelt  waren,  als  diejenigen, 
denen  dieser  Schmuck  fehlte.  Nun  war  auch  mein 
Zögern  zu  Ende.  Obgleich  ich  von  Natur  nicht  gerade 
dürftig  ausgestattet  bin,  hatte  ich  mir  eine  recht  volle, 
üppige  Büste  bei  schlanker  Taille  stets  lebhaft  gewünscht, 
einmal  weil  sie  mir  an  sich  ausnehmend  gut  gefällt  und 
zweitens  weil  sie  gerade  meinem  Beruf  von  grossem  Vorteil 
ist.  —  So  liess  ich  mir  denn  bald  darauf  die  Brustwarzen 
durchbohren  und,  nachdem  die  Wundränder  verheilt  waren, 
Ringe  durchziehen.  Selbstverständlich  sind  es  keine  be¬ 
sonders  kostbaren  oder  gar  brillantengeschmückte,  aber 
ich  bin  auch  schon  mit  meinen  glatten,  goldenen  ganz 
zufrieden.  —  In  Bezug  auf  die  Empfindung  beim  Tragen 
derartiger  Ringe  kann  ich  nur  sagen,  dass  sie  nicht  im 
mindesten  unangenehm  oder  gar  schmerzhaft  ist.  Nein, 
das  leise  Reiben  und  Gleiten  der  Ringe  in  den  Öffnungen 
verursacht  mir  ein  äusserst  angenehmes,  kitzelndes  Ge¬ 
fühl,  und  alle  Kolleginnen,  mit  denen  ich  darüber  sprach, 
haben  meine  Wahrnehmungen  bestätigt. “Ö 

Die  Sitte  oder  besser  Unsitte  der  Busenringe  soll 
schon  bei  den  alten  Aegyptern  geherrscht  haben.  Ferner 
wird  sie  in  alten  italienischen  Romanzen  erwähnt.  So 
heisst  es  in  der  Romanze  „Donna  Clemencia  und  der 
Mönch“ : 


„John  Bull  beim  Erziehen“  N.  F.  Bd.  II.  S,  56. 


259 


Der  feiste  Priester  blickt  begehrlich  hin: 

Es  war  der  Glanz  der  wundervollen  Ringe, 

Der  ihm  ins  Auge  stach.  Wie  Rosenknöspchen 
So  hoben  sich  von  schneeig  weisser  Brust 
Die  goldgeschmückten  Busenwärzchen  ab. 

In  alten  spanischen  Werken  werden  die  Busenringe 
:als  Mittel  der  Tortur  erwähnt.  Man  durchbohrte  den 
•der  Ketzerei  verdächtigen  Mädchen  und  Frauen  die  Brust¬ 
warzen  oder  die  ganzen  Brüste  mit  glühenden  Nadeln 
^oder  Zangen  und  zog  durch  die  Löcher  eiserne  Ringe. 
Das  sexuelle  Element  dabei  erhellt  deutlich  aus  der  fol¬ 
genden  sadistischen  Schilderung:  „Die  jungen  Mädchen, 
vom  zarten  Kindesalter  bis  in  die  zwanziger  Jahre,  wurden 
•an  den  Ringen  zum  Schandpfahl  geschleppt  und  dort  so 
nackt  wie  Neugeborene,  mit  Ruten  gepeitscht.“  Ähnliche 
•'Greuel  sollen  türkische  Soldaten  an  armenischen  Mädchen 
verübt  haben. 

Die  Mode  der  Busenringe  ist  auch  bei  den  Weibern 
von  Tunis  und  im  griechischen  Archipel  verbreitet,  ln 
-Abessynien  sollen  die  Frauen  auf  eine  noch  seltsamere  Art 
ihre  Brüste  vergrössern.  Sie  lassen  nämlich  dieselben 
von  Bienen  stechen,  bis  sie  zum  drei-  oder  vierfachen 
Tolumen  ihres  sonstigen  Umfanges  angeschwollen  sind.^) 

1898  soll  ein  Juwelier  in  der  Bond  Street  die  Brust¬ 
warzenoperation  an  40  englischen  Damen  und  jungen 
Mädchen  vorgenommen  haben  auch  die  Modistin  aus 
«der  Oxford  Street  bestätigt  die  Ausbreitung  dieser  Unsitte 
unter  der  Londoner  fashionablen  Frauenwelt.^) 


1)  ibidem  S.  16,  30,  85—87. 

2)  ibidem  S.  25. 
ibidem  S.  55. 

17* 


260 


Manche  Damen  sollen  sogar  statt  der  Kinge  schmale- 
von  Brust  zu  Brust  reichende  Kettchen  auf  ihrem  Busen 
befestigen.  So  trägt  eine  berühmte  Schauspielerin  des- 
Gaiety-Theaters  eine  Perlenschnur  mit  einer  Schleife  an. 
jedem  Ende.’) 


1)  ibidem  S.  16  und  S.  25. 


Fünftes  Kapitel. 

Aphrodisiaca,  Kosmetica,  Abortiv-  und 

Geheimmittel. 

Einen  integrierenden  Bestandteil  der  Geschichte  des 
Tnenschlichen  Geschlechtslebens  bildet  die  Betrachtung  der 
inneren  und  äusseren  „Sexualmittel“  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes  d.  h.  der  natürlichen  und  künstlichen,  der 
alimentären  und  medicamentösen  Mittel  zur  Steigerung 
•des  eigenen,  zur  Anreizung  des  fremden  Ge¬ 
schlechtstriebes,  zur  Beseitigung  und  Verhüt¬ 
ung  gewisser  Folgen  des  legitimen  und  ille¬ 
gitimen  Geschlechtsverkehrs. 

Steigerung  und  Anreizung  der  Libido  sexualis  werden 
im  wesentlichen  auf  alimentärem  Wege  durch  alkohol- 
.istische  und  gastronomische  Excesse,  auf  medi¬ 
kamentösem  Wege  durch  die  sogenannten  Aphrodisiaca 
und  Kosmetica  hervorgerufen. 

Unter  den  unerwünschten  Folgen  des  Geschlechtsver¬ 
kehrs,  gegen  welche  besondere  Mittel  angewendet  werden, 
nehmen  Schwangerschaft,  venerische  Krank¬ 
heiten  und  Impotenz  die  erste  Stelle  ein.  Gegen  sie 
hat  man  von  jeher  ein  grosses  Heer  von  Präventiv-, 
Abortiv-  und  sexuellen  Geheimmitteln  aufmar¬ 
schieren  lassen,  welches  Heer  von  einer  besonders  berüch¬ 
tigten  Verbrecherklasse  befehligt  und  zu  oftmals  verhäng- 


262 


nisvollen  Angriffen  auf  menschliclie  Gesundheit  und) 
menschliches  Leben  geführt  wird:  den  Kurpfuschern^ 

Dieser  natürliche  Zusammenhang  ergiebt  sich  auch, 
aus  der  Betrachtung  der  Geschichte  der  Sexualmittel  iu 
England. 

Ohne  Zweifel  ist  der  Umstand,  wie  ein  Volk  isst  und' 
trinkt,  von  sehr  grossem  Einflüsse  auf  das  Geschlechts¬ 
leben  desselben.  Die  Art  und  Wahl  der  Speisen  und 
Getränke  ist  in  dieser  Beziehung  durchaus  nicht  gleich¬ 
gültig.  Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  ein  über¬ 
mässiger  Consum  bezw.  die  Praevalenz  von  Alkohol  und 
Fleischspeisen  in  der  Nahrung  als  ein  sexuelles  StimulanS' 
wirkt,  während  eine  vorwiegend  vegetabilische  Ernährung 
—  wobei  gewisse  aphrodisisch  wirkende  Vegetabilien  aus¬ 
genommen  sind  —  eine  für  die  Vita  sexualis  blande  Diät 
darstellt. 

Natürlich  wirkt  dieUnmässigkeit  in  dem  Genüsse- 
der  ersteren  Gruppe  von  Nahrungs-  und  Genussmitteln 
erst  recht  verderblich  auf  den  Geschlechtstrieb  ein.  Die- 
Parallele  zwischen  Wein  und  Wollust  hat  schon  Chaucer 
an  einer  Stelle  der  „Canterbury  Tales‘‘  gezogen.  „Die¬ 
Unmässigkeit  ist  die  Mutter  aller  Laster“  lässt  der 
Marquis  de  Sade  einen  seiner  Helden  sagen.  An  eben¬ 
derselben  Stelle  (Justine  III,  232 — 233)  wird  die  der 
Venus  günstige  Stimmung  nach  einer  üppigen  Mahlzeit 
folgendermassen  geschildert  und  verherrlicht:  „Et  quelles- 
nouvelles  forces,  en  effet,  n’acquerons-nous  pas  pour  les- 
scenes  lubriques,  lorsque  nous  y  passons  an  sortie  d’une- 
Orgie  de  table!  combien  alors  nos  esprits  vitaux  se- 
trouvent  exaltes!  II  semble  qu’^une  nouvelle  chaleur  circule- 
dans  nos  veines;  les  objets  lubriques  s’y  peignent  avec 
plus  d’energie ;  le  desir  qu’on  a  d’eux  devient  d^une  tell& 


263 


force  qu’il  n’est  plus  possible  d’y  resister  ...  0  volup- 
tueuse  intemperance !  je  te  regarde  comme  la  regenera- 
trice  des  plaisirs;  ce  n’est  qu’avec  toi  qu’on  les  goüte 
bien;  ce  n’est  que  par  toi  qu’ils  n’ont  plus  d’epines;  toi 
seule  en  aplanis  la  route;  toi  seule  en  ecartes  l’imbecile 
remords;  toi  sais  delicieusement  troubler  cette  raison,  si 
froide  et  si  monotone,  dont  toutes  nos  passions  sont 
empoisonnees  sans  toi.“ 

Berücksichtigt  man  diese  Verhältnisse,  dann  wird 
man  nicht  umhin  können,  der  Ernährungsweise  der 
Engländer  einen  bedeutenden  Einfluss  auf  ihr  geschlechts¬ 
ieben  zuzugestehen.  Denn  die  englische  Volksnahrung  ist 
seit  alter  Zeit  durch  den  ausserordentlich  grossen  Consum 
von  Fleisch  und  alkoholischen  Getränken  ausge¬ 
zeichnet,  wozu  sich  eine  weit  verbreitete  Unmässigkeit 
bei  Tische  gesellt.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dass  diese  drei  Momente  von  einem  gewissen  Einflüsse 
auf  die  Gestaltung  und  Äusserungsweise  der  Vita  sexualis 
der  Engländer  gewesen  sind  und  auch  die  Häufigkeit 
gewisser  auffälliger  Erscheinungen  derselben,  wie  z.  B. 
der  Flagellomanie  teilweise  erklären.^) 

Schon  das  bekannte  Volkslied  der  Engländer:  „Oh 
the  roastbeef  of  Old  England“  deutet  das  Alter  jener 
Vorliebe  für  Fleischgenuss  an.  Johann  Joachim 
Becher,  ein  Arzt  aus  dem  17.  Jahrhundert,  stellt  dies 
in  seiner  „Pschychosophia“  als  eine  allgemein  bekannte 
Thatsache  hin:  „Wie  ungesund  und  stinckend  die  Engel¬ 
länder  bey  ihrem  häuften  Fleischfressen  seyn,  ist  bekandt.“ 

q  Auch  Hüttner  a.  a.  0.  S.  170  spricht  von  dem  „ver¬ 
derblichen  Einflüsse  des  häufigen  Genusses  animalischer  Speisen 
auf  die  Säfte  und  die  daraus  folgende  Sittenverderbnis.“ 

2)  „Johann  Joachim  Bechers,  von  Speyer, 
Psychosophia  oder  Seelen-Weisheit“  2.  Auflage,  Frank 
furt  1G73  S.  200. 


264 


Ebenso  charakterisirt  ein  französischer  Schriftsteller  des 
17.  Jahrhunderts,  Boisguillebert  die  Engländer  als 
gewaltige  Biertrinker  und  Fleischesser  bis  in  die  untersten 
Klassen  hinab,  während  die  Franzosen  seiner  Zeit  fast 
nur  Brot  verzehrten.^)  Ein  anderer  Franzose  jener  Zeit, 
H.  Misson  de  Valbourg,  der  nach  jahrelangem  Auf¬ 
enthalte  in  England  eine  sehr  interessante  Beschreibung 
von  Land,  Volk  und  Sitte  veröffentlicht  hat,  die  1698  im 
Haag  erschien,^)  berichtet:  „Les  Anglois  mangent  beau- 
coup  ä  diner.  Ils  mangent  ä  reprises,  et  remplissent  le 
sac.  Leur  souper  est  leger.  Gloutons  ä  midi,  fort  sobres 
au  soir.  J’avais  toujours  ou'i  dire  qu’ils  etoient  carnas- 
siers;  et  j’ai  trouve  que  cela  est  vrai.  On  m’a  parle, 
de  plusieurs  personnes  en  Angleterre  qui  n’ontjamais 
mange  de  pain;  et  pour  Fordinaire,  ils  en  mangent 
tres  peu.  Ils  grignotent  de  temps  en  temps  quelque 
miette,  pendant  qu’ils  machent  la  chair  ä  grandes  bouchees.“ 

Englische  Autoren  bestätigen  die  Kichtigkeit  dieser 
Mitteilungen  fremder  Beobachter.  Traill  bemerkt,  dass 
die  ünmässigkeit  unter  Jakob  I.  so  gross  war,  dass 
Hofdamen  und  Höflinge  sich  häufig  sinnlos  betrunken  auf 
dem  Boden  wälzten^),  Macaulay  erwähnt  den  ungeheuren 
Bierkonsum  der  mittleren  und  unteren  Klassen  seit  dem 
15.  Jahrhundert,  dem  ein  ebenso  grosser  Wein  verbrauch 
der  oberen  entsprach.  Meist  lagen  nach  beendigter 
Mahlzeit  die  Männer  völlig  berauscht  unter  dem  Tische.^) 

LWillielm  Roscher  „System  der  Volkswirtschaft“ 
20.  Auflage,  Stuttgart  1892  Bd.  I  S.  628. 

2)  H.  Misson  de  Falb  ourg  „Memoires  et  observations 
faites  par  un  voyageur  en  Angleterre“  Haag  1698  S.  392 — 393. 

3)  Traill  a.  a.  0.  Bd.  IV  S.  161. 

h  Macaulay  „Geschichte  von  England.“  Deutsch  von 
W.  Beseler,  Braunschweig  1859.  Bd.  II  S.  47 — 48. 


265 


Wie  es  am  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts  in  dieser 
Beziehung  aussah,  hat  Paul  Hensel  in  seinen  wert¬ 
vollen  Untersuchungen  über  die  englischen  „sozialen 
Zustände  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts“  dar¬ 
gelegt  ^): 

„Alle  Welt  trank  damals  und  zwar  mit  Vorliebe 
schwere  Weine.  Der  Burgunder  wurde  dem  leichten  Rotweine 
vorgezogen.  Dem  Burgunder  erstanden  bereits  in  Portwein 
und  Xeres  gefährliche  Konkurrenten.  .  .  Auch  die  Damen 
entzogen  sich  den  schweren  Weinen  durchaus  nicht  und 
Hessen  den  übrigen  Tag  nicht  ohne  Anwendung  unter¬ 
schiedlicher  feiner  Liköre  vorübergehen.  Es  ist  darauf 
aufmerksam  gemacht  worden,  dass  gerade  um  diese  Zeit 
der  Thee  anfängt,  wenigstens  in  den  oberen  Kreisen  der 
Gesellschaft  gebräuchliches  Getränk  zu  werden,  aber  man 
hat  daraus  fälschlich  den  Schluss  gezogen,  dass  damit 
sogleich  eine  Abnahme  an  anderen  Getränken  gegeben  ist. 
Mistress  Millamont  behält  sich  für  ihre  zukünftige  Ehe 
„die  alleinige  Herrschaft  über  ihren  Theetisch“  vor,  ihr 
Liebhaber  willigte  ein,  aber  mit  dem  Vorbehalt,  „dass 
keine  fremden  Hülfstruppen  zugezogen  werden,  wie  Orange, 
Anis,  Cardamom,  Citronen  und  sonstige  Liköre  mit  Ra- 
tafia  und  dem  nicht  genug  zu  lobenden  Rotwein“.  Als 
Hauptgetränk  aber  tritt  uns  das  Bier  entgegen.  Wenn 
wir  für  eine  Familie,  deren  Ausgabebuch  wir  besitzen, 
sämmtliche  weibliche  Personen  mit  einbegriffen,  vier  Liter 
den  Tag  an  Dünnbier  herausrechnen  können,  wenn  wir 
berücksichtigen,  dass  Kaffee  und  Thee  zum  Frühstück 
unbekannt  waren,  und  dass  ihre  Stelle  gleichfalls  von 

3)  P.  Hensel  „Englische  sociale  Zustände  zu  Anfang  des 
.achtzelinten  Jahrhunderts“  in:  Neue  Heidelberger  Jahrbücher 
1899  Bd.  IV.  S.  4—5. 


266 


Dünnbier  eingenonamen  wurde,  so  sehen  wir,  dass  in  allen 
Klassen  des  englischen  Volkes  das  Bier  als  Lebensnot¬ 
wendigkeit  galt.  Und  neben  dem  Dünnbier  wurden  dia 
stärkeren  Sorten  starkes  Bier  und  Porter  nicht  vernach¬ 
lässigt.  Die  Steuer  auf  Malz  war  eine  Haupteinnahmequelle 
des  Staates  und  die  damalige  Philanthropie  freute  sich 
der  Liebe  des  Volkes  zum  Nationalgetränk  als  des  sichersten 
Mittels  den  Branntweingenuss  einzuschränken.  In  Ho- 
garth’s  „Biergasse“  und  „Branntweingasse“  ist  dieser 
Kontrast  aufs  stärkste  betont.  In  der  Biergasse  schäumende 
Krüge  mit  mächtigen  Stücken  Eindfleisches,  Arbeiter^ 
deren  Muskeln  von  dieser  gesunden  Nahrung  Zeugnis 
ablegen,  gut  gehaltene  Häuser,  das  einzige  verfallene  gehört 
einem  Pfandleiher.  In  der  Branntweingasse  elende  halbidiote 
Gesellschaft,  nur  der  Pfandleiher  hat  ein  blühendes  Geschäft.“ 

Freilich  war  Hogarth’s  Bild  wohl  mehr  ein  Produkt 
der  Phantasie,  da  der  reichliche  Biergenuss  ebenfalls^ 
schädliche  Folgen  hinterlassen  musste  und  auch  keineswegs- 
den  Branntweingenuss  ausschloss  oder  einschränkt.  Viel¬ 
mehr  wurde  letzterer  immer  beliebter  und  allgemeiner,, 
seitdem  er  von  1723  an  im  Lande  selbst  hergestellt  wurde. 
Früher  war  er  meistens  von  Frankreich  eingeführt  worden 
und  nur  den  höheren  Klassen  zugänglich  gewesen,  denen 
dieser  Genuss  bald  unentbehrlich  wurde.  William  King 
erzählt,  dass  Pope,  mit  welchem  er  einmal  bei  dem 
Earl  ot  Burlington  dinirte,  bei  Tische  unwohl  wurde  aus- 
dem  einzigen  Grunde,  weil  er  den  gewohnten  Branntwein 
nicht  bekam.  Man  setzte  ihm  ein  ungeheuer  grosses- 
Glas  vor,  welches  er  in  weniger  als  einer  halben  Stunde 
zum  Erstaunen  der  Anwesenden  gänzlich  austrank. 

_  A 

1)  Traill  a.  a.  0.  ßd.  V.  S.  136. 

2)  William  King  „Political  and  literary  anecdotes  of 
bis  own  times“  2.  Aufl.  London  1819.  S.  12 — 13. 


267 


Dass  die  gastronomischen  Excesse  in  jener  Zeit  nicht 
minder  ungeheuerlich  waren  als  die  alkoholistischen,  lehrt 
die  köstliche  Schilderung,  welche  Swift  in  seiner  „mo¬ 
dischen  Unterhaltung“  von  einem  solchen  Diner  uns 
hinterlassen  hat  und  welche  Thackeray  in  seinem  Buche 
über  „England’s  Humoristen“  als  ein  „merkwürdiges, 
beschreibendes  Dokument  von  den  Sitten  des  verflossenen 
Zeitalters“  wiederholt  hat. 

„Diese  Modigen  begannen  ihr  Diner  mit  einem 
Ochsennierenstück,  Fisch,  mit  einer  Kalbsschulter  und 
einer  Zunge.  Mylady  Smart  legte  das  Nierenstück  vor, 
Mylady  Answerall  machte  den  Fisch  zugänglich  und  der 
tapfre  Obrist  zerschnitt  die  Kalbsschulter.  Alle  machten 
einen  beträchtlichen  Angriff  auf  das  Nierenstück  und  die 
Kalbsschulter,  mit  Ausnahme  des  Baronet,  der  keinen 
Appetit  verspürte,  weil  er  schon,  sobald  er  sich  Morgens 
erhoben,  ein  Beefsteak  mit  zwei  Krügen  Ale,  ausser  einem 
Schoppen  Märzbier,  zu  sich  genommen.  Man  trank  Claret, 
der,  nach  dem  Herrn  vom  Hause,  stets  nach  dem  Fisch 
getrunken  werden  sollte,  und  Mylord  Smart  empfahl 
insbesondere  Mylord  Sparkish  seinen  ausgezeichneten  Cider, 
w^odurch  einige  glänzende  Bemerkungen  dieses  Edelmannes 
hervorgerufen  wurden.  Der  Wirt  trank  kein  Glas  Wein, 
ohne  dem  einen  oder  dem  andern  seiner  Gäste  zuzunicken 
und  rief  dabei:  „Zu  Euren  Diensten,  Tom  Neverout!“ 
—  Nach  dem  ersten  Gange  erschienen  Mandelpudding  und 
Kahmkuchen,  wovon  der  Obrist  mit  eigner  Hand  aus  der 
Schüssel  nahm,  um  die  glänzende  Miss  Notable  zu  ver¬ 
sehen,  junge  Hühnchen,  schwarze  Puddings  und  Suppe, 


0  W.  M.  T  hacke  ray  „England’s  Humoristen“,  übersetzt 
von  A.  V.  Müller,  Hamburg  1854.  S.  149 — 152. 


268 


und  als  Mylady  Smart,  die  elegante  Dame  vom  Hause, 
eine  Spinne  in  einer  Schüssel  fand,  legte  sie  solche  auf 
einen  Teller  und  gab  den  Befehl  sie  zur  Köchin  hinunter 
zu  tragen  und  sie  für  der  Köchin  eignes  Diner  anzurichten. 

Diesen  zweiten  Gang  begleiteten  Wein  und  Schmalbier, 
und  forderte  der  Obrist  Bier,  so  nannte  er  den  Keller¬ 
meister  Freund  und  fragte,  ob  das  Bier  gut  sei.  —  Nach 
den  Puddingen,  den  süssen  und  den  schwarzen,  nach  dem 
Eahmkuchen  und  der  Suppe,  kam  der  dritte  Gang,  dessen 
vornehmste  Schüssel  eine  heisse  Wildpastete  war,  die  dem 
Lord  Smart  vorgesetzt  und  von  diesem  Edelmann  zer¬ 
schnitten  ward.  Ausser  der  Pastete  gab  es  einen  Hasen, 
ein  Kaninchen,  einige  Tauben,  Kebhühner,  eine  Gans  und 
einen  Schinken.  Keichliche  Spülungen  von  Wein  und 
Bier  begleiteten  diesen  Gang,  wobei  die  Herren  stets  mit 
jedem  Glase,  das  sie  tranken.  Jemanden  aufforderten  und 
die  Unterhaltung  zwischen  Tom  Neverout  und  Miss 
Notable  war  um  diese  Zeit  so  lebendig  uud  munter  ge¬ 
worden,  dass  sie  den  Baronet  aus  Derbyshire  auf  den 
Gedanken  zu  bringen  begann,  die  junge  Dame  sei  Tom’s 
Allerliebste,  worauf  die  Miss  bemerkte,  dass  sie  Tom  liebe 
„wie  Pie“.  Nach  der  Suppe  nahmen  einige  der  Herren 
einen  Zug  Branntwein  zu  sich,  was  „sehr  gut  für  die 
Gesundheit“  sei,  wie  Herr  John  sagte,  und  nach  Beendi¬ 
gung  dieses  erträglich  bestandreichen  Mittagsmahls  hiess 
Lord  Smart  den  Kellermeister  den  grossen  Humpen  für 
Herrn  John  mit  Oktoberbier  füllen.  Der  grosse  Humpen 
ging  von  Hand  zu  Hand  und  von  Mund  zu  Mund;  als 
ihn  der  edle  Wirt  aber  dem  galanten  Tom  Neverout 
aufnötigte,  wies  ihn  dieser  von  sich:  „Auf  Glauben, 
Mylord,  ich  liebe  Ihren  Wein  und  möchte  keinen  Bauern 
auf  einen  Gentleman  setzen.  Euer  Würden  Claret  ist  gut 


269 


genug  für  mich.“  Das  Diner  war  vorbei  und  der  Wirt 
sprach;  „Häng’  die  Sparsamkeit,  bring’  uns  für  einen 
Halbpfennig  Käse.“  —  Jetzt  ward  das  Tischtuch  entfernt 
und  eine  Flasche  Burgunder  aufgesetzt,  an  der  die  Damen 
eingeladen  wurden,  Teil  zu  nehmen,  bevor  sie  sich  zu 
ihrem  Thee  begäben.  Als  sie  sich  dann  zurückgezogen, 
versprachen  die  Herren,  in  einer  Stunde  sich  bei  ihnen 
einzustellen,  es  wurden  frische  Flaschen  gebracht  und  die 
Toten,  worunter  die  leeren  Flaschen  zu  verstehen,  entfernt, 
und  Mylord  Smart  sprach:  „Hörst  Du,  John,  bring  reine 
Gläser,“  worauf  der  tapfre  Obrist  Alwit  bemerkte;  „ich 
will  mein  Glas  behalten,  denn  Wein  ist  die  beste  Flüssig- 
eit,  um  Gläser  zu  waschen.“ 

In  diesem  lebensvollen  Bilde  fehlt  noch  ein  Zug,  der 
den  englischen  gastronomischen  Ausschweifungen  jener 
und  späterer  Zeiten  eigentümlich  war.  Das  ist  der 
Ton  der  Unterhaltung  bei  Tische,  der  schon  in  Gegen¬ 
wart  der  Damen  recht  frei  war,  nach  der  üblichen 
Entfernung  derselben  aber  geradezu  o  b  s  c  ö  n  wurde.  Schon 
in  Mrs.  Manley’s  „Atalantis“  heisst  es:  „Habt  ihr 
wahrgenommen  die  Verschwendungen  auf  einer  Tafel,  die 
delikaten  Speisen,  welche  aufgetragen  wurden,  die  köst¬ 
lichen  Weine  und  andere  starke  Getränke  zu  Ende  der 
Mahlzeit.  Habt  ihr  auf  ihre  Conversation  und  Gespräch 
Acht  gegeben,  in  welchem  der  Respekt,  den  man  gegen 
unser  Geschlecht  in  Obacht  nehmen  solle,  hindangesetzt 
und  durch  die  zweydeutigen  Worte  und  andere  unver¬ 
schämte  Reden  beleidigt  worden.  .  .  Die  Belustigungen, 
welche  auf  die  Mahlzeit  gefolget  sind,  waren  vollends  gar 
mit  Lastern  erfüllet, 


0  Mrs.  Manley’s  „Atalantis“  S.  375. 


270 


Gastronomiscke  Themata  wurden  selbst  von  ange¬ 
sehenen  Schriftstellern  erörtert.  Der  obengenannte 
William  King  schrieb  für  den  Beefsteak-Klub  eine 
„Art  of  cookery“  (Kochkunst) A) 

Im  weiteren  Verlaufe  des  18.  Jahrhunderts  war  eher 
^ine  Zunahme  als  Abnahme  der  Vorliebe  für  die  Freuden 
der  Tafel  zu  bemerken.  Vor  allem  begannen  die  niederen 
Volksklassen  sich  in  bedenklicher  Weise  an  den  Aus¬ 
schweifungen  in  Speise  und  Trank  zu  beteiligen.  Über 
das  Fressen  und  Saufen  und  die  Hoheit,  mit  der  dabei 
vorgegangen  wurde,  sind  manche  ergötzlichen  Schilderungen 
vorhanden.  So  erzählt  der  Verfasser  der  „Müssiggänger 
und  Taugenichtse  in  London“  von  einer  Maskerade,  der 
or  beiwohnte  :  „Ich  begab  mich  also  nach  dem  anderen 
Ende  des  Saals,  wo  mir  ein  überaus  angenehmer  Duft 
von  den  leckerhaftesten  Speisen  entgegen  kam.  Es  ward 
mir  anfangs  schwer,  den  Ort  zu  entdecken,  wo  dieser 
herrliche  Geruch  herrührte;  endlich  aber  ward  ich  in 
einer  abgelegenen  Ecke  des  Zimmers  eine  Treppe  gewahr, 
die  fast  perpendikulär  nach  einem  unterirdischen  Keller 
herunter  führte.  Indem  ioh  hereintrat,  kam  es  mir  vor, 
gerade  als  wenn  ich  unter  einen  grossen  Kudel  Vielfrasse 
gekommen  wäre,  so  unflätig  ward  hier  auf  die  herrlichsten 
Leckerbissen,  die  man  sich  immer  vorstellen  kann,  hinein 
gefressen  .  .  .  Ich  begab  mich  hierauf  in  ein  Neben¬ 
zimmer,  wo  ich  eine  Dame  in  ganz  erbärmlichen  Um¬ 
ständen  vorfand.  Das  arme  Geschöpf  mochte  wohl  etwas 
zu  viel  Wein  und  Limonaden  genossen  haben,  welches 


Grass e  a.  a.  0.  Bd.  III  S.  374. 

2)  „Offenherzige  Schilderung  der  Müssiggänger  und  Tauge- 
.nichtse  in  London.“  London  1788.  Bd.  II  S.  106 — 107. 


271 


ihr  ein  schreckliches  angstvolles  Würgen  verursachte.  Ich 
tröstete  sie,  so  gut  man  eine  Dame  in  so  traurigen 
Umständen  nur  immer  trösten  kann.‘^  Der  „Fresswanst“ 
war  im  18.  Jahrhundert  eine  typische  Erscheinung  in  jeder 
Gesellschaft.  Um  besonders  schmackhafte  und  delikate 
Gerichte  wurde  oft  ein  erbitterter  Kampf  auf  sehr  rohe 
Weise  geführt  i).  Sogar  der  berühmte  Schriftsteller 
Samuel  Johnson  war  wegen  seiner  unglaublichen 
Gefrässigkeit  gefürchtet.^) 

Über  den  Konsum  von  alkoholischen  Getränken  in 
der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  bemerkt  im  all¬ 
gemeinen  Archenholtz^):  „ Die  gemeinen  Leute  trinken 
im  Winter  warm  Bier  mit  bittern  Essenzen,  desgleichen 
Bier  mit  Branntwein,  Eier  und  Zucker  durchgekocht. 
Kum  oder  Branntwein  mit  kaltem  Wasser  ohne  Citronen 
oder  Zucker  wird  auf  allen  Kaffeehäusern  getrunken,  des¬ 
gleichen  Punsch  in  erstaunlichem  Maasse.  Dieser  Hang 
zu  starken  Getränken  verursacht,  dass  die  Engländer  am 
Portowein  so  viel  Geschmack  finden,  der  auch  überdem 
der  wohlfeilste  ist.  —  Auf  die  französischen  Weine  ist 
die  Auflage  ausserordentlich,  so  dass  in  den  Tavernen  die 
Bouteille  Burgunder  oder  Champagner  einen  Dukaten 
kostet.  Dennoch  werden  sie  in  überaus  grosser  Quantität 

1)  Vergleiche  ebendaselbst  Bd.  1,  London  1787.  S.  34  —  35. 

2)  Kaum  war  servirt,  so  stürzte  er  sich  auf  die  Speisen 
„wie  ein  Seerabe,  die  Augen  auf  seinen  Teller  geheftet,  ohne 
ein  Wort  zu  sagen,  ohne  ein  Wort  zu  hören,  Yon  dem  was 
Andere  sprachen,“  mit  einer  solchen  Gefrässigkeit,  dass  die 
Adern  seiner  Stirn  anschwollen  und  man  den  Schweiss  herab- 
fliessen  sah.  Wenn  zufällig  der  Hase  etwas  angegangen  oder 
die  Pastete  mit  ranziger  Butter  zubereitet  war,  da  ass  er  nicht 
mehr,  da  verschlang  er.“  Taine  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  410. 

3}  Archenholtz  „England“  Bd.  HI  S.  15 — 16. 


272 


getrunken.  Obgleich  man  den  Cyder  liebt,  so  dient  er 
doch  mehr  zum  Getränk  in  den  Provinzen  als  in  der 
Hauptstadt,  wo  man  allem,  was  stark  und  berauschend 
ist,  den  Vorzug  giebt.  —  Die  starken  Biere  und  Oie 
sind  daher  eigentlich  das  grosse  Labsal  der  Engländer. 
Auch  sind  bloss  in  der  Stadt  London,  ohne  die  daran 
stossenden  Dörfer  zu  rechnen,  8000  Bierhäuser  0-  Hier 
trifft  man  alle  Stände  vermischt  an.  Von  den  grossen 
Männern,  Swift  und  Sterne,  ist  es  bekannt,  dass  sie 
in  solchen  Häusern  die  Menschen  studierten.“ 

Seit  1775  hatte  der  Branntweingen uss  in  einem 
schreckenerregenden  Maasse  zugenommen ‘^).  „Dealer  in 
Foreign  Spirituous  Liquors“  oder  „Hier  sind  fremde 
Liqueure  zu  verkaufen“  fand  Moriz  als  häufigste  Thür¬ 
inschriften  in  London.  Er  berichtet,  dass  beim  letzten 
Aufruhre  mehr  Menschen  bei  den  ausgeleerten  Branntwein¬ 
fässern  auf  den  Strassen  tot  aufgefunden  worden,  als 
durch  die  Kugeln  der  Soldaten  umgekommen  seien. Im 
Kirchspiel  St.  Giles  befand  sich  ein  berüchtigtes  Brannt¬ 
weinhaus  mit  der  Inschrift:  „Here  you  may  get  drunk 
for  a  penny,  dead  drunk  tor  two  pence  and  get  straw 
for  nothing“  d.  h. :  Hier  könnt  Ihr  für  1  Penny  betrunken 
werden,  zum  Tode  trunken  für  2  Pence,  und  Stroh 
umsonst  bekommen.  In  der  That  waren  die  Keller 
reichlich  mit  Strohlagern  versehen,  auf  denen  Tag  und 
Nacht  zahlreiche  Kunden  ihren  Kausch  ausschliefen,  bis 

1)  An  jeder  Strassenecke  befand  sich  gewöhnlich  ein 
Bierhaus.  Vergl.  B  ö  ttiger  „London  und  Paris“  Weimar  1799. 
Bd.  IV  S.  14-18. 

2)  „London  und  Paris“  Bd.  III  S.  16ff. 

3)  C.  Ph.  Moriz  „Reisen  eines  Deutschen  in  England  im 
Jahre  1782.“  Berlin  1783.  S.  21. 


273 


endlich  der  Friedenricliter  diesen  skandalösen  Zuständen 
ein  Ende  machte.^)  Auf  dem  grossen  Ballfeste,  das  der 
holländische  Bankier  Hope  in  seinem  Hause  am  Caven- 
dish  Square  im  Jahre  1799  gab,  sollen  sich  ein  paar 
Hundert  Menschen  betrunken  haben. 

Es  gab  sogar  spezielle  Tri nkergesellsc haften, 
die  sich  regelmässig  zum  Genüsse  eines  bestimmten 
Spirituosen  Getränkes  versammelten.  Eine  solche  war 
z.  B.  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  der  „Eccentrics“, 
welche  sich  bei  einem  gewissen  Fulham  in  Chandos 
Street,  St.  Martin’s  Laue  versammelten,  um  sich  am  „Bril¬ 
liant“,  einer  bestimmten  Sorte  von  Ale,  gütlich  zu  thun.^) 

Sehr  beliebte  Orte  für  gastronomische  und  alkoholi- 
stische  Ausschweifungen  waren  die  Bordelle  und  die  von 
Prostituirten  frequentirten  Bagnios  und  Tavernen. 
Hier  tritt  der  nahe  Zusammenhang  zwischen  den  Exzessen 
auf  jenem  Gebiete  und  dem  Geschlechtstriebe  sehr  deutlich 
hervor.  Diese  verschiedenen  Tempel  der  Venus  besassen 
meistens  auch  die  Conzession  zur  Verabreichung  von 
Speisen  und  Getränken.  Hier  wurden  dann  vor  den 
Orgien  in  Venere  solche  in  Baccho  gefeiert.  Arclien- 
holtz^)  berichtet:  „In  diesen  Tavernen  soupirt  man 
nach  Gefallen  in  Zimmern,  wo  sich  grosse  oder  kleine 
Gesellschaft  befindet,  mit  oder  ohne  Frauenzimmer.  Diese 
muss  man  jedoch  selbst  mitbringen,  auch  sind  keine 
Nachtherbergen  hier  üblich,  da  diese  nur  zu  den  Bagnio- 
Gebräuchen  gehören.  Der  Aufwand  in  allen  diesen 
Häusern  ist  so  gross,  dass  er  das  Bonmot  des  berühmten 

9  Archenholtz  „England.“  Bd.  I  S.  173. 

„London  und  Paris.“  Bd.  IV  S.  103. 

9  John  Bee  a.  a.  0.  S.  15 — 17  und  S.  73. 

9  Archenholtz  „England.“  Bd.  H  S.  262 — 263. 

18 


274 


Beaumarchais  gewissermassen  rechtfertigt,  der,  so 
bekannt  er  auch  mit  den  Schwelgereien  von  Paris  war, 
dennoch  über  die  Londoner  Wollüste  erstaunte,  und 
behauptete,  dass  in  einem  Winterabende  in  den  Bagnios 
und  Tavernen  in  London  mehr  verzehrt  würde  als  die 
sieben  vereinigten  Provinzen  in  sechs  Monaten  zu  ihrem 
Unterhalt  gebrauchten“.  Ein  Engländer,  der  40000 
Pfund  von  seinem  Vater  geerbt  hatte,  eilte  nach  London 
und  schlug  seinen  Wohnsitz  geradezu  in  einem  Bagnio 
auf,  wo  er  in  einer  Gesellschaft  von  zahlreichen  Zechern 
und  Mädchen  in  elf  Tagen  1300  Pfund  verjubelte,  wobei 
der  Wein  nicht  bloss  getrunken  wurde,  sondern  sogar 
Fussbäder  von  Champagner  genommen  wurden  und  Musik, 
Liebe  und  Wein  ein  herrliches  Trio  bildeten.^) 

Eine  eigentümliche  Kolle  spielte  im  18.  Jahrhundert 
noch  der  — •  Nachttopf  bei  Tische.  E  o  r  s  t  e  r  erzählt  : 
„Die  Verschiedenheit  des  Essens  am  östlichen  und  west¬ 
lichen  Ende  der  Stadt  ist  bemerkenswert.  Der  ganz 
Fremde  würde  indess  wenig  Unterschied  finden;  denn 
überall  geht  es  gleich  steif  und  unbeholfen  zu.  Man  sitzt 
vor  Tische  unbeweglich  im  Stuhl,  spricht  wenig,  schlägt 
die  Arme  über  einander  und  hat  Langeweile,  bis  zur  Tafel 
gerufen  wird.  Dann  ziehen  die  Weiber  wie  die  Kraniche 
ins  Speisezimmer;  niemand  führt  sie.  Man  fordert  zu 
trinken,  wie  in  einem  Wirtshause,  oder  macht  Partie  mit 
jemand,  um  ein  Glas  zu  trinken;  und  nach  Tische  werden 
Gesundheiten  getrunken.  Auch  erscheint,  sobald  die 
Damen  sich  entfernt  haben,  überall  der  Nachttopf.“ 

Im  19.  Jahrhundert  haben  sich  diese  Verhältnisse 
wenig  geändert,  im  Gegenteil  in  Beziehung  auf  den 


0  ibidem  S.  264. 

-)  Förster  a.  a.  0.  S.  227—228. 


275 


Genuss  alkoholischer  Getränke  sich  sehr  zum  Schlechtem 
verändert.  Auch  der  Fleischkonsum  scheint  eher  noch 
gestiegen  zu  sein.  Die  nationalökonomischen  Enqueten 
darüber  müssen  uns  wahrhaft  in  Erstaunen  setzen.  Porter 
berechnete  den  Verbrauch  einer  wohlhabenden  Familie, 
die  Kinder  und  Dienstboten  eingerechnet,  zu  jährlich 
370  Pfund  pro  Kopf!  Während  der  .jährliche  Fleisch¬ 
konsum  von  1868  bis  1871  pro  Kopf  102,1  Pfund  betrug, 
ist  derselbe  in  den  Jahren  1872 — 1883  auf  110,7  Pfund 
gestiegen.  In  verschiedenen  Waisenhäusern  Londons  be¬ 
trägt  die  tägliche  Portion  jedes  Kindes  im  Durchschnitte 
0,23  bis  0,438  Pfund.  In  Frankreich  bekommt  der  Soldat 
im  Felde  täglich  350  Gramm  Fleisch,  in  England  dagegen 
beinahe  das  Doppelte,  nämlich  679  Gramm. i)  Wer  sich 
einen  Begriff  machen  will  von  dem  ungeheuren  Fleisch- 
und  Fischkonsum  des  heutigen  London,  der  lese  das  sehr 
instruktive  19.  Kapitel  „Gastronomie  London“  in  Mr. 
A.  H.  Beavan’s  grossem  Werke  „Imperial  London“, 
wo  die  betreffenden  Verhältnisse  für  1900  und  1901  aus¬ 
einander  gesetzt  werden.^) 

Nicht  nur  die  specifische  Krankheit  der  Engländer, 
die  Gicht  (gout)  dürfte  mit  diesem  übermässigen  Fleisch- 
genusse  in  Zusammenhang  stehen,  sondern  letzterer  übt 
ganz  gewiss  auch  auf  die  Vita  sexualis  einen  Einfluss 
in  stimulirendem  Sinne  aus. 

Die  Trunksucht  ist  noch  immer  ein  weit  verbreitetes 
Laster,  besonders  der  niederen  Volksklassen.  „Unser  Vetter 
John  ist  ein  enormer  Trinker,“  sagt  Kodenberg 
„Grosser  Gott,  was  kann  er  vertragen,  eh’  er  in  die  Gosse 

W.  Roscher  a.  a.  0.  S.  626. 

2)  Arthur  H.  Beavan  „Imperial  London.“  London 
1901  S.  275—285. 


18* 


27G 


sinkt.  Aber  in  die  Gosse  sinkt  er  zuletzt,  und  er  macht 
auch  gar  kein  Hehl  daraus;  und  vorzüglich  auf  einem 
Sonntags  Nachmittag,  zwischen  dem  ersten  und  dem 
zweiten  Gottesdienst,  wenn  sich  die  Thüre  des  Ale-Hauses 
in  demselben  Moment  öffnet,  wo  diejenige  der  Kirche  sich 
schliesst,  kann  man  die  rührendsten  Beispiele  dieser  Art 
erleben.“^)  Porter,  Ale  und  die  verschiedenen  Arten 
von  Branntwein  (Gin,  Whisky,  Brandy  etc.)  sind  die  ver¬ 
breitetsten  geistigen  Getränke  in  den  unteren  Klassen, 
die  in  zahllosen  höchst  einträglichen  Kneipen  dargeboten 
werden.  Adele  Schreiber  bemerkt  in  ihrer  anziehenden 
Skizze  über  Ost-London:  „Man  kann  vom  Elend  Londons 
nicht  sprechen,  ohne  der  Trunksucht  zu  gedenken  und 
der  verhängnisvollen  Rolle  der  Schnapsschänke  einen  breiten 
Raum  zu  gönnen.  Vom  armseligen  Verdienst  der  Massen 
verschlingt  das  Publichouse  einen  un  verhältnismässig  grossen 
Teil  und  der  Alkoholmissbrauch,  in  seiner  komplicirten 
Wechselwirkung  sowohl  als  Folge  wie  als  Ursache  des 
Elends,  bildet’ vielleicht  das  unüberwindliche  Hindernis 
aller  Eortschrittsbewegungen.  Selbst  in  den  jammervollsten 
Bezirken  der  Gressstadt  ist  die  Kneipe  eine  wahre  Gold¬ 
grube,  eine  Schanklicenz  bedeutet  ein  Vermögen.  Das 
Zehn-  und  Zwanzigfache  des  Bauwertes  wird  für  ein  arm¬ 
seliges  Häuschen  bezahlt,  wenn  eine  Licenz  damit  ver¬ 
bunden  ist,  Preise  von  30  bis  50  Tausend  Lstr.  für  eine 
Schankstube  sind  nichts  Aussergewöhnliches.  Vor  kurzem 
wurde  die  Kneipe  „Royal  Oak“  in  Barking  Road,  Canning- 
towu,  einem  der  elendesren  Stadtteile  Londons,  für  112000 
Lstr.  verkauft!  In  manchen  Gegenden  wird  eine  Schenke 
von  je  25  Familien  erhalten.  London  verdient  den 


0  J.  Rodenberg.  „Tag  und  Nacht  in  London“  S.  105. 


277 


traurigen  Ralitn  auch  auf  dem  Gebiete  des  Alkoholismus 
die  grösste  Gleichberechtigung  der  Frauen  aufzuweisen, 
sie  sind  mit  nicht  weniger  als  38  v.  H.  an  den  durch 
Trunksucht  verursachten  Ausschreitungen  beteiligt.  In 
keiner  anderen  europäischen  Hauptstadt  sieht  man  so  viel 
betrunkene  Frauen,  zerfetzt  und  zerschlissen,  abgestumpft 
und  vertiert,  und  wenn  schon  in  Familien,  wo  der  Mann 
trinkt,  kein  Gedeihen  möglich,  so  werden  die  Haushal¬ 
tungen,  wo  die  Frau  dem  Dämon  Alkohol  verfallen  ist 
zu  Ruinen.“  1) 

In  der  That  ist  die  auffälligste  Erscheinung  im 
modernen  englischen  Alkoholismus  die  ausserordentlich 
grosse  Betheiligung  des  weiblichen  Geschlechtes 
an  demselben,  welche  jedem,  der  sich  auch  nur  wenige 
Tage  in  London  aufhält,  sogleich  sinnfällig  in  wüsten 
Strassenscenen  vor  die  Augen  tritt.  „Meine  Wirtin,“ 
erzählt  bereits  Schütz,  „gab  einmal  des  Abends  ihren 
Freundinnen  ein  kleines  Fest.  Ich  wurde  auch  dazu 
eingeladen.  Die  erste  Frage,  wie  ich  in  das  Zimmer  trat, 
war:  ob  ich  Punsch  oder  lieber  Rum  trinken  wolle.  Ich 
wählte  das  Erstere,  und  wunderte  mich  nicht  wenig  zu 
sehen,  wie  einige  dieser  Frauenzimmer  mit  dem  letztem 
Getränke  so  bekannt  waren,  dass  sie  sich  zuweilen  ein 
volles  Glas  Rum  recht  tapfer  zutranken. “  Casanova 
berichtet,  wie  Miss  Kennedy  sich  „ihm  zu  Ehren  be¬ 
rauschte“.^)  Ebenso  charakteristisch  für  „le  vice  Capital 


Adele  Schreiber.  „  Aus  Ost-London“  in :  Vossische 
Zeitung  J\r.  513  vom  1.  November  1901;  vergleiche  auch 
Jjeopold  Kätscher  „Aus  England“  Leipzig  (Reclam)  Heft 
H  S.  7K 

Schütz  a.  a.  0.  S.  235—236. 

3)  Casanova’s  Memoiren  Theil  XV  S.  194. 


278 


de  la  femme  du  peuple,  l’ivrognerie,“  ist  ein  Zug,  den 
Venedey^)  hervorhebt:  „In  Frankreich  fordern  die 
öffentlichen  Mädchen,  ehe  sie  ihre  Besucher  entlassen: 
quelque  chose  pour  les  gants ;  in  England :  Give  me  some 
pence  for  —  a  glass  of  beer!“  In  der  That  sind  be¬ 
trunkene  Prostituirte  ein  sehr  gewöhnlicher  Anblick  in 
den  Strassen  Londons.  Aber  leider  beschränkt  sich  die 
Trunksucht  durchaus  nicht  auf  diese  Klasse  weiblicher 
Wesen,  sondern  ist  auch  unter  den  übrigen  Frauen  der 
niederen  Volksklassen,  ja  sogar  unter  solchen  der  höheren 
Stände  verbreitet.  Am  „Bank  Holiday“  oder  auch  an 
einem  gewöhnlichen  Samstag-  oder  Sonntagabend  kann 
der  Fremde  überall,  besonders  aber  in  den  nördlichen  und 
östlichen  Teilen  Londons  die  widerlichsten  Scenen  be¬ 
obachten.  Als  ich  an  einem  Sonntagabend  im  August 
1901  mit  einem  Berliner  Ingenieur  von  King’s  Cross  am 
St.  Pancras-Bahnhofe  nach  der  Oxford-Street  ging,  be¬ 
gegnete  uns  in  Euston  Koad  ein  betrunkenes  Mädchen 
von  kaum  15  Jahren,  in  Tottenham  Court  Eoad  eine 
ganze  betrunkene  Familie.  Zwei  Mütter,  die  beide  ein 
Kind  im  Arm  hielten,  taumelten  über  die  Strasse,  laut 
singend  und  hin-  und  herschwankend,  hinter  ihnen  der 
Gatte  und  die  Mutter  (oder  Schwiegermutter)  im  gleichen 
Zustande.  Um  die  Ecke  biegend  sahen  wir  in  New  Oxford 
Street  ein  gänzlich  verkommenes  altes  Weib  mit  einer 
abschreckend  hässlichen  Trinkerphysiognomie  stumpfsinnig 
in  ein  Ladenfenster  stieren.  Hinten  guckte  die  Schnaps¬ 
flasche  aus  der  Tasche !  Bald  darauf  kam  uns  eine  ganze 
Schaar  von  jungen,  stark  angeheiterten  Mädchen,  Arm  in 


Hector  Fran  ce.  „En  Police  Court.“  Paris  o.  J.  S.  74. 
2)  J.  Venedey  „England“  Leipzig  1845  Bd.  II  S.  357. 


279 


Arm,  singend  und  tanzend  entgegen.  Hätte  ich  dieses 
alles  nicht  mit  eigenen  Augen  gesehen,  ich  würde  es  nach 
der  Schilderung  kaum  glauben  können.  Ja,  eines  Morgens 
sah  ich  sogar  aus  dem  Fenster  meines  deutschen  Hotels  in  der 
Greek  Street,  Soho,  wie  ein  solches  betrunkenes  Weib  am 
hellen  Tage  coram  publico  und  mitten  auf  der  Strasse 
in  der  ungenirtesten  Weise  seine  Bedürfnisse  verrichtete ! 
Im  Hastend  fallen  tagtäglich  solche  Scenen  vor.  Auch 
belehrt  schon  ein  flüchtiger  Blick  in  die  zahllosen  Ale- 
und  Branntweinkneipen,  welche  stets  eine  grosse  Zahl  von 
weiblichen  Gästen  beherbergen,  über  die  grosse  Verbreitung 
der  Trunksucht  unter  dem  weiblichen  Geschlechte.  Laut 
Polizeibericht  wurden  im  Jahre  1899  nicht  weniger  als 
1300  sinnlos  betrunkene  Mädchen  unter  20  Jahren 
auf  der  Strasse  gefunden,  deren  Zahl  1900  auf  über  4000 
gestiegen  war!  •) 

Der  zweifelhafte  Typus  der  „Kellnerin“  oder  der 
„weiblichen  Bedienung“-  ist  im  allgemeinen  in  London 
unbekannt.  Es  giebt  in  London  eine  Anzahl  Cafes  und 
Conditoreien,  in  denen  nur  Damen  aus  den  besten  Fa¬ 
milien  bedienen.  So  befindet  sich  in  Bondstreet  ein  Cafe,  das 
nur  Töchter  von  Officieren  als  Kellnerinnen  annimmt. 
Hier  werden  vornehme  Damen  von  gleich  eleganten, 
hübschen  jungen  Mädchen  bedient.  Ferner  sind  zahlreiche 
junge  Mädchen  in  den  billigen  Konditoreien  und  Läden 
der  „Aerated  Bread  Company“,  von  „Lyons“  u.  A.  be¬ 
schäftigt.  Aber  auch  in  den  Bars  findet  man  meist 
Damenbedienung,  die  nicht  immer  in  moralischer  Beziehung 
so  intakt  ist  wie  die  eben  erwähnte. 

Gegen  die  Trunksucht  kämpfen  seit  beinahe  80  Jahren 
die  sogenannten  ,,Temperance  Societies“,  die  in  England 


9  Balneologische  Ceutralzeitung  1901  No.  24. 


280 


1829  von  Edgar  in  Belfast,  G.  W.  Carr  in  New  Ross 
und  John  Dunlop  in  Glasgow  begründet  wurden. 
Besonders  berühmt  war  seit  1838  Theobald  M  a t  li  e  w , 
Präsident  der  „Total  Abstinence  Society“  in  Cork  wegen 
seines  „wunderbaren  Einflusses  auf  Trunkenbolde“  i)  In 
neuerer  Zeit  hat  die  Temperenzler-Bewegung,  die  von 
zahlreichen  Gesellschaften  der  Heilsarmee,  der  ,,Blue  Ribbon 
Army“,  der  ,, grossen  anglikanischen  Massigkeits-Gesell¬ 
schaft“  u.  a.  m.  geleitet  wird,  bedeutende  Erfolge  auf¬ 
zuweisen;  es  giebt  zahlreiche  Temperenzhotels  in  London, 
in  denen  jeder  Alkoholgenuss  verpönt  ist.  Es  giebt  sogar 
seit  1873  ein  „Temperance  Hospital“  am  Hampstead  Road.^) 
Vielleicht  hat  die  starke  Entwickelung  der  Mässig- 
keitsbestrebungen  mit  dazu  beigetragen,  dass  das  moderne 
Restaura  nt- Wesen  des  Festlandes  in  London  nicht 
hat  Boden  gewinnen  können,  so  dass  z.  B.  im  galanten 
London  der  Typus  des  ,, Chambre  separe“  so  gut  wie 
unbekannt  geworden  ist.  Auch  die  in  den  lünfziger  und 
sechziger  Jahren  so  berühmten  grossen  Demimonde- 
Restaurants  wie  der  Trocadero  in  Windmill  Street,  das 
Holborn  Restaurant  in  Holborn  u.  a.  haben  sich  jetzt  in 
sehr  solide,  vornehme  Restaurants  verwandelt. 


Das  allgemeine  Streben  der  Menschen,  ihre  natürlichen 
Fähigkeiten  zu  steigern,  ist  vermutlich  in  Hinsicht  auf 
die  Funktion  des  Geschlechtstriebes  eine  der  Ursachen 
der  Anwendung  der  Aphrodisiaca  im  engeren  Sinne 

9  Traill  a.  a.  0.  Bd.  VL  S.  G3G. 

V^ergl,  über  dasselbe  „Burdett’s  Hospitals  and  Charities 
1901“  London  1901  S.  277  und  S.  992. 

3)  Vergl.  über  das  Restaurantleben  in  London  G.  F.  S  t  e  ff  e  n 
„Aus  dem  modernen  Eügland.“  Stuttgart  189G.  S.  423—433. 


281 


des  Wortes  gewesen,  wobei  besonders  in  Fällen  der  Ab¬ 
nahme  und  Verminderung  der  Potentia  coeundi  et  gene- 
randi  dieser  Wunsch  sich  regte.  Über  diese  Verhältnisse 
hat  Venette  ein  sehr  interessantes  Kapitel  in  seinem 
berühmten  Werke  über  die  Zeugung  geschrieben,  welches 
sehr  vernünftige  und  skeptische  Anschauungen  über  die 
Natur  und  die  trügerische  Wirksamkeit  mancher  Aphro- 
disiaca  enthält,  ü 

Auch  er  unterscheidet  die  aphrodisischen  Nahrungs¬ 
mittel  von  den  aphrodisischen  Arzneimitteln.  Als  erstere 
nennt  er  „das  gelbe  im  ey,  die  saamen-eyer  eines  hahnes, 
die  jungen  böcklein,  krebse,  rindmark,  süsser  starker  wein, 
milch  und  andere  dinge,  welche  viel  nahrung  geben.““) 

Von  den  Nahrungsmitteln,  die  in  England  als  den 
Geschlechtstrieb  stimulirende  betrachtet  werden,  erwähnt 
Ryan  u.  a.  Fische,  Schildkröten,  Austern,  Krebse,  Hummer, 
ferner  Eier,  Artischocken,  Trüffeln,  Pilze,  Sellerie,  Kakao, 
Zwiebeln,  Ingwer,  Pfeffer,  Aprikosen,  Erdbeeren  und 
Phrsiche. 

So  soll  der  König  Georg  IV.  diese  „Koryphäe  aller 
Wollüstlinge“,  die  aphrodisische  Eigenschaft  der  Trüffeln 
so  hoch  gescliätzt  haben,  dass  seine  Gesandten  an  den 
Höfen  von  Turin,  Neapel,  Florenz  u.  s.  w.  den  speziellen 
Auftrag  erhielten,  der  königlichen  Küche  durch  einen 
eigenen  Courier  besonders  grosse,  delikate  und  wohl¬ 
schmeckende  Trüffeln  zu  liefern.^^) 


„Nicolai  Venette  Abhandlung  von  Erzeugung  der 
Menschen.“  Königsberg  und  Leipzig  1738  S.  187 — 200. 
ibidem  S.  188. 

M.  Ryan  „Prostitution  in  London“  London  1839  S.  384. 
•*)  John  Davenp ort„Aphrodisiacs  and Anti-aphrodisiacs“ 
Ijondon  1869  S.  88. 


282 


Der  Ingwer  wird  in  England  nicht  nur  innerlich  als 
Aphrodisiacum  angewendet,  sondern  nian  glaubt  auch, 
dass  die  äussere  Applikation  desselben  die  Libido  sexualis 
hervorrufe  und  steigere.  In  einer  erotischen  Schrift  „The 
Amatory  Experiences  of  a  Sargeon“  (London  1881} 
verführt  der  Held  zwei  Frauen,  indem  er  sie  mit  seinen 
mit  Ingwer  eingeriebenen  Händen  berührt. 

Die  medikamentösen  Liebesmittel  wurden  besonders 
im  Mittelalter  in  Form  der  Liebest ränke  und  Liebes- 
pulver  angewendet.  Im  15.  Jahrhundert  wurde  z.  B. 
auf  Drängen  Kichards  HL  Lady  Elizabeth  Grey 
vom  Parlamente  beschuldigt,  den  König  Eduard  IV. 
durch  Liebestränke  zur  Ehe  verlockt  zu  haben. In 
späteren  Zeiten  wurden  von  den  medikamentösen  Stimu- 
lantien  fast  nur  die  Canth ariden  benutzt,  die  besonders 
im  18.  Jahrhundert  den  Hauptbestandteil  aller  Aphrodisiaca 
bildeten“).  Venette^)  sagt  über  dieses  zweischneidige 
und  gefährliche  Mittel:  „Die  spanischen  fliegen  (can- 
tharides)  haben  so  grosse  macht  über  die  natürlichen 
glieder,  beyderley  geschlechtes :  Denn  wenn  man  nur 
2  oder  3  gran  darvon  einnimmt,  so  empfindet  man  solche 
hitze  und  brennen,  dass  man  darauf  gantz  krank  wird,, 
wie  solches  mit  einem  meiner  freunde  im  verwichenen 
Jahre  geschehen,  welcher  noch  lebet;  sein  mitbuhler,  weil 
er  zur  verzweifelung  gebracht,  das  er  seine  liebste  gehey- 
rathet,  resolviret  sich,  solche  cantharides  ihm  in  einer 
birn-tarte  beyzubringen,  welche  er  ihm  auch  am  Abend 

1)  ibidem  S.  72—73. 

2)  Vergl.  über  die  Geschichte  und  Pharmakologie  der 
Canthariden  mein  Werk  über  den  „Marquis  de  Sade  und  seine 
Zeit.“  3.  Auflage  S.  216 — 217. 

3)  Venette  a.  a.  0.  195. 


283 


seiner  hoclizeit  überbringen  lasset.  Als  die  nacht  herbey 
nahet  hat,  dieser  ehemann  seiner  braut  dermassen  bey- 
gewohnt,  dass  es  ihr  endlich  selbst  beschwerlich  gefallen. 
Dieses  vergnügen  aber  hat  sich  bald  in  eine  traurigkeit 
verkehret,  nachdem  dieser  mann  um  mitternacht  sich 
dermassen  entzündet  befunden,  dass  er  kaum  mit  grossen 
schmerzen  den  urin  lassen  können,  und  darbey  wahr¬ 
genommen,  dass  ihm  blut  aus  der  röhre  gegangen.  Die 
furcht  hat  dieses  übel  noch  mehr  vergrössert  und  mit 
etlichen  Ohnmächten  begleitet.  Man  musste  hernach  mit 
allem  möglichen  fleiss  auf  ihn  acht  haben,  bis  er  endlich 
mit  sehr  grosser  mühe  geh  eilet  worden.“ 

Dieser  sehr  gut  geschilderte  Fall  illustrirt  sehr 
deutlich  die  fast  typische  Begleiterscheinung  des  Cantha- 
ridengenusses,  die  heftige  Entzündung  der  Harnwege. 
Ausserdem  versagt  das  Mittel  in  vielen  Fällen,  wie  denn 
z.  B.  in  den  „Serails  de  Londres“  ein  Lord  noch  die 
Geisselung  mit  der  Birkenrute  zu  Hülfe  nehmen  muss, 
um  die  durch  die  Canthariden  nicht  genügend  erweckte 
Potenz  herbeizuführen. 

In  einem  anderen  Eroticum  „Randiana,  or  Excitable 
Tales“  (New  York  1884)  werden  dem  Pinero -Balsam 
wunderbare  Kräfte  in  Beziehung  auf  die  Steigerung  der 
Sexualität  zugeschrieben. 

Gegenwärtig  werden  hauptsächlich  von  den  französi¬ 
schen  Drogisten  in  der  Nähe  von  Oxford  Street  und  Soho 
Square  solche  medicamentösen  Aphrodisiaca  verkauft,  die 
im  allgemeinen  aber  in  England  ebenso  wenig  Anklang 
gefunden  haben  als  in  den  übrigen  nordischen  Ländern, 
vor  allem  auch  deshalb  nicht,  weil  der  eines  Stimulans 
bedürftige  Engländer  die  Flagellation  allen  Arzneimitteln 
vorzieht. 


1)  Serails  de  Londres  S.  175. 


In  meinem  „Marquis  de  Sade“  (3.  Auflage  S.  223), 
Labe  ich  als  letzte  Gruppe  der  Apbrodisiaca,  gewisse 
Apparate  erwdihnt,  deren  sich  die  Weiber  zur  Erregung 
ihrer  Libido  sexualis  bedienen,  die  man  gewissermassen 
als  Surrogate  des  Mannes  bezeichnen  kann.  Das  sind  die 
künstlichen  Nachbildungen  der  männlichen 
Genitalien  in  Form  der  Phalli,  Godemiches,  „Consola- 
teurs“,  „bijoux  indiscrets“,  ,,bijoux  de  religieuse“, 
„Cazzi“,  „Parapilla“  u.  s.  w.  Auch  in  England  wurden 
und  werden  dieselben  benutzt  unter  dem  Namen  „üildoe“ 
oder  „indiscreet  toy“. 

Den  a.  a.  0.  mitgeteilten  geschichtlichen  Thatsachen 
über  den  Godmiche  oder  Dildoe  seien  an  dieser  Stelle  einige 
Ergänzungen  hinzugefügt.  Nach  den  Mitteilungen  eines 
englischen  Autors^)  haben  die  Dildoes  ein  sehr  hohes 
Alter.  Abbildungen  derselben  in  den  Händen  von  Frauen 
fanden  sich  auf  altbabylonischen  Sculpturen.  Denn  „far 
away  in  those  mystic  times,  among  those  primae val 
civilisations,  one  thing  was  then  as  it  is  to-day,  one 
thing  was  destined  to  continue  unaltered,  the  same, 
the  passions,  the  loves  und  the  lusts  of  women.“  Jeden¬ 
falls  sind  auch  im  alten  Indien  nach  den  Angaben  der 
Erotiker  derartige  Dinge  von  den  Frauen  gebraucht  worden. 

Dass  die  alten  Griechen  den  Godmiche  (d2m/^o-’,  ßavßcov) 
gekannt  haben,  wussten  wir  schon  aus  den  Dramen  des 
Aristophanes  und  anderer  Komödiendichter.  Neuer¬ 
dings  haben  wir  in  den  1891  aufgefundenen  Mimiamben 
des  Dichters  Herondas  eine  lebensvolle  Schilderung 
dieser  Unsitte  erhalten.  Der  sechste  Mimiambus  bringt 
das  Gespräch  zweier  Freundinnen,  der  Koritto  und  der 
Metro,  in  welchem  die  Benutzung  eines  solchen  Leder- 


9  „Love  and  Safety“  London  189G  S.  5G. 


285 


pliallus  erwähnt  wird.  Diese  für  die  sittengeschiclit liehe 
Kenntnis  jener  Zeit  äusserst  wichtige  Stelle  lautet  i): 

Metro 
Ich  bitte  dich 

Lüg  nicht,  Korittchen:  Wer  in  aller  Welt 
War  es  denn  nur,  der  dir  den  scharlachroten 
Baubon  gemacht  hat? 

K  0  r  i  1 1  0 

Wo  hast  Du  denn  den  gesehen,  Metro? 

M  e  t  r  0 

Nossis  hatte  ihn  neulich, 

Eiinna’s  Tochter  —  ah,  ein  Prachtgeschenk! 

K  0  r  i  1 1  0 

Nossis?  Woher  denn? 

Metro 

Wirst  du  mich  verklatschen. 

Wenn  ich  es  sage? 

K  0  r  i  1 1  0 

Bei  diesen  süssen  Augen, 

Was  du  mir  mitteilst,  liebe  Metro,  wird 
Aus  Koritto’s  Mund  kein  Mensch  erfahren. 

Metro 

Eubule,  des  Bitas  Tochter  hat  ihn  ihr  gegeben. 

Und  schärft  ihr  ein,  es  dürfe  Niemand  merken. 

K  0  r  i  1 1  0 

0  diese  Weiber!  Dies  Weib  bringt  mich  noch  um! 

Ich  Hess  mich  durch  ihr  Bitten  und  Fleh’n  erweichen, 
Und  gab  ihn  ihr,  eh’  ich  ihn  selber  brauchte ; 

Doch  sie,  als  ob  sie  auf  der  Gasse  ihn 
Gefunden  hätte,  verschenkt  ihn,  auch  an  solche. 

Die  nicht  dazu  gehören.  ... 

„Die  Mimiamben  des  Ilerondas“  Deutsch  von  Otto. 
Crusius,  Göttingen  1893  S.  38—42. 


286 


Nach  mehreren  Ausfällen  über  die  leichtfertige 
Freundin,  kommt  das  Gespräch  auf  den  Verfertiger  jenes 
Wollustinstrumeiites.  Es  ist  der  Schuster  Kerdon, 
dessen  Treiben  und  Werke  Koritto  folgendermassen 
beschreibt: 

Koritto 

Doch  in  seiner  Wohnung 
Arbeitet  er  und  treibt  den  Handel  heimlich, 

Denn  vor  den  Zöllnern  ist  ja  keine  Thür 
Dermalen  sicher.  Aber  Werke  sind  es, 

Wie  von  Athene !  Eigenhänd’ge  Arbeit 

Von  ihr  glaubt  man  zu  sehen,  und  nicht  von  Kerdon. 

Ich  wenigstens  —  mit  zweien  kam  er  nämlich  — 

Wie  ich  sie  erblickte,  gingen  mir  vor  Entzücken 
Die  Augen  über.  Unsern  Männern  hebt  sich 
—  Wir  sind  ja  unter  uns  —  das  Glied  nicht  so. 

Und  mehr  noch  —  weich,  wie  holder  Schlaf,  ist  Alles, 
Und  Wolle  sind  die  Riemchen,  keine  Riemen; 

Einen  Schuster,  der  es  mit  uns  Frauen  besser 
Als  dieser  meinte,  kannst  du  lange  suchen. 

Aus  dieser  sehr  realistischen  Schilderung,  die  an 
Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt,  ergiebt  sich, 
dass  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  der  Gebrauch  von  aus 
Ledei  verfertigten  Godmiches  offenbar  eine  unter  den 
Weibern  des  Bürgerstandes  weit  verbreitete  Sitte  war. 
Die  etwas  dürftige  Beschreibung  eines  solchen  „Baubon“ 
lässt  doch  darauf  schliessen,  dass  diese  Apparate  in  sehr 
künstlicher  Weise  Bau  und  Funktion  der  äusseren  männ¬ 
lichen  Geschlechtsteile  nachzuahmen  suchten,  sowohl  in 
Beziehung  auf  das  äussere  Ansehen  (Farbe)  wie  auf  den 
Zustand  •  der  Erection,  der  durch  gewisse  mechanische 
Vorrichtungen  hervorgebracht  wurde.  Natürlich  war 


287 


infolgedessen  der  Preis  eines  solchen  Consolateurs  sehr 
hoch,  so  dass,  wie  es  hier  ausdrücklich  hervorgehoben 
wird,  mehrere  Frauen  denselben  gemeinschaftlich  benutzten. 
Der  Fabrikant  dieser  Apparate  trieb  mit  denselben  einen 
einträglichen  Handel,  der  aber  schon  damals  heimlich 
bleiben  musste,  weil  der  Staat  ein  wachsames  Auge  auf 
diese  „polizeiwidrige  Waare“,  wie  Crusius  sagt,  hatte. 

Fast  genau  wie  die  Worte  der  Koritto  über  die 
künstliche  Aufrichtung  der  Lederphalli  lautet  der  Bericht 
des  Herodot  über  ähnliche  Apparate  der  alten  Aegypter, 
die  solche  also  bereits  im  5.  Jahrhundert  vor  Christus 
besassen.  Er  sagt;  ,, Statt  der  Schamglieder  haben  sie 
sich  andere  Bilder  erdacht,  ungefähr  eine  Elle  lang,  die 
werden  durch  eine  Schnur  gezogen,  und  Weiber  tragen 
es  in  den  Dörfern  umher  und  das  Schamglied  hebt  sich 
immer  und  ist  nicht  viel  kleiner  als  der  ganze  übrige 
Leib.  Voraus  geht  ein  Pfeifer  und  hinter  ihm  kommen 
die  Weiber  und  besingen  den  Dionysos.  Warum  er  aber 
ein  grösseies  Glied  hat  und  dasselbe  am  ganzen  Leibe 
allein  bewegt,  darüber  erzählt  man  sich  eine  heilige  Sage.“  i) 
Weiter  theilt  Herodot  mit,  dass  Melampus  des 
„Dionysos  Namen  und  das  Opfer  und  des  Gliedes  Umgang“ 
bei  den  Griechen  eingeführt  habe.  Hieraus  entwickelte 
sich  allmählich  auch  die  profane  Benutzung  des  künstlichen 
Phallus  zu  aphrodisischen  Zwecken,  wie  z.  B.  bei  den 
Körnern  zu  dem  der  Entjungferung. 

Uralt  ist  auch  der  Gebrauch  der  Godmiches  in 
Ostasien.  Die  Spanier  trafen  solche  bei  den  Weibern 
der  Philippinen  an.  Von  der  Insel  Bali  im  malayischen 


1)  „Die  Geschichten  des  Herodotos“  übersetzt  von 
Friedrich  Lange,  Leipzig  (Reclam)  Teil  I  S.  157. 


288 


Archipel  berichtet  Jacobs:  „ln  dem  Boudoir  von  mancher 
Balischen  Schönen,  und  sicher  in  jedem  Harem  kann  man 
ein  aus  Wachs  verfertigtes  plaisir  des  dames  finden,  das 
den  bescheidenen  Namen  „ganem“  oder  „tejlak-tejlakan 
malern“  trägt  (tejlak=::penis,  malem=Wachs),  und  manches- 
Stündchen  wird  in  stiller  Abgeschiedenheit  mit  diesem 
consolateur  zugebracht.  Der  „ganem“  heisst  auch  wohl 
,,koempentji“.  Ebenso  werden  in  Japan  und  China 
künstliche  Phalli  benutzt,  die  aber  in  Japan  durch  die 
berüchtigten  „japanischen  Kugeln“  in  den  Hintergrund 
gedrängt  werden,  welcher  raffinirt  wollüstige  Apparat  in 
dem  Werke  von  Floss’  und  Bartels  ausführlich  be¬ 
schrieben  wird. 

In  ähnlicher  Weise  bedienen  sich  die  Türkinnen 
gewisser  in  der  Hand  aufschwellender  elastischer  Früchte,, 
die  man  in  Smyrna  öffentlich  für  die  Serails  verkauft. 

Als  unvollkommene  Godmiches  sind  auch  die  von  den 
Indianerinnen  benutzten  Kinge  von  Federharz  anzusehen, 
deren  europäische  Nachahmungen  als  „bagues  de  la  Chine“ 
bezeichnet  werden.^) 

Die  westeuropäischen  Länder  haben  die  Godmiches 
von  den  Alten  kennen  gelernt.  Die  Aerzte  des  Mittelalters 
gedenken  bereits  dieser  Apparate.  In  dem  vom  Bischof 
Burchard  von  Worms  im  12.  Jahrhundert  verfassten 
Verzeichnisse  der  Kirchenstrafen  heisst  es:  „Fecisti  quod 
quaedam  umlieres  facere  solent,  ut  faceres  quoddam 
molimen  aut  machinamentum  in  modumvirilis 
membri,  ad  mensuram  tuae  voluntatis,  et  illud  loca 

L  ir.  Floss  und  M.  Bartels.  „Das  Weib  in  der  Natur- 
und  Völkerkunde“.  Leipzig  1899,  6.  Auflage  Bd.  I  S.  452. 

C.  J.  Web  er  „Demokritos“  Stuttgart  1868  Bd.  V  S.  288^ 
ibidem  S.  228. 


289 


verendorum  taorum,  aut  alterius,  cum  aliquibus  ligaturis 
colligare,  et  fornicationem  faceres  cum  aliis  mulierculis, 
vel  aliae  eodem  instrumento  sive  alio  tecum?‘‘^)  Aus 
dieser  Beschreibung  erhellt,  in  welcher  raffinirten  Weise 
schon  damals  die  Godmiches  zu  den  verschiedensten 
Zwecken  (Masturbation,  Coitus)  benutzt  wurden. 

In  der  Renaissance  wurden  hauptsächlich  von  Italien 
aus  solche  Apparate  der  Wollust  vertrieben  und  nament¬ 
lich  in  Frankreich  eingeführt.  „C’etait  PItalie  des  Borgia 
et  des  Medici,“  sagt  Dufour,  „qui  avait  enseigne  ä  la 
France,  toutes  ces  pratiques,  tous  ces  instruments,  tous 
ces  stimulants  de  Prostitution;  c’etait  la  cour,  qui  avait 
toujours  la  main  dans  ces  jeux  obscenes;  c’etait  eile  qui, 
ardente  ä  s’emparer  de  ces  innovations  impures,  lesaccreditait 
et  les  popularisait  dans  la  nation,  oü  il  ne  resta  bientöt 
plus  rien  de  la  vieille  candeur  gauloise.“^)  Katharina 
von  Medici  fand  einmal  nicht  weniger  als  vier  solche 
Bienfaiteurs  in  dem  Koffer  einer  ihrer  Hofdamen.^)  Im 
17.  Jahrhundert  wurden  in  Frankreich  Godmiches  aus 
Sammt  oder  Glas  benutzt.^)  Damals  wurde  an  denselben 
eine  raffinierte  Neuerung  angebracht,  welche  besonders 
im  18.  Jahrhundert  sich  grosser  Beliebtheit  erfreute. 
Das  war  die  Hinzufügung  eines  Sero  tum  artificial  e,  das 
mit  heisser  Milch  gefüllt  wurde,  und  dessen  Compression 
so  den  Akt  der  Ejaculation  vertauschen  sollte.  Schilder¬ 
ungen  solcher  Consolateurs  kommen  in  zahlreichen  Eroticis 
des  18.  Jahrhunderts  vor.  Auch  in  Deutschland  waren 

Floss  und  Bartels  a.  a.  0.  S.  453. 

2)  P.  Dufour  „Histoire  de  la  Prostitution“  Brüssel  1861 
Bd.  V  S.  251. 

ö)  ibidem. 

‘^)  „L’Ecole.des  filles“  Cologne  o.  J.  S.  126. 


19 


290 


diese  Werkzeuge  der  Wollust  nicht  unbekannt.  So  wurde 
anno  1701  Maria  Cillie  Jürgens  in  Hamburg  an¬ 
geklagt,  dass  sie  „durch  Gebraucbung  eines  dazu  ver¬ 
fertigten  Instruments  unnatürlich  und  sodomitisch“  mit 
Anna  Elisabeth  Buncken  geschlechtlioh  verkehrt 
hahe.^) 

In  England  scheinen  die  „Dildoes“  wie  sie  hier 
genannt  werden,  ebenfalls  seit  dem  18.  Jahrhundert  in 
grösseren  Mengen  vertrieben  worden  zu  sein.  JohnBee 
bemerkt,  dass  der  Name  ursprünglich  „Dil-dol“  gelautet 
habe,  und  dass  diese  Instrumente  früher  mehr  im  Gebrauche 
gewesen  seien  als  zu  seiner  Zeit  (1835.)^)  Nähere  Mit¬ 
teilungen  über  den  Handel  mit  Dildoes  im  18.  Jahrhundert 
macht  Arche nholtz.  Er  erzählt;  „Eine  Frau,  Namens 
Mrs.  Philipps,  bedient  sich  auch  dieses  Mittels,  um 
ihr  Waarenlager  bekannt  zu  machen,  das,  als  Magazin 
betrachtet,  das  einzige  seiner  Art  in  der  Welt  ist.  Es 
besteht  in  Waaren,  die  man  nirgends  öffentlich  verkauft, 
ja  die  nur  überhaupt  in  wenig  grossen  Städten  einzeln, 
und  in  allen  andern  gar  nicht  gefunden  werden ;  welche 
das  wollüstige  Italien  nicht  einmal  recht  kennt,  und  die 
eigentlich  nur  in  den  beiden  ausschweifungsvollen  Städten 
London  und  Paris  verfertigt  und  gebraucht  werden.  In 
der  letzten  Stadt  werden  sie  heimlich  in  den  Galanterie¬ 
läden  verkauft,  allein  in  London  hält  oben¬ 
gedachte  Frau  unweit  Leicester-Square 
davon  ein  eigenes  Waarenlager.“^) 


1)  C .  Trümmer  „Vorträge  über  Tortur,  Hexen  Ver¬ 
folgungen  u.  s.  w.“  Hamburg  1844  Bd.  I,  Heft  1  S.  81—82. 

2)  B  e  e  a.  a.  0.  S.  205. 

3)  Ar  ch  enholtz  „England“  Bd.  HI  S.  125. 


291 


Ryani)  erwähnt  den  Gebrauch  von  Godmiches  in 
Londoner  Bordellen  um  1840.  Nach  den  Angaben  eines 
neueren  Autors  werden  die  Dildoes  gegenwärtig  haupt¬ 
sächlich  von  den  Händlern  mit  erotischen  Schriften  ver¬ 
kauft.  Sie  kosten  gewöhnlich  2  Pfund  und  10  Schillinge, 
und  Averden  meist  aus  „India  rubber“  hergestellt.  Es 
giebt  davon  verschiedene  Arten,  so  eine,  die  von  zwei 
Weibern  zu  gleicher  Zeit  benutzt  werden  kann,  eine 
andere  mit  Vorrichtungen  für  mehrere  Orificia  corporis, 
eine  dritte  zur  Befestigung  am  —  Kinn  u.  s.  w.^) 

Auch  der  Aberglaube  scheint  bisweilen  eine  RoUe 
bei  der  Anwendung  dieser  Apparate  oder  ähnlicher  Dinge 
zu  spielen.  So  wird  in  einer  pornographischen  Schrift 
„Nunnery  tales;  or  Cruising  under  false  colours.  A  Tale 
of  Love  and  Lust“  (London  1866  — 1897,  3  Bände)  eine 
umständliche  Schilderung  (Bd.  I  S.  70)  von  der  Art  ge¬ 
geben,  in  welcher  bleichsüchtige  Mädchen  sich  durch  die 
Anwendung  des  Halses  eines  —  Truthahns  Erleichterung 
verschaffen. 

Ausführliche  Mitteilungen  über  den  heutigen  Gebrauch 
der  Dildoes  in  England  finden  sich  in  der  „Story  of  a 
Dildoe,  a  Tale  in  five  Tableaux“  (London  1880),  wo  drei 
junge  Mädchen  sich  durch  ihre  Putzmacherin  ein  solches 
Instrument  kommen  lassen.  Alle  Einzelheiten  des  Kaufes, 
der  Präparirung  des  Dildoe,  seines  Gebrauches  u.  s.  w. 
Averden  auf  das  genaueste  darin  beschrieben. 

Die  „Wonderful  and  Edifying  History  of  the  Origin 
of  the  Godmiche  or  Dildo,"  Avelche  am  Ende  einer  erotischen 


1)  Ryan  a.  a.  0.  S.  198  —  199. 

2)  „LoA^e  und  Safety“  S.  60. 

3)  ibidem  S.  56  und  S,  65. 


19* 


292 


Schrift  „The  School-fellows ;  or  Young  Ladies  Guide  tO' 
Love“  (London  ca.  1830)  ahgedruckt  ist,  ist  kein  Original,, 
sondern  Übersetzung  der  „L’histoire  merveilleuse  et  edifiante 
du  Godmiche“  im  zweiten  Teile  von  „L’Aretin  ou  la 
Debauche  de  l’esprit“  des  Abbe  Dulaurens  (Rom  1763- 
und  1768.)!) 


Die  Mittel  der  Verschönerungs  pflege 
(Kosmetica)  haben  in  England  von  jeher  eine  grosse 
Beachtung  gefunden.  Nach  W.  Roscher  ist  der  Luxus 
der  Reinlichkeit,  der  sich  mit  seinen  geistig  und 
körperlich  so  wohlthätigen  Folgen  eigentlich  nur  bei  wohl¬ 
habenden  und  hochkultivirten  Völkern  findet,  gegenwärtig 
in  England  aufs  höchste  entwickelt,  wo  z.  B.  die  Seifen¬ 
steuer  als  Besteuerung  eines  unentbehrlichen  Lebens¬ 
bedürfnisses  betrachtet  wird.^) 

Der  Gebrauch  der  warmen  und  kalten  Bäder  wurde 
wahrscheinlich  durch  die  Römer  in  Britannien  eingeführt. 
Archenholtz^)  meint,  dass  der  Kaiser  Alexander 
Severus,  der  sich,  wie  Lampridius  berichtet,  gern 
der  kalten  Bäder  bediente,  dieselben  in  England  ein¬ 
geführt  habe,  wo  er  sich  lange  aufhielt.  Die  Angelsachsen 
nahmen  dann  den  Gebrauch  von  den  Briten  an.  Warme 
Bäder  werden  oft  in  den  kirchlichen  Gesetzen  derselben 

0  Vergl.  über  die  heutige  Anwendung  von  Godmiche's  in 
Deutschland M  ol  1  „Die  konträre  Sexualempfindung“  3.  Auflage 
Berlin  1898  S.  549 — 550. 

2)  W.  Roscher  a.  a.  0.  S.  623;  ebenso  Archen hoitz. 
„England“  Bd.  III  S.  26. 

3)  Archenholtz  „England“  Bd.  III  S.  47. 


293 


erwähnt.  In  einem  solchen  aus  der  Zeit  des  Königs  Edgar 
werden  warme  Bäder  und  weiche  Betten  als  überflüssiger 
und  zur  Effemination  führender  häuslicher  Luxus  verboten.^) 

Im  Mittelalter  war  das  englische  Badewesen  ausser¬ 
ordentlich  entwickelt,  wo  die  Bäder  als  „Bagnios“  und 
„Hothouses“  vielfach  alsoffizielleBordelle  eingerichtet 
wurden  (Vergl.  Bd.  1  S.  240 — 242). 

Das  moderne  Badewesen  entspricht  im  allgemeinen 
dem  auf  dem  Kontinente.  Die  dort  angetroffenen  Aus¬ 
wüchse  desselben,  wie  sie  z.  B.  in  der  Verbindung  einer 
gewissen  Art  von  nicbtärzlicher  Massage  mit  heissen  Bädern 
beobachtet  werden,  sind  auch  in  England  nicht  unbekannt. 
Was  Fürst  Hermann  v.  Pückler-Muskau^)  über  die 
„orientalischen  Bäder  in  Brighton  berichtet,  scheint  mir 
wesentlich  hierher  zu  gehören.  Er  sagt:  „Nicht  weit  davon 
hat  ein  Indier  orientalische  Bäder  angelegt,  wo  man,  wie 
in  der  Türkei,  massirt  wird,  was  sehr  stärkend  und  gesund 
sein  soll,  auch  bei  der  vornehmen  Welt,  besonders  den 
Damen,  sehr  beliebt  ist.  Man  nennt  sie  Mahomets  Bäder. 
Ich  fand  das  Innere  indess  sehr  europäisch  eingerichtet. 
Die  Behandlung  gleicht  der  in  den  russischen  Dampf¬ 
bädern;  nur  finde  ich  sie  weniger  zweckmässig,  denn  man 
sitzt  in  einer  kühlen  Stube  auf  einem  erhöhten  Sessel, 
den  eine  Art  Palankin  von  Flanell  umgiebt,  und  nur  in 
diesen  kleinen  Baum  dringt,  aus  dem  Boden  auf¬ 
steigend,  ein  heisser  Kräuterdampf  hinein.  Die 
Flanellwand  hat  mehrere  Aermel,  die  nach  aussen 
herabhängen,  und  in  welche  der  Masseur  seine  Arme 

0  Thomas  Wright  „Domestic  manners  in  England 
during  the  middle  ages“  London  1862  S.  56. 

H.  V.  P  ü  ck  i  er- Muskau  „Briefe  eines  Verstorbenen“ 
Stuttgart  1831  Bd.  III  S.  349—350. 


294 


steckt,  und  mit  den  Händen  den  Körper  des  Badenden 
sanft  knetet.  Er  fährt  dann  mit  festem  und  stetem  Drucke 
des  Daumens  an  den  Gliedern,  am  Kückgrat,  den  Kippen 
und  über  den  Magen  vielmal  herab,  was  der  Organisation 
wohl  zu  thun  scheint.  Währenddem  transpirirt  man  so 
lange  und  so  stark  als  man  wünscht,  und  wird  zuletzt, 
bei  ahgenommenem  Deckel  des  Flanellzeltes,  mit  lauem 
Wasser  übergossen.  In  einem  englischen Eroticum,, The Loves 
of  Cleopatra,  or  Marc  Anthony  and  his  Concubines‘‘ 
badet  ein  alter  Wüstling  in  Wein,  um  die  nötige  Stärkung 
für  seine  geschlechtlichen  Orgien  zu  gewinnen,  und  bis¬ 
weilen  nimmt  er  auch  zu  demselben  Zwecke  ein  „magisclies 
Bad,  in  welchem  das  warme  Blut  einer  Jungfrau  verteilt 
war.‘‘ 

Der  Gebraueh  der  eigentlichen  Kosmetica  ist 
in  England  im  allgemeinen  weniger  verbreitet,  als  in 
anderen  Ländern,  insbesondere  den  romanischen.  Archen- 
holtz  bemerkt:  „Die  Engländerinnen  verlassen  sich  so 
sehr  auf  ihre  natürliche  Schönheit,  dass  sie  die  künstliche 
Erhöhung  derselben  oft  ganz  hintenansetzen.  Nur  bloss 
einige  Freudenmädchen  legen  Rot  auf.  Viele,  selbst  bei 
der  zierlichsten  Kleidung,  streuen  nie  Puder  in  ihre  Haare. 
Die  Reinlichkeit,  die  hier  in  allen  StücKen  in  einem  sehr 
hohen  Grade  herrscht,  erhöht  auch  die  natürlichen  Reize 
des  schönen  Geschlechts  nicht  wenig.“ 

Indessen  kannten  schon  die  keltischen  Bewohner 
Britanniens  gewisse  kosmetische  Mittel,  Haarwässer,  Schmin¬ 
ken  und  Haarfärbemittel^)  Nach  Wright  findet  man  in 
Gräbern  angelsächsischer  Frauen  ständig  kleine  Zangen, 


*)  Archenholtz  „England“  Bd.  HI  S.  72. 
2)  Traiil  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  114. 


295 


welche  offenbar  zum  Ausreissen  überflüssiger  Haare  ge¬ 
braucht  wurden.  Auch  bei  ihnen  war  die  Färbung  der 
Haare  bekannt.  Nach  der  dänischen  Invasion  waren  es 
besonders  die  Männer,  welche  ausgiebig  kosmetische  Mittel 
verwendeten^).  Erwähnenswert  ist  aus  späterer  Zeit  das 
Verdammungsurteil,  welches  Thomas  Morus  in  seiner 
„Utopia‘‘  über  die  Kosmetica  fällte.  Ebenso  sagt  Addison 
im  ,,SpectatoF‘ :  „Möchte  doch  das  schöne  Geschlecht 
bedenken,  wie  unmöglich  es  ihm  ist,  alles  zu  verschönern, 
was  bereits  das  Meisterstück  der  Natur  ist.  Der  Kopf 
hat  das  schönste  Ansehen  sowohl  als  den  höchsten  Platz 
in  der  menschlichen  Gestalt.  Die  Natur  hat  alle  ihre 
Kunst  darauf  verwandt,  das  Gesicht  zu  schmücken :  sie 
hat  es  mit  einem  zarten  Karmin  schattirt,  hat  eine  doppelte 
Keihe  von  Elfenbein  hineingesetzt,  es  zum  Sitz  des  Lächelns 
und  Errötens  gemacht,  es  durch  den  Glanz  der  Augen 
erleuchtet  und  belebt,  es  zu  jeder  Seite  mit  bewunderungs¬ 
würdigen  Gehörwerkzeugen  behängen,  und  es  mit  einem 
wallenden  Schatten  von  Haaren  umgeben,  welcher  alle 
seine  Schönheiten  ins  angenehmste  Licht  setzt;  kurz,  sie 
scheint  den  Kopf  gleichsam  zu  der  Kuppel  der  herrlichsten 
ihrer  Werke  bestimmt  zu  haben;  und  wenn  wir  ihn  mit 
solch  einem  Gerüst  von  überzähligen  Zierraten  überladen, 
so  zerstören  wir  die  Symmetrie  der  menschlichen  Bildung, 
und  erreichen  durch  unsere  Thorheit  weiter  nichts,  als 
dass  wir  das  Auge  von  grossen  und  wahren  Schönheiten 
abziehen.““) 

Nichtsdestoweniger  führte  das  Jahrhundert  der  Galan¬ 
terie  und  des  Raffinements  auch  zu  einer  Blütezeit  der 
Kosmetik  in  England. 

9  Wright  a.  a.  0.  S.  80. 

2)  „Auszug  des  Englischen  Zuschauers'‘,  nach  einer  neuen 
Uebersetzung  (von  Rami  er),  Berlin  1782  Bd.  II  S.  129-130. 


296 


Zahlreiche  parfümirte  Wässer  und  Seifen  wurden  aus 
Spanien,  Portugal,  Italien,  Frankreich  und  der  Türkei 
importirt.  Aber  auch  die  Windsor-  und  Bristolseifen 
waren  vielfach  im  Gehrauch,  ferner  die  berüchtigten 
„Washballs‘‘,  die  getährliche  Substanzen  wie  Bleiweiss, 
Quecksilber  u.  a.  enthielten^).  Besonders  gerühmt  wurde 
ein  dänisches  Kosmetikum,  ein  Mixtum  compositum  aus 
zahlreichen  Schönheitswässern  mit  Borax,  Essig,  Brod, 
Eiern  und  den  —  Köpfen  und  Flügeln  von  Tauben.  Durch 
seinen  Gebrauch  sollten  Damen  von  fünfzig  Jahren  die 
Frische  von  zwanzig  wiedererlangen. 

Neben  den  Schönheitswässern  kamen  im  18.  Jahr¬ 
hundert  für  die  Kosmetik  des  Gesichtes  vor  allem 
Schminke^)  und  P u d e r  in  Betracht.  —  Archen holtz^) 
berichtet:  „Obgleich  das  Frauenzimmer  in  keinem  Lande 
in  Europa  die  Schminke  leichter  entbehren  kann  als  das 
Englische,  so  nimmt  doch  das  Gesichtsfärhen  immer  mehr 
in  England  zu,  besonders  in  der  Hauptstadt,  wo  Weiber 
in  den  Häusern  herumkriechen,  um  den  hierin  unerfahrnen 
Damen,  Frauen  sowohl  als  Mädchen,  Unterricht  zu  geben. 

1)  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  82,  S.  83-84. 

2)  ibidem  Bd.  II  S.  83. 

3)  Th.  G.  V.  Hippel  sagt:  „Die  Schminke  ist  die  ab¬ 
scheulichste  Erfindung,  die  man  nur  nennen  kann,  weil  sie 
die  Schamröte  verdeckt,  die  nach  dem  Morgen-  und 
Abendröte  das  schönste  Rot  in  der  Welt  ist.  Die  Weissen 
sind  eben  darum  bei  weitem  schöner  als  die  Schwarzen;  und, 
in  Wahrheit,  wer  die  Schminke  erfand,  nahm  sich  vor,  denen 
einen  Dienst  zu  thun,  die  Mühe  haben  zu  erröten.  Die  Natur 
schreibt  Männergesichter  mit  Fraktur,  Weibergesichter  mit 
Kursivschrift;  die  Schminke  löscht  sie  aus,  und  man  fragt 
umsonst :  „w ess  ist  das  Bild  und  die  Überschrift?“ 
Über  die  Ehe,  Leipzig  (Reklam)  S.  198. 

4)  Archen holtz  „Annalen“  Bd.  VII  S.  348 — 349. 


297 


Ja,  man  las  in  diesem  Jahre  sogar  Anzeigen  in  den 
öffentlichen  Blättern,  worin  Weiber  sich  erboten,  to  keep 
Ladies’  faces  in  Order  by  the  year.“  Nach  Hüttner 
wurde  das  Auflegen  der  Schminke  von  den  Engländerinnen 
zu  einer  wahren  Meisterschaft  ausgebildet  und  stach 
wohlthuend  von  der  „Nachlässigkeit  der  Pariserinnen“ 
ab.  Ja,  diese  bewunderungswürdige  Kunst,  die  „Natur 
in  der  erborgten  Röte  ihrer  Wangen  so  viel  als  möglich 
nachzuahmen“,  trug  nach  Hüttner’s  Ansicht  sogar  viel 
dazu  bei,  ihre  Schönheit  zu  erhöhen.  Jede  erdenkliche 
Art  von  Rot  und  Weiss  und  von  Lippenpomade  wurde 
in  Anwendung  gezogen,  und  der  Toilettentisch  einer  Lady 
mit  seiner  „Holländischen  Nelke“,  „Bairischem  rotem 
Wasser“  für  die  Erzeugung  der  Röte,  sowie  mit  seinen 
chinesischen  Farben  bildete  ein  ganzes  chemisches  Labo¬ 
ratorium.  In  einem  Gedichte  aus  Austin  Dobson’s 
„Poems  of  the  18^^-  Century“  heisst  es: 

The  ladies  of  St.  James’s 
They’re  painted  to  the  eyes  1 
Their  white  it  stays  for  ever, 

Their  red  it  never  dies. 

The  ladies  of  St.  Janies’s 
They  are  so  tine  and  fair, 

You’d  think  a  box  of  essences 
A\"as  broken  in  the  air. 

Lord  Chesterfield  gab  Voltaire,  der  ihn  nach 
seiner  Meinung  über  den  Unterschied  der  Schönheit 
englischer  und  französischer  Damen  fragte,  zur  Antwort: 
„Ich  verstehe  mich  nicht  auf  Gemälde.“^) 


1)  Hüttner  a.  a.  0.  S.  45. 

2)  „Originalzüge  aus  dem  Charakter  Euglischer  Sonder¬ 
linge“.  Leipzig  1796  S.  14. 


298 


Das  Pudern,  welches  in  England  seit  dem  16.  Jahr¬ 
hundert  bekannt  war,  wurde  ebenfalls  während  des  ganzen 
18.  Jahrhunderts  bis  zum  Übermaass  getrieben.  1795 
wurde  eine  Steuer  auf  den  Puder  gelegt,  welche  das 
Volk  sehr  erbitterte.  Bis  Mitte  Juni  dieses  Jahres  hatten 
sich  schon  300000  Personen  gemeldet,  die  tür  das  Recht 
sich  ein  Jahr  lang  pudern  zu  können,  eine  Guinee  bezahlten. 
Andere  dagegen  entsagten  dem  Puder  für  ihre  Person, 
Hessen  aber  ihre  —  Hunde  oder  Pferde  pudern,  die  die 
Steuer  nicht  zu  bezahlen  brauchten.  Die  Steuer  hatte 
jedoch  den  wohlthätigen  Einfluss,  dass  sich  gegen  das 
übermässige  Pudern  eine  energische  Opposition  erhob, 
deren  Seele  der  Herzog  von  Bedford  war.  Archenholtz^) 
berichtet:  „Der  Herzog  von  Bedford  gab  zu  einer 

wunderbaren  Scene  Anlass;  er  veranstaltete  im  September 
(1795)  eine  Lustpartie  nach  der  Woburn-Abtei,  wohin  er 
sich,  begleitet  von  vielen  seiner  Freunde,  begab,  unter 
welchen  sich  der  Lord  W.  Russ  el,  Vi Ilers  und  Paget, 
die  Parlaments-Glieder  Mr.  Lambton,  Day,  Vernon 
und  andere  durch  Stand  und  Ansehen  ausgezeichnete 
Männer  befanden.  Hier  geschah  vor  der  ganzen  Gesell¬ 
schaft  unter  freiem  Himmel  die  feierliche  Ceremonie  des 
Puder-Auskämmens  und  Haar-Abschneidens.  Alle  Köpfe 
wurden  rund  abgestutzt,  und  sämmtliche  Parthiegenossen 
verbanden  sich  zu  einer  ansehnlichen  Geldhusse,  wenn 
jemand  von  ihnen  in  einer  bestimmten  Zeit  seine  Haare 
binden  oder  pudern  würde.  Dies  Beispiel  wurde  sehr 
bald  von  den  vornehmsten  Personen  in  den  Grafschaften 
Bedfordshire  und  Hampshire  befolgt,  wobei  die  Damen 


0  Archenboltz  „Annalen“  ßd.  XVI  S.  183 — 184. 
2)  ibidem  S.  184  — 185. 


299 


mit  den  Männern  zwar  nicht  in  Abschneiden  der  Haare, 
doch  in  Abschaöung  des  Puders  wetteiferten/^ 

Eine  besondere  kosmetische  Specialität  wurde  im  18. 
Jahrhundert  die  Handpflege,  Manicure,  die  sich  gewisser 
•Handwässer,  Handparfüme  und  der  Handschuhe  bediente, 
um  die  Hände  schön  weiss  zu  erhalten.  Miss  Bellamy 
erzählt  in  ihren  Memoiren,  dass  man  ihr  täglich  tausend 
lächerliche  Complimente  über  die  Weisse  ihrer  Hände 
machte,  welche  aber  nach  ihrer  Meinung  noch  nicht  das 
Ideal  erreichten.  Daher  war  sie  ständig  bemüht,  dieselben 
noch  weisser  zu  machen.  Sie  liess  sich  von  ihrer  Kammer¬ 
frau  sehr  enge,  präparirte  Handschuhe  über  die  Hände 
ziehen  und  ihre  Arme  an  der  Kückseite  des  Bettes  fest¬ 
binden.  Beim  Erwachen  waren  beide  Arme  vollständig 
gelähmt,  infolge  eines  anhaltenden  Druckes  auf  die  be¬ 
treffenden  Nerven.  Sie  musste  sich  zum  Zwecke  ihrer 
Heilung  einer  sehr  eingreifenden  Kur  unterziehen.^)  — 
Es  gab  auch  Specialisten  für  das  Beschneiden  der  Nägel. 
,,Vor  15  Jahren  (1772),“  erzählt  Archenholtz,  „befand 
sich  ein  Mann  in  London,  welcher  vorgab,  eine  besondere 
Methode  zu  wissen,  die  Nägel  an  den  Fingern  abzuschneiden, 
wodurch  sie  wohl  geformt  werden  und  überhaupt  dienen 
sollten,  schönen  Händen,  [diesem  so  anziehenden  Theile 
der  weiblichen  Schönheit,  einen  grösseren  Reiz  zu  geben. 
Die  englischen  Damen  waren  nicht  gleichgültig  gegen 
diesen  Antrag.  Der  Mann  war  den  ganzen  Tag  beschäftigt, 
bewohnte  ein  grosses  Haus  und  hielt  Equipage.  So  trieb 
er  dieses  Gewerbe  zwei  Jahre  lang,  gewann  sehr  viel  Geld 
und  verliess  dennoch  London  mit  3000  Pfund  Schulden.“ 

1)  Hill  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  84. 

2)  Miss  Bellamy  „Me'moires’‘  Bd.  II  S.  0 — 10. 

3)  Archenholtz  „England“  Bd.  I  S.  167. 


300 


Das  Parfiimiren  der  Handschuhe  war  bereits  um  1600 
in  England  bekannt  wo  der  Earl  of  Oxford  dasselbe  aus 
Italien  einführte.  Die  Universität  Cambridge  schenkte 
der  Königin  Elisabeth  ein  Paar  golddurch  wirkte, 
parfümirte  Handschuhe.  Doch  sollen  auch  schon  Heinrich 
VHI.  und  die  Königin  Maria  parfümirte  Handschuhe 
getragen  haben.  *) 

Unter  der  Kegierung  der  Königin  Anna  nahm 
überhaupt  der  Gebrauch  an  Parfümen  in  erschrecklicher 
Weise  zu.  Die  Parfümfabrikanten  wurden  reiche  Leute 
und  sogar  Gegenstand  besonderer  Aufmerksamkeit  von 
Seiten  der  Schriftsteller,  wie  denn  z.  B.  ein  solcher, 
Mr.  Charles  Lillie  im  Steele’s  „Tatler“  und  im 
„Spectator“  erwähnt  wurde.  Ein  Mr.  Payn,  der  seinen 
Laden  im  „Engel  und  Krone“  an  St.  Paul’s  Church  Yard, 
nahe  Cheapside,  hatte,  empfahl  seine  „unvergleichlichen 
parfümirten  Tropfen  für  Handtücher  und  anderes  Leinen¬ 
zeug,  Kleider,  Handschuhe  u.  s.  w.“,  die  nicht  fleckten, 
und  den  herrlichsten  Geruch  in  der  Natur  verbreiteten, 
ausserdem  ein  vortreffliches  Mittel  gegen  alle  Kopf-  und 
Gehirnleiden  seien.  „Durch  ihren  entzückenden  Geruch 
beleben  und  erfrischen  sie  alle  Sinne,  die  natürlichen, 
vitalen  und  animalischen  (sic),  beleben  die  Geister, 
erfreuen  das  Herz  und  vertreiben  die  Melancholie. 
Diese  wunderbaren  Tropfen  wurden  von  ihrem  Erflnder 
für  die  Parfümirung  des  ganzen  Körpers,  der  Kleidung, 
der  Zimmer,  Betten,  Schubladen,  Koffer  u.  s.  w.  an¬ 
gepriesen. 


0  G.  Hill  a.  a.  0.  Bd.  I  S.  201—202;  Bd.  I  S.  266. 
Malcolm  a.  a.  0.  Bd.  S.  240 — 241. 


301 


Was  die  Geschichte  der  Praeventiv-  und  Abor- 
tivmittel  in  England  betritft,  so  ist  vor  allem  als 
Prototyp  der  ersteren  der  Condom  zn  nennen,  jene  znm 
Bedecken  des  männlichen  Gliedes  vor  dem  Coitus 
benutzte  Hülle  aus  den  Blinddärmen  der  Lämmer,  aus 
Fischblasen,  aus  Kautschuk  u.  s.  w.,  welche  als  die  Er¬ 
findung  des  unter  Karl  II.  lebenden  englischen  Arztes 
Conton  gilt  und  sowohl  der  Verhütung  der  venerischen 
Ansteckung  als  auch  der  Verhinderung  der  Konzeption 
dient.  Nähere  Einzelheiten  über  den  Condom  finden  sich 
in  meinem  Werke  über  den  „Marquis  de  Sade“  (3.  Auf¬ 
lage  S.  229 — 231).  Trotz  eifriger  Nachforschungen  habe 
ich  über  die  Persönlichkeit  des  im  17.  Jahrhundert 
lebenden  Arztes  Conton  nichts  erfahren  können.  Schon 
im  16.  Jahrhundert  hatte  aber  der  Arzt  Fallopia 
Schutzhüllen  aus  Leinen  für  das  männliche  Glied  empfohlen, 
und  dass  auch  im  17.  Jahrhundert  ähnliche  Vorrichtungen 
in  Gebrauch  waren,  ersieht  man  aus  einer  Stelle  der  schon 
vor  der  Regierung  Karls  IL  im  Jahre  1655  erschienenen 
pornographischen  Schrift  „L’ecole  des  filles“,  wo  Suzanne 
der  Fanchon  erklärt,  dass  die  Männer,  um  eine  Schwän¬ 
gerung  des  Weibes  zu  verhindern,  „un  petit  linge“  über 
das  Glied  ziehen,  welches  den  Samen  aufnimmt.  Trotzdem 
würde  die  Verbesserung  jener  Hüllen  durch  die  Anwen¬ 
dung  tierischer  Membranen  möglicherweise  wirklich  dem 
oben  genannten  englischen  Arzte  zu  verdanken  sein,  der 
von  späteren  Schriftstellern  als  der  Erfinder  des  Condoms 
genannt  wird.  Auch  Casanova  spricht  von  den  ,, kleinen 
Vorsichtshüllen,  welche  die  Engländer  erfunden  haben, 
um  das  schöne  Geschlecht  gegen  Besorgnis  zu  sichern.“ 


b  Casanova’s  Memoiren  Bd.  XHI  S.  208. 


302 


Im  18.  Jahrhundert  waren  die  Condome  wenigstens 
allgemein  verbreitet,  auch  in  England.  Als  besondere 
englische  Spezialität  aus  neuerer  Zeit  erwähnt  Hector 
France  Condome  mit  —  dem  Porträt  Gladstone’s 
oder  sogar  noch  höher  gestellter  Personen.^) 

Mittel  zur  Verhütung  und  Beseitigung  der  Schwanger¬ 
schaft  sind  in  den  Ländern  der  angelsächsischen  Basse 
ausserordentlich  verbreitet.  New  York  ist  dafür  besonders 
berüchtigt.  Aber  auch  von  London  sagt  schon  ein  älterer 
Schriftsteller  ;  „Die  Besorgnis  einer  ungebetenen  Frucht¬ 
barkeit  beunruhigt  die  meisten  dieser  Demoiselles  wenig; 
solche  fatale  Zufälle  sind  in  den  höheren  Klassen  sehr 
selten  geworden,  und  leider  greift  die  Wissenschaft,  wie 
man  dem  zuvorkommt  oder  es  hindert,  auf  eine  schreck¬ 
bare  Weise  um  sich.  Es  giebt  schon  keine  junge  Miss 
mehr,  die  nicht  den  Namen,  Gebrauch  und  Quantität 
dieses  abscheulichen  Mittels  kenne.“ 

Aus  der  gleichen  Zeit  erwähnt  B  e  e  das  Wort  „Relieved“ 
als  einen  im  Volke  mit  verbreiteten  Terminus  technicus 
für  die  künstliche  Abtreibung  der  Leibesfrucht.  Schon 
damals  gab  es  solche  verbrecherischen  Annoncen  in  den 
Zeitungen.  Ein  gewisser  in  der  Gegend  der  St.  Pauls- 
Kathredrale  wohnender  White  übte  berufsmässig  das 
Herbeiführen  des  künstlichen  Abortes  aus.^)  Aus  neuerer 
Zeit  berichtet  Pisanus  Fraxi^)  über  die  grosse  Ver- 


L  Hector  France  „Les  Va-Nu-Pieds  de  Londres“ 
Paris  0.  J.  S.  65. 

2)  Santo  Domingo  „London  wie  es  ist“  Leipzig  1826 
S.  140—141. 

3)  John  Bee  a.  a.  0.  S.  212. 

4)  P.  Fraxi  „Index  librorum  prohibitorum“  London  1877 
S.  XXXVI. 


303 


breituiig  dieser  verbrecherischen  Praktiken  in  England, 
die  viel  grösser  sei  als  sie  die  gerichtlichen  Fälle  ver¬ 
muten  lassen.  Ein  Herr,  der  diese  Frage  gründlicli  unter¬ 
sucht  hatte,  schrieb  ihm:  „Ich  kenne  einen  Fall,  wo  das 
Mädchen,  welches  zu  dem  Operateur,  einem  Arzte  im 
Westend  ging,  im  Wartezimmer  bereits  sechs  oder  sieben 
junge  Frauen  antraf,  die  nach  einander  operiert  werden 
sollten.  Dasselbe  passierte  ihr  bei  zwei  anderen  Gelegen¬ 
heiten,  wo  sie  jenen  Arzt  in  Anspruch  nahm.  Es  waren 
hauptsächlich  Ballett-Mädchen  oder  andere  mit  dem  Theater 
in  Verbindung  stehende  Frauen.  Das  im  voraus  zahlbare 
Honorar  betrug  5  Pfund.“ 

Auch  innere  Abortivmittel  kommen  zur  Anwendung. 
Nach  Taylor  verwenden  die  Engländerinnen  hauptsächlich 
luniperus  Sabina,  die  Nadeln  des  Eibenbaumes,  ferner 
Eisensulfat  und  Eisenchlorid,  in  seltenen  Fällen  wohl  auch 
noch  Cantharideni).  Die  „Maiden — Pills“  eines  französischen 
Arztes  werden  vielfach  vertrieben,  ebenso  die  Apparate 
zur  Verhütung  der  Conception,  die  von  einem  amerikanischen 
Doktor  erfunden  sind.^) 

In  England  und  Amerika  sind  auch  Pessarien  als 
Präventivmittel  beliebt,  wirken  sogar  sehr  häufig  auch 
rein  mechanisch  als  Abortivmittel.  Die  „Transactions“ 
der  National  Medical  Association  für  1864  verzeichneten 
nicht  weniger  als  123  verschiedene  Formen  von  Pessarien, 
von  einem  „einfachen  Pfropfe  bis  zu  einer  Patentdresch¬ 
maschine,“  welche  letztere  nur  unter  der  grössten  Krinoline 
getragen  werden  konnte  und  wie  ein  Turbinwasserrad  aus¬ 
sah.  Drastisch  sagt  Dr.  W.  D.  Buck,^)  der  dies  mitteilt: 


1)  Floss  und  Bartels  „Das  Weib  u.  s.  w.“  Bd.  I  S.  764. 

2)  Re'ino  a.  a.  0.  S.  253. 

3)  New  York  Medical  Journal  Bd.  V  S.  464. 


304 


„Pessaries,  J  suppose,  are  sometimes  usefal,  but  them 
are  more  than  there  is  any  necessity  for.  J  do  think 
that  this  filling  the  vagina  with  such  traps,  making  a 
Chinese  toy-shop  of  it,  is  outrageous.  Hippocrates  said 
that  he  would  never  recommend  a  pessary  to  procure 
abortion  —  nay,  he  swore  he  never  would.  Were  he 
alive  now  he  would  never  recommend  one  at  all.  If  there 
were  fewer  abortions  theie  would  be  fewer  pessaries,  and 
if  there  were  fewer  pessaries  there  would  be  fewer  abortions. 
Our  grandmothers  never  knew  they  had  wombs  only  as 
they  were  reminded  of  it  by  the  struggles  of  a  healthy 
foetus;  which  by  the  by  they  always  held  on  to. 
Now-a-days,  even  our  joung  women  must  hove  their  wombs 
shored  up,  and  if  a  baby  accidentally  gets  in  by  the  side 
of  the  machinery,  and  finds  a  lodgment  in  the  uterus, 
it  may,  perchance,  have  a  knitting-needle  stuck  in  its 
eyes  before  it  has  any.“ 

Für  Frauen  und  Mädchen,  die  solche  verbrecherichen 
Mittel  scheuten  oder  bei  denen  sie  versagt  hatten,  gal> 
es  schon  im  18.  Jahrhunderte  Gelegenheitsorte  und  Ein¬ 
richtungen  für  heimliche  Entbindungen.  „Wir 
haben  hier  eine  Menge  Privathäuser,‘‘  sagt  Hüttner,^) 
„in  welchen  junge  Damen  unbemerkt  von  der  Welt  nieder¬ 
kommen  und  ihre  Bastarde  deponiren  können.  Fast  jede 
Zeitung  enthält  Ankündigungen  von  einem  oder  mehr 
Häusern  dieser  Art,  und  ihre  Eigentümer  sollen  sich  ganz 
gut  bei  diesem  ehrsamen  Geschäfte  stehen.“  Nähere 
Mitteilungen  über  diese  Einrichtungen  macht  Archen- 
holtz'^):  ,,Es  giebt  auch  Häuser  in  London,  wo  Frauen- 


L  Hüttner  a.  a.  0.  S.  180 — 181. 

2)  Archenholtz  „England“  Pd.  III  S.  124. 


305 


Zimmer  heimlich  entbunden  werden  können,  wobei  sie  mit 
aller  Bequemlichkeit  und  Pflege  versehen  werden.  Ihr 
Name  und  Stand  bleibt  nicht  allein  allen  sie  bedienenden 
Personen,  sondern  selbst  dem  Hausherrn  völlig  unbekannt, 
daher  die  Wöchnerin  deswegen  so  sicher  ist,  als  ob  die 
Entbindung  in  einem  andern  Königreich  geschehen  wäre, 
besonders  wenn  sie  dazu  ein  von  ihrer  Wohnung  sehr 
entlegenes  Haus  gewählt  hat.  —  Die  Lage  solcher  Häuser 
wird  teils  in  den  Zeitungen,  teils  durch  gedruckte  Zettel 
bekannt  gemacht,  die  auf  den  Strassen  ausgeteilt  werden.“ 

In  das  Kapitel  „Schwangerschaft“  gehören  auch  zwei 
interessante  Schriften  jener  Zeit. 

Die  eine  Schrift,  welche  John  Henry  Mauclerc 
zum  Verfasser  hat,  der  unter  dem  Pseudonym  „Jakob 
Blondel“  schrieb,  ist  epochemachend  in  der  Geschichte 
der  Lehre  vom  sogenannten  „Versehen“  der  Frauen, 
welche  Mauclerc  in  seiner  1727  erschienenen  Abhand¬ 
lung  über  die  Einbildungskraft  der  schwangeren  Weiber i) 
einer  ausgezeichneten  Kritik  unterzog,  so  dass  nur  noch 
sehr  wenig  Thatsächliches  von  diesem  uralten  Glauben 
übrig  blieb. 

Die  zweite  Schrift  ist  eine  offenbar  auf  den  in  jener 
Zeit  zwischen  Albrecht  v.  Haller  und  Caspar 
Friedrich  Wolff  entstandenen  Streit  über  die  ver¬ 
schiedenen  Zeugungstheorien  Bezug  nehmende,  sehr 
ergötzliche  Satire  des  Sir  John  Hill  (oder  nach  dem 

0  Deutsche  Übersetzung:  „Drey  merkwürdige  physi¬ 
kalische  Abhandlungen  von  der  Einbildungskraft  der  schwan¬ 
geren  Weiber  und  derselben  Wirkung  auf  ihre  Leibesfrucht^*” 
Strassburg  1756,  8®. 

2)  Näheres  siehe  bei  G.  v.  Weisenburg  „Das  Versehen 
der  Frauen“  Leipzig  1899  S.  54 — 63. 


20 


306 


Bibliographen  Lowndes  des  F.  Coventry).  Der  Titel 
derselben  kennzeichnet  zur  Genüge  den  Inhalt.  Er  lautet 
in  der  deutschen  Ausgabe :  „Lucinasine  concubitu, 
d.  i.  ein  Brief  an  die  königliche  Sozietät  der  Wissen¬ 
schaften,  worin  auf  eine  unwidersprechliche  Art,  sowohl 
aus  der  Vernunft  als  aus  der  Erfahrung  bewiesen,  dass 
ein  Frauenzimmer  ohne  Zuthun  eines  Mannes  schwanger 
werden  und  ein  Kind  zur  Welt  bringen  könne.“  (Frank¬ 
furt  und  Leipzig  1751,  8  0).  Hiergegen  schrieb  wieder 
Eichard  Koe  eine  zweite  Satire,  betitelt  nach  der 
französischen  Ausgabe  von  Combes:  „Concubitus  ^sine 
Lucina,  ou  le  Plaisir  sans  peine.  Eeponse  ä  la  lettre: 
Lucina  sine  concubitu“  (Londres  1752,  8^;  später  auch 
von  M e r c i e r  de  C 0 m p i e g n e  unter  dem  Titel  „Lucine 
affranchie  des  lois  de  concours“,  Paris  1799,  übersetzt).^) 


Krankheiten  der  Geschlechtsteile  werden 
schon  in  den  mittel-englischen  Arzneibüchern  erwähnt. 
Es  werden  aber  vor  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  nur  rein 
örtliche  Leiden  genannt,  Geschwüre  und  eitrige  Aus¬ 
flüsse,  welche  meist  mit  dem  gemeinschaftlichen  Namen 
„burning“  oder  „brenning“  (Brennen)  bezeichnet  werden. 
Die  Lustseuche,  Syphilis  wurde  erst  1496  in  Eng¬ 
land  eingeschleppt,  wahrscheinlich  durch  englische  Söldner, 
die  unter  Karl  VIII.  anno  1495  in  Italien  kämpften. 

1)  Bibliographisches  giebt  11.  Hayn  „Bibliotheca  Germa- 
norum  gynaecologica  et  cosmetica“  Leipzig  1886  S.  73.  — 
Über  die  Geschichte  der  Geburtshülfe  in  England  vergl.  Teil  I 
dieses  Werkes  S.  108—110. 


307 


Man  nannte  die  neue  Krankheit  „Spanish  Pocks“,  später 
^,French  Pocks“,  in  Bristol  ,, Morbus  Burdigalensis‘‘,  weil 
sie  dort  1498  von  Bordeaux  eingeschleppt  worden  wari). 
Die  Irrlehre  von  der  Identität  sämtlicher  venerischer 
Krankheiten  wurde  im  18.  Jahrhundert  recht  eigentlich 
in  England  befestigt,  durch  die  berühmten  Experimente 
John  Hunter’s,  der  jedem  Besucher  Londons  durch 
das  nach  ihm  benannte  ,, Hunter-Museum“  bekannt  ist. 
Erst  Ei  cord ’s  scharfsinnigen  Experimenten  gelang  der 
Beweis,  dass  die  Syphilis  eine  von  den  lokalen  venerischen 
Leiden  toto  coelo  verschiedene  Krankheit  ist.-) 

Bei  den  frühzeitigen  ausgedehnten  Handelsbeziehungen 
der  Engländer  mussten  naturgemäss  auch  die  venerischen 
Krankheiten  eine  ausserordentliche  Verbreitung  erlangen, 
zumal  da  schon  seit  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
London  die  am  meisten  von  Ausländern  aufgesuchte  Stadt 
der  Welt  wurde.  In  einem  alten  1749  erschienenen 
Werke  „Satan’s  Harvest  Home,  or  the  Present  State  of 
Whorecraft,  Adultery,  Fornication  etc.“  heisst  es:  „Das 
grösste  Obel,  welches  die  Prostitution  begleitet  und  die 
Menschheit  befallen  konnte,  ist  die  Verbreitung  jener 
infectiösen  Krankheit,  die  man  „französische  Pocken“ 
nennt  und  die  seit  zwei  Jahrhunderten  so  unglaubliche 
Yerwüstungen  in  ganz  Europa  angerichtet  hat.  In  diesen 
Königreichen  verfehlt  sie  so  selten  die  Hurerei,  die  man 
heutzutage  Galanterie  und  feines  Benehmen  nennt,  zu 
begleiten,  dass  eine  gesunde  robuste  Constitution  für  ein 

L  Vergl.  J.  Bloch  „Der  Ursprung  der  Syphilis.  Eine 
-medizinische  und  kulturgeschichtliche  Untersuchung“.  Jena 
1901  Bd.  I.  S.  276. 

2)  Vergl.  über  H  u  n  t  e  r ’s  Experimente  E.  Lang  „Vorle- 

■sungen  über  Syphilis.“  2.  Aufl.  Wiesbaden  1896  S.  34 — 39. 

20*^ 


308 


Zeichen  von  schlechter  Erziehung  und  Unfeinheit  gilt  und 
man  auf  einen  gesunden  jungen  Burschen  blickt,  als  ob 
er  sein  Leben  in  einer  Bauernhütte  zugebracht  hätte.  .  .  . 
Unser  Adel  scheint  sich  im  allgemeinen  durch  eine¬ 
schlechte  Gesundheit  auszuzeichnen,  aller  Wahrscheinlich¬ 
keit  nach  eine  Wirkung  dieser  verderblichen  Krankheit. 
Männer  teilen  sie  ihren  Frauen,  Frauen  ihren  Gatten, 
oder  sogar  ihren  Kindern  mit;  diese  ihren  Ammen  und 
die  Ammen  wieder  andern  Kindern,  so  dass  kein  Alter, 
kein  Geschlechto  der  Stand  ganz  frei  von  diesem  Leiden  ist“.^) 
Dass  die  Syphilis  in  der  vornehmen  englischen  Gesellschaft 
des  18.  Jahrhunderts  überaus  verbreitet  war,  bestätigt  auch 
der  Verfasser  der  „Serails  de  Londres“.^)  Auch  von  den 
Ausländern  wurde  London  in  dieser  Beziehung  sehr  ge¬ 
fürchtet.  Schütz^)  berichtet:  „Die  Krankheiten,  denen 
Ausländer  nach  einem  Aufenthalte  von  mehreren  Monaten 
in  London  zuweilen  unterworfen  sind,  können  auch  hier¬ 
von  keinen  Beweis  abgeben;  denn  wenn  diese  Herren 
uns  nur  aufrichtig  mit  ihrer  Lebensart  bekannt  machen 
wollten,  würden  wir  bald  finden,  dass  die  sinnlichen  Ver- 
gnügungen,  für  deren  Befriedigung  so  reichlich  in  London 
gesorgt  wird,  mehreren  Anteil  an  den  Krankheiten  der 
Ausländer  haben  als  das  so  gemässigte  Klima“. 

Wenn  in  Gay’s  „Beggars  Opera‘‘  die  Bordellwirtin 
Mrs.  Trapes  sich  beklagt  „elf  feine  Kunden  jetzt  unter 
den  Händen  des  Wundarztes  zu  haben “^),  so  trafen  andere 
Bordellbesitzerionen  bessere  Vorsich  tsmassregeln  zum 


L  „Satan’s  Harvest  Home:  or  tbe  Present  State  of  Whore- 
cratt,  Adiiltery,  Fornication,  Procuring,  Pimping  etc.“  London 
1749  S.  31. 

„Serails  de  Londres“  S.  213.  . 

S  cliütz  a.  a.  0.  S.  69.  • 

‘^)  Taine  a,  a.  0.  Bd.  II  S.  209. 


309 


Schutze  der  Gesundheit  ihrer  Klientel,  indem  sie  wie 
z.  B.  die  berühmte  Mrs.  Goadby  einen  Arzt  hielten, 
•der  die  Gesundheit  der  Mädchen  vor  deren  Aufnahme 
ins  Bordell  feststellen  und  jede  in  dieser  Beziehung 
Zweifelhafte  abweisen  musste.^)  Nach  Girtann er  wurde 
es  sogar  in  London  „unter  ausschweifenden  jungen  Leuten 
Mode,  in  einer  kleinen  Schachtel  beständig  ein  Stückchen 
Speck  bei  sich  zu  führen,  um  im  Notfälle  sich  desselben 
zu  bedienen,  und  die  Eichel  vor  dem  Beischlaf  damit 
einschmieren  zu  können“.^) 

Sogar  das  alte  Motiv  der  Übertragung  einer  venerischen 
Krankheit  aus  Rache  taucht  auch  hier  bisweilen  auf. 
Ein  Edelmann  erzählte  der  Kupplerin  Charlotte  Hayes, 
dass  er  mit  einem  Rivalen  in  der  Liebe  seiner  Gattin 
gewettet  habe,  dass  letzterer  binnen  einem  Monate  die 
Syphilis  acquiriren  werde,  und  ersuchte  die  Hayes  ihm 
ein  syphilitisches  Mädchen  zu  verschaffen,  durch  welches 
er  sich  an  seinem  Nebenbuhler  rächen  wolle.  Die 
Hayes  lieferte  ihm  für  30  Pfund  ein  solches  Mädchen,' 
das  dann  den  Betreffenden  auch  wirklich  inficirte.^) 

Erschreckend  war  auch  bis  in  die  Mitte  des  19,  Jahr¬ 
hunderts  die  Verbreitung  der  Syphilis  unter  Kindern. 
Wenn  Ryan  konstatirt,  dass  die  Bordelle  alljährlich  ca. 
100000  Besuche  von  Knaben  empfingen,^)  so  dürfen 
wir  uns  nicht  darüber  wundern,  dass  während  der  Jahre 
1827 — 1835  nicht  weniger  als  2700  Fälle  von  venerischen 
Krankheiten  bei  Kindern  im  Alter  von  11  bis  16  Jahren 


9  „Serails  de  Londres“  S.  12. 

2)  Christoph  Girtann  er  „Abhandlung  über  die 
venerische  Krankheit“  Göttingen  1788  Bd.  I  S.  275. 

3)  „Se'rails  de  Londres“  S.  20—21. 

Ryan  „Prostitution  in  London“  S.  186. 


310 


vorkamen.  Logan,  der  dies  feststellte,  bemerkt:  „In: 
einem  unserer  Hospitäler  traf  ich  fünf  kleine  Mädchen^ 
die  an  einem  schändlichen  Uebel  litten,  im  Alter  von 
13,  von  12,  11,  9  und  8  Jahren.  Die  Mutter  der  letzteren 
litt  ebenfalls  an  derselben  Krankheit.  Drei  dieser  Mädchen 
waren  im  Hause  ihrer  Mutter  und  zwar  nicht  durch  Kinder 
verführt  worden.“^)  Es  giebt  in  London  sogar  besondere 
Krankenheime  für  solche  jugendlichen  Prostituirten,  wO' 
venerische  Kinder  im  Alter  von  10  bis  14  Jahren  verpflegt 
werden.  Unter  den  Hospitälern  für  venerische  Krankheiten 
ist  besonders  bekannt  das  Lock  Hospital  am  Harrow 
Koad,  das  bereits  1746  gegründet  wurde.  Mitteilungen 
über  die  Zahl  der  in  diesem  und  in  anderen  Hospitälern 
behandelten  Personen  macht  Lecour  in  seinem  Werke^ 
über  die  Prostitution  in  Paris  und  London.^)  Nach  Ky an 
wurden  von  Januar  1747  bis  März  1836  44973  venerische 
Kranke  ins  Lock  Hospital  aufgenommen. 

In  den  letzten  Decennien  des  19.  Jahrhunderts  war 
die  Verbreitung  der  venerischen  Krankheiten  in  London  und 
den  englischen  Hafenstädten  eine  so  grosse  geworden,  dass 
sogar  sogenannte  „Gesundheitsbureaux“  zar  Beschaffung 
gesunder  Prostituirter  eingerichtet  wurden,  denen  von  den 
untersuchenden  Aerzten  diesbezügliche  Atteste  ausgestellt 
wurden."*) 

Dass  England  durch  seinen  ungeheuren  überseeischen 
Verkehr  und  durch  sein  über  die  ganze  Erde  sich  aus- 

0  Ryan  a.  a.  0.  S.  120;  France  „Va-nu-pieds“  S.  40. 

C.  J.  Lecour  „La  Prostitution  ä  Paris  et  ä  Londres“- 
Zeme  edit.  Paris  1882  S.  270  ff. 

Ryan  a.  a.  0.  S.  186. 

“i)  Lecour  a.  a.  0.  S.  273;  A.  Blaschko  „Syphilis  und 
Prostitution“  Berlin  1893  S.  147. 


311 


dehnendes  Kolonialreich  gegenwärtig  der  Hauptherd  der 
venerischen  Ansteckung  ist  and  am  meisten  die  Geschlechts¬ 
krankheiten  verbreitet,  hat  bereits  Jeannel  hervorge-' 
hoben, und  bestätigt  Tarnowsky.'-^) 

Es  scheint  aber,  dass  in  der  allerletzten  Zeit  diese 
Verhältnisse  sich  gebessert  haben,  da  wohl  infolge  einer 
günstigeren  Gestaltung  der  sozialen  Zustände  und  infolge 
der  Aufklärung  des  Volkes  über  die  Gefahren  und  Folgen 
venerischer  Leiden  die  Zahl  der  an  Syphilis  erkrankten 
Personen  in  England  bedeutend  zurückgegangen  ist,^)  wie 
denn  auch  gegenwärtig  bei  den  unverheirateten  Engländern 
eine  grosse  Scheu  vor  der  regellosen  ausserehelichen 
Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  besteht  und  das  früh¬ 
zeitige  Heiraten  wieder  mehr  auf  kommt. 


Von  grossem  Interesse  ist  die  Geschichte  der  Kur¬ 
pfuscherei  auf  sexuellem  Gebiete  in  England. 

Die  Kurpfuscherei,  die  ja,  wie  schon  der  alte  saler- 
nitanische  Vers:  Fingit  se  medicum  quivis  idiota  profanus 
bezeugt,  ein  allgemeines  Uebel  des  Menschengeschlechtes 
ist,  hat  in  keinem  zivilisirten  Lande  so  günstige  Existenz- 
und  Vermehrungsbedingungen  gefunden,  wie  in  England. 


J.  Jeannel  „Die  Prostitution  in  den  grossen  Städten 
im  neunzehnten  Jahrhundert“  deutsch  von  Fr.  \V.  M  ü  1 1  e  r 
Erlangen  1869  S.  90 — 91. 

2)  ß.  T  a  r  n  0  w  s  k  y  „Prostitution  und  Abolitionismus“ 
Hamburg  1890  S.  214. 

3)  A.  Blaschko  „Hygiene  der  Prostitution  und  der  veneri¬ 
schen  Krankheiten“  Jena  1900  S.  69 — 72. 


—  312 


Samuel  Johnson  meinte,  dass  die  Ursache  dieses  ausser¬ 
ordentlichen  Gedeihens  der  Quacksalber  in  England  auf 
dem  Umstande  beruhe,  dass  neun  Zehntel  seiner  Ein¬ 
wohner  Narren  wären,  was  medizinische  Angelegenheiten 
beträfe  J) 

Gemäss  dem  bekannten  Worte,  dass  Hunger  und 
Liebe  die  Welt  regieren,  hat  sich  auch  die  Kurpfuscherei 
von  jeher  den  Gebieten  der  Verdauungskrankheiten  und 
der  Geschlechtsleiden  mit  Vorliebe  zugewendet  und  be¬ 
sonders  auf  letzterem  erstaunliche  Leistungen  hervorge¬ 
bracht,  welche  vielleicht  die  lehrreichsten  Aufschlüsse 
darüber  geben,  wie  weit  menschliche  Narrheit,  Verworfenheit 
und  Aberglauben  gehen.  Wenn  man  die  Geschichte  der 
Kurpfuscherei  und  medicinischen  Charlatanerie  aller  Zeiten 
und  Völker  betrachtet,  ergiebt  sich  auf  eine  unwiderleg¬ 
bare  Weise  die  Richtigkeit  der  Gleichung  „Kurpfuscherei  = 
Verbreitung  des  geschlechtlichen  Lasters  und  der  Un¬ 
sittlichkeit.“  Diese  Beziehungen  der  Kurpfuscherei  zu 
dem  Geschlechtsleben  und  den  geschlechtlichen  Verbrechen 
hat  neuerdings  Dr.  C.  Reissig  in  seiner  interessanten 
Schrift  über  „Medicinische  Wissenschaft  und  Kurpfuscherei“ 
sehr  drastisch  beleuchtet.^) 


1)  A.  Müliry  „Darstellungen  und  Ansichten  zur  Ver¬ 
gleichung  der  Medizin  in  Frankreich,  England  und  Deutsch¬ 
land“  Hannover  1836  S.  148. 

2)  C.  Reissig  „Medicinische  Wissenschaft  und  Kur¬ 
pfuscherei“  Leipzig  1900  S.  114  ff.  —  Er  verweist  besonders 
auf  das  „entsittlichende  Treiben  vieler  Magnetiseure,  Laien¬ 
hypnotiseure  und  ähnlicher  Leute,  die  unter  dem  Deckmantel 
von  Helfern  der  Kranken  allerlei  unsittliche  Gelüste 
befriedigen“  und  teilt  dafür  sehr  charakteristische  Bei¬ 
spiele  mit.  Polizeiliche  Ermittelungen  haben  ergeben,  dass 
zahlreiche  Masseusen  und  männliche  Pfuscher,  die  „diskrete 
Frauenkrankheiten“  behandeln,  sich  mit  Kindsabtreibungen, 


313 


In  England  hat  die  sexuelle  Kurpfuscherei  von  jeher 
ganz  besonders  geblüht  und  ihren  Vertretern  reichste 
Früchte  getragen.  Im  frühen  Mittelalter  waren  besonders 
„heilkundige  Frauen“,  „Kräuterweiber“,  „Hexen“  u.  a. 
auf  diesem  Gebiete  thätig,  während  bis  zur  Keformation 
die  männlichen  Quacksalber  eine  relativ  seltene  Erschei¬ 
nung  waren. Jedoch  tauchte  zur  Zeit  Eduards  IV. 
sogar  schon  ein  „Gesundbeter“  namens  Grig  auf,  der  aber 
für  diese  zweideutige  Thätigkeit  an  den  Pranger  kam  und 
rücklings  auf  einem  Pferde  sitzend  durch  die  City  reiten 
musste.  Auch  Heinrich  VHI.  ging  überaus  scharf 
gegen  die  Kurpfuscher  vor.  Zu  seiner  Zeit  durchzog 
„Merry  Andrew“  d.  i.  A  ndrew  Borde,  ein  sehr  witziger 
und  gelehrter  Charlatan,  von  seinen  Dienern  begleitet, 
das  Land  und  hielt  sehr  originelle  Reden  an  die  stets 
zahlreich  herbeiströmenden  Gaffer,  worauf  er  unter  lautem 
Beifall  des  Pöbels  seine  Wunderkuren  coram  publico  ver¬ 
richtete.^)  ln  der  1678  veröffentlichten  „Quack’s  Academy, 
or  the  Dunce’s  Directory“  wird  eine  sehr  humoristische 

Verkuj)pelungen,  künstlicher  geschlechtlicher 
Erregung,  Verschaffung  des  Menschenmaterials 
zur  Befriedigung  perverser  Gelüste  befassen.  —  In 
einem  Artikel  „Durchlauchtigste  Kurpfuscherei“  im  „Aerztlichen 
Vereinsblatt  No.  418,  August  1900,  berichtet  Dr.  Reissig,  dass 
es  „Ihrer  Durchlaucht  der  Prinzessin  Maria  von  Rohan  in 
Salzburg“  als  eine  heilige  Pflicht  erscheint,  dem  Tischler  (!) 
Kühne  in  Leipzig  unterm  9.  November  1889  zu  bezeugen, 
dass  seine  Geschlechtsreibebäder  (!)  „von  unschätzbarem  Werte 
und  wunderbarer  Wirkung  gewesen  sind“  und  „den  Aerzten 
die  genaueste  Prüfung  dieser  neuen  Heilmethode  zu  em¬ 
pfehlen  sei.“ 

J.  C.  Jeaffreson  „  A  Book’ about  Doctors“  London. 
0.  J.  S.  52. 

2)  „Döings  in  London“  S.  172—173. 


314 


Aufzählung  der  Requisiten  und  Hülfsmittel  eines  Quack¬ 
salbers  gegeben  und  u.  a.  ihm  auch  empfohlen,  fleissig 
die  „Ale-Houses“  zu  besuchen  und  mit  den  „nurses  and 
midvvives“  der  Stadt  Beziehungen  anzuknüpfen,  besonders 
aber  stets  „beredt  und  unverschämt“  zu  seinA)  Der  be¬ 
rühmteste  Chalatan  aus  der  Zeit  Karls  II.  war  Thomas 
S  aff  old,  ein  Weber,  der  aber  behauptete,  alle  Krank¬ 
heiten  heilen  und  ausserdem  wahrsagen  zu  können.  Durch 
ihn  wurde  das  seitdem  bei  den  englischen  Kurpfuschern 
so  beliebt  gewordene  System  der  Verteilung  von  Zetteln 
an  die  Passanten  eingeführt.  Er  stellte  in  Cheapside, 
Fleet  Street,  am  Strand  und  selbst  in  den  geheiligten 
Bezirken  von  Whitehall  und  St.  James^s  Leute  auf,  die 
den  Vorübergehenden  mit  Poesie  oder  Prosa  bedruckte 
Zettel  in  die  Hand  drückten.  Die  Verse  machte  er  selber. 
Ein  satyrisches  Gedicht,  dass  nach  seinem  am  12.  Mai 
1691  erfolgten  Tode,  erschien,  beleuchtet  durch  folgende 
Verse  seine  besonders  dem  schönen  Geschlechte  zugewen¬ 
dete  anrüchige  Thätigkeit: 

„Lament,  ye  damseis  of  our  London  city, 

(Poor  unprovided  girls)  tho’  fair  and  witty, 

Who,  maskt,  would  to  this  house  in  couples  come ; 

To  understand  your  matrimonial  doom; 

To  know  what  kind  of  men  you  were  to  marry. 

And  how  long  time,  poor  things,  you  were  to  tarry.“ 

Zur  Zeit  der  Königin  Anna  erfand  Paul  Cham¬ 
ber  len  ein  „Halsband“  gegen  schwere  Geburten,^)  ein 
anderer  Charlatan  empfahl  zu  demselben  Zwecke  sein 
„Unicorn’s  Horn  Powder“,  wodurch  er  mehreren  Frauen 

-  t 

Jeaffreson  a.  a.  0.  S.  53—54. 

2)  ibidem  S.  56. 

2)  Vergl.  „Biographisches  Lexikon  hervorragender  Arzte“ 
von  x4.  Hirsch  und  E.  Gurlt,  Wien  1884.  Bd.  I  S.  697. 


315 


das  Leben  gerettet  haben  wollte,  die  nicht  gebären  konnten, 
bevor  sie  nicht  sein  „Pulver“  genommen  hatten.^)  Im 
jjTatlei“’  No.  240  vom  21.  Oktober  1710  wird  bereits 
das  Treiben  der  Kurpfuscher  mit  ihren  Zettelverteilungen 
sehr  anschaulich  geschildert.  Ebenso  geisselt  Ned  Ward 
in  seiner  am  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts  erschienenen 
,,History  of  London  Clubs“  die  gemeingefährlichen  Prak¬ 
tiken  der  Quacksalber: 

Biit  banefiil,  Quacks,  in  Pliysick’s  Art  unread, 

To  Weaving,  Cobling,  or  Tumbling  bred, 

Or  eise  poor  Scoundrels,  wlio  for  Scraps,  Thanks 
Swept  Stages  for  their  Master  Mountebanks. 

These  to  the  AVorld  destructive  Slops  cominend 
And  do  their  poys’nous  Cheats  to  life  extend, 

By  vain  pretences  pick  the  Patient’s  Purse 

And  with  sham  Med’cines  make  ’em  ten  times  worse. 

Um  1730  „heilte‘^  ein  gewisser  Joshua  Ward  mit 
seinen  wunderbaren  „Tropfen“  alle  Krankheiten,  vertrieb 
mit  denselben  selbst  die  übermässige  Geilheit  alter  Lebe¬ 
männer  und  stellte  damit  die  verloren  gegangene  Keusch¬ 
heit  junger  Mädchen  wieder  her.‘Q 

Die  eigentliche  weder  früher  noch  später  wieder 
erreichte  Blütezeit  des  Kurpfuschertums  in  England  war 
die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  das  Zeitalter  der 
„Aufklärung“,  welches  aber  gerade  jeder  Art  von  Aber¬ 
glauben,  Magie,  von  ärztlichem  Betrug  und  Schwindel 
überaus  günstig  war.^)  „Der  Arzt,“  sagt  C.  J.  Weber, 
„der  mit  offenen  Augen  und  mit  den  Augen  geübten 


1)  H.  Sampson  „A.  History  of  Advertising“  London. 
1874.  S.  S85. 

2)  Vergl,  „Gentleinan’s  Magazine‘'  vom  Juli  1734. 

Vergl.  darüber  Kuno  Fischer  „Schiller  als  Philosoph^ 

2.  Auflage,  Heidelberg  1891  Bd.  I  S.  97 — 105. 


316 


Verstandes  so  oft  im  Finstern  tappen  musste,  hört  nun 
von  Anschauungen  aus  der  Magengrube,  von  Manipuliren 
der  Schenkel,  Weichen  und  Busen,  das  von  einer  Manns¬ 
hand  weit  kräftiger  wirkt  als  von  der  Hand  eines  Weibes; 
er  hört  von  Hellsehen  mit  verschlossenen  Augen,  von 
selbstverschriebenen  Arzeneien  und  ihren  Wundern,  von 
Desorganisation  und  Eltstasen,  die  den  Nervenkranken 
mit  der  ganzen  Natur  in  Verbindung  setzen  und  mit  dem 
Keiche  der  Geister.“^) 

Das  Treiben  der  Pfuscher  um  jene  Zeit  schildert 
V.  Schütz^)  sehr  anschaulich.  ,, Wer  Pillen  oder  Pulver 
verkauft,  nennt  sich  öffentlich  Doktor,  ohne  um  eine 
Promotion  von  irgend  jemand  befragt  zu  werden.  Viele 
solcher  Doktoren  halten  öffentliche  Medicinläden,  ohne  dass 
deren  Arzneien  einer  Prüfung  unterworfen  sind.  Jeder 
Apotheker  hat  das  Recht,  als  Arzt  zu  heilen  und  thut  es 
auch.  Eine  Menge  Deutscher,  Holländer  und  Franzosen, 
die  nichts  gelernt  haben  und  im  V^aterlande  keinen  Brod- 
erwerb  finden,  wenden  sich  nach  London  und  morden 
ihre  Nebenmenschen  nach  Belieben.  Sie  nennen  sich  nicht 
nur  Doktoren,  sondern  fügen  auch  diesem  Titel  oft  noch 
seltsame  Prädikate  hinzu  als  z.  B.  praktizierender 
Arzt  von  ganz  Frankreich,  von  Holland  und 
dergleichen,  oder :  Leibarzt  der  angesehensten 
Fürsten  des  römischen  Reichs  u.  s.  w.  Diese 
Herren  machen  äusserlicli  viel  Aufwand  und  kurieren  teils 
in,  teils  ausser  dem  Hause.  In  allen  Strassen,  an  der 
Börse  und  Kaffeehäusern  stehen  Männer  und  Weiber  (oft 
auch  dieser  Doktoren  ihre  Livereibedienten),  teilen  Medicin- 

1)  C.  J.  Weber  .,Demokritos“  Stuttgart  1862  Bd.  HI 
S.  166. 

-)  v.  Schütz  a.  a.  0.  S.  22 — 24. 


317 


Zettel  aus,  die  oft  von  dem  sonderbarsten  Inhalte  sind. 
Einer  bittet,  man  möge  ihm  den  Morgenurin  senden,  er 
verlangt  den  Patienten  gar  nicht  zu  sehen,  und  will  doch 
immer  die  dienlichsten  Medikamente  verordnen.  Ein 
anderer  verspricht  der  Unfruchtbarkeit  beider  Geschlechter 
zu  Hülfe  zu  kommen.  Der  Dritte  verspricht  sogar  das 
Gegenteil,  die  Fruchtbarkeit  des  weiblichen  Geschlechts 
nach  Gefallen  zu  hemmen,  die  meisten  aber  rühmen  ihre 
Geschicklichkeit  in  Kuren  galanter  Krankheiten.  Noch 
andere  erbieten  sich,  in  ihren  eignen  Häusern  zu  accouchiren, 
sie  versichern,  dass  ihre  Häuser  sehr  bequem  dazu  ein¬ 
gerichtet  sind,  offerieren  Betten  und  Aufwartung  und 
ersuchen  Damen,  sich  dieserhalb  bei  ihnen  zu  melden. 
Alle  Ecken  der  Strassen,  der  Leuchtenpfähle,  sogar  des 
königlichen  Palais  zu  St.  James  sind  mit  dergleichen 
Affichen  beklebt,  und  die  Londoner  Polizei  begünstigt 
sichtbarlich  diesen  medicinischen  Unfug.  So  wurde  z.  B. 
in  Towerhill  täglich  eine  medicinische  Bude  erbaut.  Das 
Gerüste  war  oben  mit  Leinen  bedeckt  und  an  der  Seite 
eine  hölzerne  Treppe  angebracht.  Hier  versammeln  sich 
Kranke,  welche  ein  Arzt  öffentlich  und  zwar  unentgeltlich 
heilt,  bloss  um  sich  Kundschaft  zu  verschaöen.  Majestätisch 
bestieg  dieser  Doktor  das  Gerüste,  hielt  eine  feierliche 
Anrede  an  die  Zuschauer  und  dann  operierte  er  seine 
Patienten,  die  der  Keihe  nach  auf  Stühlen  und  Bänken 
sassen  ...  Er  Hess  sodann  Medicinzettel  austeilen  und 
hielt  zum  Beschluss  abermals  einen  feierlichen  Epilog. 
Wenn  er  das  Gerüste  verliess,  so  folgten  ihm  bald  die 
Kranken,  die  Bedienten  packten  den  Medicinkasten  zu¬ 
sammen  und  das  Theater  wurde  abgebrochen,  welche 
Farce  sich  täglich  wiederholte. Schütz  erzählt  dann 
weiter,  wie  er  einmal  von  einem  solchen  Charlatan  in, 


318 


einem  Wirtsliause  angeredet  und  eingeladen  wurde,  ihn 
zu  besuchen,  was  er  anfangs  ablehnte,  später  aber  beim 
zufälligen  Vorbeigehen  nicht  mehr  ausschlagen  konnte, 
zumal  da  das  Haus  sehr  glänzend  aussah.  „Er  führte 
mich  in  ein  schönes  möbliertes  Zimmer,  wo  er  mich  mit 
einigen  Damen  bekannt  machte,  die  er  seine  Cousinen 
nannte.  Es  waren  fünf  wohlgeputzte  und  wohlgeschmückte 
weibliche  Geschöpfe,  und  ich  konnte  sehr  bald  merken, 
zu  welcher  Klasse  von  Londoner  Damen  ich  solche  zu 
rechnen  hatte.  Ich  hatte  Mühe,  mich  von  dieser  Gesell¬ 
schaft  loszumachen,  versprach  aber  sehr  feierlich,  mich 
noch  den  nämlichen  Abend  wieder  einzustellen.  Nachher 
erfuhr  ich  von  einem  Deutschen,  der  unweit  diesem 
Hause  wohnt,  dass  ich  mich  in  meiner  Vermutung  nicht 
betrogen  hatte,  und  dass  in  gedachtem  Hause  ausser 
mancherlei  Galanterien  auch  die  grössten  Spitzbübereien 
verübt  würden.“  Diese  innige  Connection  der  Quacksalber 
mit  den  Bordellen  beruhte  zum  Teil  wohl  auch  auf  dem 
Umstande,  dass  sie  hier  den  Patientenfang  in  grösserem 
Massstabe  treiben  und  zugleich  ihre  Mittel  gegen  die 
venerischen  Leiden  sowie  ihre  sonstigen  Ratschläge  in 
sexuellen  Dingen  am  besten  anbringen  konnten.  Der 
Verfasser  der  „Müssiggänger  in  London“  berichtet,  dass 
diese  Charlatane  es  besonders  auf  die  vom  Lande  kommen¬ 
den  Personen  abgesehen  hatten,  die  meist  wegen  geschlecht¬ 
licher  Leiden  jenen  in  die  Hände  fielen. Q 

Derjenige  Charlatan,  welcher  entschieden  am  raffi- 
nirtesten  von  allen  auf  die  geschlechtlichen  Instinkte 
seiner  Klientel  spekuliert  hat,  der  wahre  Cagliostro 
der  Kurpfuscherei  war  Dr.  James  Graham,  der  be- 

„Offenherzige  Schilderung  der  Müssiggänger  n.  s,  w.“ 
London  1788  Bd.  H  S.  28 — 30. 


319 


rülimte  Erfinder  des  ,,liimnilisclien  Bettes“  und  des 
„Tempels  der  Gesundheit“.^) 

Er  wurde  als  Sohn  eines  Sattlers  in  Edinburgh  im 
Jahre  1745  geboren,  promovirte  zum  Doktor,  prakticirte 
in  Pontefraet,  ging  dann  nach  Amerika,  wo  er  sich  als 
Philanthrop  aufspielte,  der  zu  Nutz  und  Frommen  der 
Menschheit  reiste,  um  in  den  verzweifeltsten  Krankheiten, 
welche  der  Behandlung  der  übrigen  Ärzte  getrotzt  hatten, 
noch  Hilfe  und  Bettung  zu  bringen.  Er  sammelte  hier 
einen  grossen  Schatz  von  Erfahrungen,  die  er  später  ver¬ 
wertete.  Da  er  ein  schöner  Mann,  von  höflichem  Wesen 
und  grosser  Beredsamkeit  war,  der  die  Gabe  der  Unter¬ 
haltung  in  hohem  Grade  hesass,  so  erlangte  er  bald  Eintritt 
in  die  ersten  Kreise,  besonders  in  Neu-England,  wo  wie 
er  selbst  sagt,  er  einen  „goldenen  Kuf“  sich  erwarb. 
Dann  kehrte  er  nach  England  zurück,  bereiste  das  ganze 
Land  und  war  nach  seinen  Angaben  sehr  erfolgreich  in 
der  Behandlung  verzweifelter  Fälle.  1775  liess  sich 

Die  Litteratur  über  diese  Persönlichkeit  von  wirklich 
sittengeschichtlicher  Bedeutung  ist  sehr  gross,  zudem  ist 
Graham  eine  ständige  Figur  in  ganz-  oder  halberotischen 
englischen  Schriften.  Die  wichtigsten  Angaben  finden  sich 
bei  H.  Sampson  „A  History  of  Advertising“  London  1874  S. 
411 — 421;  J.  C.  Jeaffreson  „A  book  about  doctors“  S.  218 
bis  223;  John  Davenport  „Aphrodisiacs  and  Antiaphro- 
disiacs“  S.  121 — 125;  J.  W.  v.  Archenholtz  „England  und 
Italien“  Bd.  I  S.  158 — 165;  dessen  „Annalen“  Bd.  III  S.  214, 
Bd.  XI  S.  359,  Bd.  V  S.  364.  Über  eine  eigene,  das  „himm¬ 
lische  Bett“  behandelnde  Schrift  siehe  unten.  Auch  in 
deutschen  Eroticis  wird  Graham’s  Bett  öfter  erwähnt  oder 
auchin  ähnlichen  Schilderungen  nachgeahmt,  wie  z.  B.  in  dem 
„Paradies“  der  Liebe  am  Ende  des  zweiten  Bandes  von  F. 
W.  B  r  u  c  k  b  r  ä  u  ’  s  erotischer  Schrift  „Rosa’s  Gardinenseufzer.“ 
Stuttgart  1832  S.  182 — 199. 


320 


Graham  in  London  nieder,  eröffnete  ein  Haus  in 
Pall  Mall,  wo  er  besonders  Augen-  und  Ohrenkranke 
behandelte  und  darauf  sich  beziehende  Annoncen  in  den 
Tageszeitungen  erliess,  die  bereits,  wie  Sampson  sagt, 
die  „Würze  der  Kurpfuscherei“  an  sich  trugen.  Nach 
einiger  Zeit  besuchte  er  Schottland  und  hatte  grossen 
Zulauf  aus  vornehmen  Kreisen  infolge  seiner  fascinirenden 
Manieren  und  des  Kufes  seiner  wunderbaren  Kuren.  Er 
war  so  populär,  dass  eine  Niederlassung  in  Edinburgh  ihm 
sicher  grossen  Gewinn  gebracht  hätte,  aber  er  kehrte  nach 
London  zurück,  wo  er  nunmehr  eines  der  „originellsten 
und  extravagantesten  Institute,  das  man  sich  denken  kann, 
einrichtete“  (Sampson),  dessen  Zweck  nach  den  An¬ 
kündigungen  des  Doktors  „die  Hervorbringung  einer  weit 
stärkeren,  schöneren,  energischeren,  gesunderen,  klügeren 
und  tugendhafteren  menschlichen  Easse  sein  sollte,  als 
die  gegenwärtigen  unbedeutenden,  närrischen,  mürrischen,, 
lasterhaften  und  verstandesarmen  Vertreter  derselben  seien, 
welche  sich  streiten,  fechten,  beissen,  einander  den  Hals 
abschneiden,  ohne  dass  sie  wissen  warum.“  Die  Idee  war 
wirklich  einzig  und  originell.  Sie  gründete  sich  auf 
eine  genaue  Kenntnis  der  menschlichen  Natur,  und  der 
unglaubliche  Erfolg  bewies  die  Kichtigkeit  dieser  Berech¬ 
nung.  Im  Mai  1779  eröffnete  Graham  seinen  berühmten 
„Tempel  der  Gesundheit“  in  den  Adelphi,  mit  dem  darin 
enthaltenen  „himmlischen  Bett“,  das  allein  16000  Pfund 
Sterling  gekostet  haben  soll.  Archenholtz  erzählt: 
„Der  Einfall  war  äusserst  original  und  ganz  ohne  Beispiel. 
Ein  Mann,  der  von  seinem  Vermögen  in  seinem  Vaterlande 
im  Überfluss  leben  konnte,  verliess  es  und  wagte  ^  alles 
das  Seinige,  um  in  einem  anderen  Lande  den  Charlatan 
zu  spielen.  —  Man  sah  die  äusserste  Pracht  allenthalben 


321 


in  diesem  Tempel,  künstlich  gemachte  elektrische  Feuer, 
die  bogen  artigen  Schimmer  verbreiteten  und  Strahlen  von 
sich  warfen;  transparente  Gläser  von  allen  Farben,  mit 
kluger  Wahl  und  vielem  Geschmack  angebracht;  kostbare 
Vasen  mit  den  vortrefflichsten  Wohlgerüchen  angefüllt, 
die  eine  Art  von  schmachtender  Begierde  erweckten. 
Alles  dies,  das  er  jedermann  umsonst  zeigte,  war  hin¬ 
reissend,  und  spannte  die  Vorstellung  von  denjenigen 
Dingen,  die  im  Heiligtum  des  Tempels  zu  sehen  waren, 
aufs  höchste,  da  Pracht,  Kunst  und  Erfindung  schon  in 
diesem  Vorhofe  desselben  erschöpft  zu  sein  schienen. 
Dieser  Aeskulap  gab  für  den  Preis  einer  Guinee  gedruckte 
Lebensregeln,  vermittelst  welcher  er  vergab,  der  Un¬ 
fruchtbarkeit  des  einen  und  dem  Unvermögen  des  anderen 
Geschlechtes  abzuhelfen.  Nach  einer  sehr  umständlichen 
Anzeige  der  nötigen  Vorbereitungen,  die  erfordert  wurden, 
um  mit  gutem  Erfolge  an  dem  Erzeugungswerke  zu 
arbeiten,  worunter  er  die  Reinlichkeit  auch  als  ein  sehr 
wirksames  Mittel  anpries,  empfahl  er  sehr  die  Moderation 
bei  den  Opfern,  die  man  dem  Hymen  darbringt.  Er 
verengte,  man  sollte  zeitig  zu  Bette  gehen  und  früh 
aufstehen,  die  Fenster  des  Schlafzimmers  nicht  mit  Laden 
verwahren,  damit  das  Licht,  besonders  aber  das  Mondlicht 
hinein  dringen  könne.  Auch  riet  er  den  Eheleuten,  sich 
mit  Singen  zu  unterhalten.  Denn  „dadurch  werden  die 
Seelen  eines  glücklichen  Paares  weich  gemacht  und  mit 
Liebe  und  Harmonie  erfüllt,  ihre  Körper  und  Seelen 
begegnen  sich,  mischen  sich,  überlassen  sich  dem  Eifer 
einer  heimlichen  Entzückung,  und  fliegen  gleichsam  nach 
Elysium.  Diese  glücklichen  Wesen  glauben  sodann  nicht 
mehr  Einwohner  dieser  Unterwelt  zu  sein.“  In  diesem 
Tone  fuhr  er  fort,  bis  er  zu  seiner  Kauptbatterie  kam: 

21 


322 


„Wenn  man  meinen  Vorschriften  auf  das  genaueste  nach¬ 
gekommen  ist,  und,  um  sich  zu  stärken,  den  göttlichen 
Balsam  eingenommen  hat,  den  ich  zuhereite,  und  für  das 
Wohl  der  Menschheit  nur  für  eine  Guinee  die  Bouteille 
verkaufe,  wenn,  sage  ich,  ungeachtet  aller  dieser  Mittel, 
man  nicht  seinen  Zweck  erreicht,  so  bleibt  mir  noch  ein 
ausserordentliches  Mittel  übrig,  dessen  Erfolg  aber  un¬ 
fehlbar  ist.  Dies  ist  ein  wunderbares  und  himm- 
lischesBett,  dasich  „Magneto-Electric“  nenne,  es  ist  das 
erste  und  einzige,  das  in  der  ganzen  Welt  existirt,  oder 
jemals  vorhanden  gewesen  ist.  Es  steht  im  zweiten  Stock, 
in  einem  grossen  und  prächtigen  Zimmer,  rechter  Hand 
meines  Orchesters,  im  Vorderteil  meiner  reizenden  Ein¬ 
siedelei.  In  meinem  benachbarten  Kabinet  ist  ein  Cylinder, 
durch  welchen  die  Ausflüsse  des  himmlischen  und  alles 
belebenden  Feuers  in  das  Schlafzimmer  geleitet,  so  wie 
auch  die  Vapeurs  stärkender  Medikamente  und  orien¬ 
talischer  Käucherwaren  durch  gläserne  Röhren  dahin 
geführt  werden.  Das  himmlische  Bett  selbst  ruht  auf 
sechs  massiven  und  transparenten  Säulen;  die  Betttücher, 
von  Purpur  und  himmelblauem  Atlas,  sind  über  Matratzen, 
mit  arabischen  und  anderen  morgenländischen  Essenzen 
parfümirt,  gebreitet,  und  zwar  im  Geschmacke  des  per¬ 
sischen  Hofes,  wie  es  in  dem  Zimmer  der  Favorit-Sultanin 
im  Serail  des  Grossherrn  befindlich  ist.  Dieses  Bett  ist 
das  Resultat  eines  unermüdlichen  Fleisses  und  der  hart¬ 
näckigsten  Arbeit,  ohne  die  Kosten  zu  rechnen,  die  uner¬ 
messlich  sind.  Uebrigens  unterlasse  ich  keine  Behutsamkeit, 
welche  die  Delikatesse  sowohl  als  der  Wohlstand  nur  immer 
verlangen  können;  denn  weder  ich  noch  meine  Leute 
haben  nötig  zu  wissen,  wer  die  Personen  sind,  die  in 
diesem  Zimmer  ruhen,  das  ich  das  „Sanctum  Sanctorum“ 


323 


nenne.  Man  zeigt  niemals  das  himmlische  Bett  denjenigen, 
die  durch  Neugierde  gelockt,  den  Best  meiner  Appartements 
zu  sehen  kommen.  Diese  Behutsamkeit  ist  nicht  weniger 
weise  als  delikat;  denn  wer  könnte  dem  Vergnügen,  ja 
der  Entzückung  Widerstand  thun,  die  dieser  bezaubernde 
Ort  erregt,  welcher  neue  Ideen  von  Verfeinerung  einflösst, 
wodurch  die  Wollust  und  der  vervielfältigte  Genuss  der 
sinnlichen  Vergnügungen  aufs  höchste  gebracht  wird,  wovon 
aber  die  Folge  ist,  dass  unsre  Tage  verkürzt  und  die 
Triebfedern  des  Körpers  und  der  Seele  geschwächt  wer¬ 
den.  Diejenigen,  die  in  diesen  wonnereichen  Ort  dringen 
wollen,  werden  ersucht,  mich  schriftlich  davon  zu  benach¬ 
richtigen,  und  ihre  gewählte  Nacht  zu  bestimmen ;  hierbei 
wird  eine  Banknote  von  50  Pfund  Sterling  gelegt,  für 
welche  sie  ein  Einlassbillet  empfangen  werden.“  In  einer 
Note,  die  zum  Supplement  der  Beschreibung  des  himm¬ 
lischen  Bettes  dient,  fügt  der  Doktor  hinzu;  „Nichts  ist 
erstaunenswürdiger  als  die  göttliche  Energie  des  himm¬ 
lischen  und  elektrischen  Feuers,  womit  dieses  Bett  angefüllt 
ist,  sowohl  als  mit  einer  Mischung  magnetischer  Ausflüsse, 
üie  sehr  wirksam  sind,  den  Nerven  alle  ihre  nötige  Kraft 
zu  geben.  Zu  diesem  allen  kommen  noch  die  melodischen 
Töne  der  Harmonica,  der  Cölestina,  sanfter  Flöten,  ange¬ 
nehmer  Stimmen  und  einer  grossen  Orgel.  Die  Macht 
und  Eigenschaft  dieses  zusammengesetzten  Ganzen  kann 
nicht  fehlen,  bei  Philosophen  und  Aerzten  Verwunderung 
und  Vergnügen  zu  erregen.  Man  hat  niemals  an  ein 
ähnliches  Mittel  gedacht,  um  die  Unfruchtbarkeit  der 
Weiber  zu  heben,  sie  zu  Müttern  zu  machen,  und  dem 
bejahrten  Manne  seine  ursprüngliche  Kraft  wieder  zu 
geben.“  —  Man  wmrde  den  Engländern  Unrecht  thun, 
wenn  man  glaubte,  dass  die  Hoffnung  der  wunderbaren 


21* 


324 


Wirkungen  sie  so  häufig  zu  diesem  himmlischen  Bette? 
führte.  Fast  jedermann  sah  diese  glänzende  Farce  für 
das  an,  was  sie  war.  Genug,  Graham  und  reiche  nach 
Wollust  jagende  Engländer  befanden  sich  wohl  dabei. 
Wie  viele  giebt  es  deren  nicht,  die  hundert  und  mehr 
Guineen  an  einem  Abend  in  einer  Taverne  oder  einem 
Bagnio  verschwenden,  ja  in  den  grossen  Subscriptions- 
Spielhäusern  Tausende  verspielen?  Warum  sollte  nicht 
ein  solcher,  der  nun  einmal  sein  Geld  los  werden  will, 
50  Pfund  anwenden,  um  sich  ein  Vergnügen  zu  verschaffen, 
wobei  alle  seine  Sinne  berauscht  werden,  und  er  eine  nie- 
empfundene  Wollust  geniesst?  Junge  Leute,  die  mit  Geld 
reichlich  versehen  aus  der  Provinz  kommen,  um  sich  eine¬ 
kurze  Zeit  in  London  zu  vergnügen,  Offiziere  von  der 
Marine,  und  Kaper,  die  grosse  Summen  für  Prisen  bezogen 
haben,  und  solche  in  wenigen  Tagen  anbringen  wollen,, 
da  sie  der  Dienst  und  die  Hoffnung  neuer  Beute  wieder 
auf  die  See  treibt;  Leute,  die  mit  Keichtum  beladen,  aus 
Ostindien  kommen;  unterhaltene  Maitressen  der  Grafen,, 
die  Lust  haben,  diese  neue  Art  der  Wollust  zu  versuchen,, 
und  ihren  Liebhaber  deshalb  anliegen,  welche  sich  um  so 
viel  eher  dazu  bequemen,  da  hierbei  das  äusserste  Incognito 
beobachtet  werden  kann;  dies  waren  die  Hauptkunden 
unseres  Doktors,  ohne  die  Menge  anderer  Verschwender 
zu  rechnen.“ 

Als  weiterer  Attraktion  bediente  sich  Graham  der 
Dienste  einer  schönen  jungen  Frau,  die  er  „Vestina,  die 
rosige  Göttin  der  Gesundheit“  nannte,  und  die  bei  seinen 
Abendvorlesungen  zugegen  war  und  nach  der  An¬ 
kündigung  das  „geheiligte  vitale  Feuer  bewachte,  dessen 
Anwendung  in  der  Kur  von  Krankheiten  sie  täglich 
leitet“.  Kurze  Zeit  lang  versah  die  schöne  Emma  Hart, 


325 


<iie  später  als  Emma  Hamilton  so  berühmt  geworden 
ist,  diesen  Dienst.  Sie  begleitete  Graham  auch  zu  der 
Demonstration  seiner  Erdbäder,  welche  dieser  als  das 
sicherste  Mittel  gegen  alle  Krankheiten  anpries  und  die 
darin  bestanden,  dass  man  sich  nackt  bis  an  den  Hals 
mit  Erde  bedecken  Hess,  am  besten  aber  sich  in  die 
Erde  eingraben  liess.  Er  selbst  ging  mit  gutem  Beispiele 
voran  und  liess  sich  noch  im  September  1790  mit  einem 
Wundarzte  Wilkinson  so  tief  in  die  Erde  einscharren, 
dass  nur  beider  Köpfe  sichtbar  waren.  In  diesem  Zustande 
verharrten  sie  sechs  Stunden  lang,  begafft  von  mehr  als 
dreitausend  Menschen  beiderlei  Geschlechts! 

Im  Frühjahr  1781  wurde  der  „Tempel  der  Gesund¬ 
heit“  nach  Schomburg  House  in  Pall  Mall  verlegt,  und 
der  „Temple  of  Hymen“  und  das  „Celestial  Bed“  wurden 
dem  Staunen  der  Profanen  und  Neugierigen  ausgestellt 
und  „Vestina,  die  Gigantische“  stellte  auf  ihrem  „himm¬ 
lischen  Throne“  ihre  Reize  zur  Schau.  Der  Eintritt  in 
diesen  elysischen  Palast  kostete  einen  Schilling,  aber  die 
■einzelnen  Herrlichkeiten  des  Innern  erforderten  wieder  die 
Erlegung  eines  bei  weitem  grösseren  Obolus.  Auch 
verkaufte  er  Medicamente,  Lehrbücher,  seine  Biographie 
u.  s.  w.  „Vestina’s,  der  rosigen  Göttin,  warme  Vorlesung“^) 
kostete  2  Schilling  6  Pence.  Bisweilen  wurden  eine 
herrliche  Beleuchtung,  sowie  „elysische  Promenaden  für 


„II  Convito  amoroso,  or  A  Serio-comico-philosophical 
lecture  on  the  causes,  nature  and  effects  of  love  and  beauty 
.  .  .  and  the  prolific  intluences  of  the  celestial  bed,  by  Hebe 
Vestina,  the  rosy  goddess  of  youth  and  of  health,  from  the 
electrical  throne  at  the  temple  of  hymen,  in  London.“  London, 
Hebe  Vestina,  sold  at  the  temple  of  hymen  in  Pall  Mall  1782, 
8^,102  Seiten  (Die  Vorrede  ist  unterzeichnet:  „Vestina  tertia“) 


326 


Damen  und  Herren‘‘  veranstaltet,  zu  welchen  auch  maskirte 
Personen  zugelassen  wurden.  „Die  bezaubernde  Glorie 
dieser  magischen  Scenen“,  heisst  es  in  einer  Ankündigung, 
„wird  um  7  Uhr  beginnen  und  um  10  Uhr  zu  Ende  sein, 
während  welcher  Zeit  orientalische  Wohlgerüche  und 
aetherische  Essenzen  die  Luft  parfümiren  und  das 
hymenaeische  Bett  im  Lichte  des  sanften  himmlischen 
Feuers  erglänzU^ 

Aus  den  satirischen  Anspielungen  in  Zeitschriften  und 
Broschüren  jener  Zeit  lässt  sich  mit  aller  Deutlichkeit 
auf  den  wahren  Charakter  jener  Zusammenkünfte  im 
„Tempel  der  Gesundheit‘‘  und  vor  und  auf  dem  „himmlischen 
Bette“  ein  Schluss  ziehen.  Auch  nach  Sampson’s  Er¬ 
mittelungen  ist  es  sicher,  dass  Gr  ah  am  ^s  Haus  eigentlich 
weiter  nichts  als  ein  fashionahles,  luxuriös  eingerichtetes 
Bordell  war. 

Diese  Herrlichkeit  dauerte  nur  bis  zum  März  1784, 
wo  der  Tempel  der  Gesundheit  für  immer  geschlossen 
und  alle  Möbel  zugleich  mit  dem  berühmten  Bette  ver¬ 
kauft  wurden.  Graham  trieb  zwar  noch  seine  übrigen 
Charlatankünste,  hielt  u.  a.  Vorlesungen  über  Makrobiotik, 
in  denen  er  die  Kunst,  ohne  Essen  (sic)  ein  gesundes 
und  langes  Leben  zu  führen,  lehrte,  kam  aber  immer 
mehr  zurück  und  soll  in  den  neunziger  Jahren  nahe  bei 
Glasgow  in  sehr  elenden  Verhältnissen  gestorben  sein. 

Auch  der  Mesmerismus  feierte  in  England 
Triumphe.  Auf  dessen  innige  Verknüpfung  mit  geschlecht¬ 
lichen  Dingen  weist  Eugen  Sierke  hin.  Die  Klagen 
gegen  den  „Magnetismus“  Mes me r’s  wegen  Gefährdung 
der  Sittlichkeit  waren  sehr  häufig.  Eine  anonyme  Bro¬ 
schüre  unter  dem  Titel  „Von  den  Missbräuchen,  zu  denen 
der  Mesmerismus  Anlass  gegeben  hat“  hob  alles  hervor. 


327 


was  in  der  „Kette“  und  den  „Krisen“  fnr  die  Sittlich¬ 
keit  Gefährliches  läge.  Auch  andere  Flugschriften  wiesen 
auf  das  bedenkliche  Treiben  der  Magnetiseure  und  ihrer 
Patienten  hin.  Mehrere  Skandale  kamen  zur  Kenntnis 
der  Pariser  Behörden,  und  der  Mesmerist  D  e  s  1  o  n  bestätigte 
sogar  dem  Polizeipräfekten,  dass  der  geschlechtliche  Miss¬ 
brauch  eines  magnetischen  oder  in  der  Krise  befindlichen 
Mädchens  möglich  sei.')  In  England  führte  der  von 
Cagliostro  zum  „übernatürlichen  Künstler“  geweihte 
Maler  Loutherbourg  den  Mesmerismus  ein  under  richtete 
in  der  Londoner  Vorstadt  Hammersmith  seinen  „magnetisch¬ 
magischen  Tempel“,  wo  „fanatische  Männer  und  Weiber“ 
sich  von  ihm  in  die  Geheimnisse  und  Wunder  des  Mesmeris¬ 
mus  ein  weihen  Messen.^).  Er  fand  bald  Nachfolger,  u.  a. 
in  einem  gewissen  Maina  du  c,  einem  Schüler  Mesmers, 
der  in  London  eine  „Wunderschule“  anlegte,  wohin  gleich¬ 
falls  zahlreiche  Gläubige  strömten,  um  für  150  Guineen 
in  die  Mysterien  des  Magnetismus  eingeführt  zu  werden.^) 
Sogar  Georg  IV.  wohnte  als  Prinz  den  Seances  dieses 
Schwindlers  bei.^) 

Den  Mesmeristen  reihten  sich  die  Rosenkreuzer 
an,  die  als  „Nachfolger  der  chaldäischen  Weisen“,  als 
„Schüler  der  ägyptischen  Priester“  die  Geheimnisse  der 
Heilkunde  den  staunenden  Zuhörern  offenbarten.  Die 


1)  Vergl.  Eugen  Sierke  „Schwärmer  und  Schwindler  zu 
Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts“  Leipzig  1874  S.  168 — 169. 

2)  Archenholtz  „Annalen“  Bd.  III.  S.  212 — 213;  J.  C 
Jeaffreson  „A  book  about  doctors“  S.  60  ft. 

3)  Archenholtz  a.  a.  0.  S.  213. 

■^)  P.  F  i  1  z  g  e  r  a  1  d  „The  Life  of  George  the  Fourth“  London 
1881  Bd.  I  S.  87. 


228 


Versammlungen  der  englischen  Kosenkreuzer  fanden  in 
Hatton  Garden  Street  in  London  statt,  i) 

Sogar  ein  Vorläufer  von  Leopold  Schenk  stellte 
sich  ein.  Im  September  1776  brachte  die  „Morning  Post“ 
eine  lange  Anzeige  eines  Piemontesen,  Namens  Lattese, 
worin  er  ankündigte,  dass  er  „durch  eine  lange  Eeihe  von 
Experimenten  das  wundervolle  Geheimnis  der  Erzeugung 
eines  Knaben  oder  eines  Mädchens  je  nach  dem  Wunsche 
der  Eltern  entdeckt  habe.  Sollten  sie  ein  Mädchen  wünschen, 
so  kann  der  Erfolg  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  garantiert 
werden,  obgleich  die  Chancen  sehr  zu  Gunsten  eines 
solchen  Ereignisses  sein  werden;  aber  sollten  ihre  Wünsche 
sich  auf  einen  Sohn  richten,  so  können  sie  sich  fest 
darauf  verlassen,  dass  sie  nach  Anwendung  einiger  leichter 
und  natürlicher  Mittel  thatsächlich  einen  solchen  bekommen 
werden.“  Lattese  war  so  von  der  Unfehlbarkeit  seiner 
Methode  so  fest  überzeugt,  dass  er  das  Honorar  erst  nach 
der  —  Entbindung  beanspruchte.^) 

Schäfer  Ast,  der  bekanntlich  die  Krankheiten  durch 
blosses  Betrachten  der  Haare  (sic)  erkennt  und  heilt,  ist 
bisher  als  origineller  „Erfinder“  dieser  absonderlichen 
Idee  betrachtet  worden.  Leider  muss  ich  ihm  diesen 
Kuhm  gar  sehr  schmälern.  Denn  ich  finde  bei  Ar  ch  e  n- 


1)  Archenholtz  a.  a.  0.  S.  215.  —  Der  sexuelle  Mes¬ 
merismus  wird  auch  in  einer  erotischen  Schrift  behandelt: 
„The  Power  of  Mesmerismen,  a  highly  erotic  narrative  of 
Voluptuons  Facts  and  Fancies“  London  1880.  Der  „Held“ 
verführt  durch  Mesmerismus  seine  ganze  Familie  zu  geschlecht¬ 
lichen  Ausschweifungen  und  „mesmerisirt“  dann  den  Groom, 
den  Stubenburschen,  den  Prediger,  zwei  Nichten  ii.  s.  w. 
(Französische  Übersetzung:  „Le  Magne'tiseur  Libertin“) 

2)  H.  Sampson  a.  a.  0.  S.  396  —  397. 


329 


lioltz^)  folgende  Angabe  aus  dem  Jahre  1795:  ,,Ein 
<iuacksalber  liess  im  Juli  in  den  Strassen  von  London 
Handbillets  austeilen,  worin  er  sich  anheischig  machte, 
durch  die  Sympathie  Kranke  beiderlei  Geschlechts  von 
allen  Zufällen  zu  befreien,  wenn  man  ihm  nur  eine  Haar¬ 
locke  zusenden  wollte.“ 

Eine  Erwähnung  verdient  auch  das  grosse  Überwiegen 
des  deutschen  Elementes  unter  den  Londoner 
Kurpfuschern  des  18.  und  19.  Jahrhunderts.  Hüttner 
bezeichnet  von  allen  deutschen  Abenteurern,  die  in  London 
ihr  Glück  versuchen,  die  medicinischen  als  die  weitaus 
schädlichsten.  „Diese  Marktschreier  rühmen  sich  auf  die 
unverschämteste  Art  grosser  Wunderkuren,  die  sie  in 
andern  Ländern  verrichtet  haben  und  hier  wiederholen 
wollen.  Der  Eine  macht  Blinde  sehend,  der  Andeie 
wirkt  selbst  gegen  die  Natur  durch  die  Wiederherstellung 
ausgemergelter  Siechlinge.  ...  Sie  bezahlen  gewissenlos 
Menschen  aus  allen  Ständen,  um  eidlich  vor  Gericht  zu 
erhärten,  dass  sie  durch  den  alleinigen  Gebrauch  ihres 
Universalmittels  von  Krankheiten  sind  geheilt  worden, 
die  sie  nie  hatten  „German  Doctor“  und 

Quacksalber  waren  im  18.  Jahrhundert  gleichbedeutende 
Begriffe.  Böttiger  nimmt  als  Ursache  des  grossen 
Erfolges  der  deutschen  Kurpfuscher  ihre  gewöhnlich  sehr 
grosse  Unkenntniss  der  englischen  Sprache  an.  „Es  ist 
wörtlich  wahr,  dass  beim  hiesigen  Pöbel  das  Ansehen 
des  fremden  Arztes  in  dem  Maasse  wächst,  als  er  das 
Englische  mordet,  verstümmelt  und  amalgamirt.  Denn 
je  dunkler  und  unverständlicher,  desto  gelehrter!“^) 

Archen holtz  „Annalen“  Tübingen  1798  Bd.  XVI 

S.  127. 

Hüttner  a.  a.  0.  S.  247;  S.  218. 

3)  Böttiger  a.  a.  ü.  Bd.  HI  S.  21;  S.  22. 


330 


Ein  solcher  deutscher  Charlatan  war  der  berüchtigte 
van  Butscheil,  eins  der  grössten  Originale  des  18. 
Jahrhunderts.  Er  hatte  an  seinem  Hause  eine  wunder¬ 
same  Inschrift^)  anbringen  lassen  und  paradierte  täglich 
in  allen  Zeitungen  mit  seinen  noch  seltsameren  Annoncen. 
Als  seine  Frau  starb,  liess  er  sie  einhalsamieren  und  lud 
seine  Patienten  zur  Besichtigung  der  Leiche  ein.  In 
einer  der  Annoncen  heisst  es  frech:  „Kommt  von 
10  bis  1  Uhr.  Denn  ich  gehe  zu  Niemandem Auch 
pries  er  den  Frauen,  welche  hübsche  Kinder  wünschen,  ein 
unfehlbares  Mittel  an.  „Bin  ich  nicht,“  sagt  er,  „der 
erste  Heiler  von  bösen  Fisteln,  ich  der  Mann  mit  dem 
schönen  Bart  wie  Hippokrates?  Jedes  Haar  von  dem¬ 
selben  verkaufe  ich  den  Schönen,  welche  hübsche  Kinder 
wünschen.  Ich  kann  es  ihnen  erzählen,  wie  sie  es  machen. 
Es  ist  ein  Geheimnis.  Einige  (nämlich  Haare)  sind  ganz 
braun,  andere  silberweiss,  ein  halbes  Quarter  voll,  lang 
wachsend  bei  Tag  und  bei  Nacht,  nur  —  15  Monate!“ 
In  diesem  Mixtumcompositum  des  elendesten  Englisch 


0  Sie  lautete  : 


By 

His  Majesty’s 
Royal 

Letters  Patent 
Martin 

Van  BiitchelPs 
New  Inyented 
Spring  Bands 
And  Fastenin  gs 
For 

The  Apparel 
Of 

Human  Beings 
And 

Brüte  Creatures. 


Dazwischen  waren  Verse  und  Kurmethoden  eingestreut. 
Vergl.  Sampson  a.  a.  0.  S.  399. 


331 


und  der  sinnlosesten  Sätze  geht  es  weiter.  Auch  verfertigte 
dieses  Original  „magnetische  Kniebänder“,  wofür  er  50 
Guineen  verlangte  und  bekam.  Er  hatte  natürlich  grossen 
Zulauf.  Viele  besuchten  aber  sein  Haus  nur,  um  ihn  zu 
sehen  und  sein  Kauderwelsch  zu  hören.  Mit  seinen 
Geheimmitteln  hatte  er  solchen  Erfolg,  dass  der  Staat 
sich  veranlasst  sah,  im  Jahre  1783  eine  Steuer  auf  „patent 
medicines‘‘  zu  legen,  die  seitdem  bestehen]  blieb  und 
viel  Geld  eingebracht  hat.^) 

Unter  den  Kurpfuschern  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  verdient  vor  allem  St.  John  Long 
eine  Erwähnung,  der  von  Hause  aus  ein  Maler  war,  dann 
aber  mit  seltenem  Geschick  sich  auf  die  Kurpfuscherei 
warf  und  um  1830  in  Harley  Street  in  London  einen 
ungeheuren  Zulauf,  namentlich  von  Weibern,  hatte.  Seine 
beiden  Hauptmittel  waren  ein  Liniment,  das  er  selbst 
einrieb,  und  eine  Mixtur,  deren  Dämpfe  die  Patientinnen 
durch  eine  grosse  Inhalationsröhre  einatmen  mussten. 
Da  sah  man  junge  und  alte  Damen  dicht  gedrängt  in 
seinem  Wartezimmer  vor  zwei  enormen  Inhalatoren,  die 
nach  allen  Richtungen  Inhalationsröhren  ausschickten,  aus 
welchen  die  Damen  mit  Begierde  die  „kräftigen“  Dämpfe 
einatmeten.  Im  Nebenzimmer  empfing  der  grosse  Magier 
andere  Patientinnen.  Einigen  empfahl  er  das  Verbleiben 
bei  den  Inhalatoren,  andere  entkleidete  er  eigenhändig 
und  rieb  ihnen  sein  wunderbares  Liniment  entweder  auf 
Rücken  und  Gesäss,  oder  auf  Schultern  und  Busen  ein ! 
St.  John  Long  war  ein  schöner  Mann,  verkehrte  in  der 


9  Vergl.  S  a  m  p  s  o  n  a.  a.  0.  S.  399 — 400;  Hüttner 
a.  a.  0.  S.  219. 


332 


vornehmsten  Gesellschaft  und  wurde  besonders  von  dem 
weiblichen  Teile  derselben  verhätschelt.  Er  behandelte 
seine  weibliche  Klientel  „very  unscrupulously“,  kam 
wegen  mehrerer  von  ihm  verschuldeter  Todesfälle  vor 
Gericht,  wusste  aber  bis  zu  seinem  frühzeitigen  Tode  sein 
Ansehen  zu  behaupten.  Von  seinen  weiblichen  Verehrern 
wurde  ihm  in  Kensal  Green  ein  Denkmal  gesetzt. i) 

Grossen  Eufes  in  der  Behandlung  venerischer  Krank¬ 
heiten  erfreuten  sich  am  Anfänge  des  19.  Jahrhunderts 
die  beiden  Charlatane  Douglas  und  Matthews.  Ersterer 
liess  z.  B.  folgende  Annonce  in  den  vornehmsten  Londoner 
Zeitungen  abdrucken:^) 

,, Menschen  jeden  Ranges  bezeugen  dem  Altar  der 
Ehe  ihre  Verehrung;  um  so  mehr  ist  es  unumgänglich 
nötig,  dass  diejenigen,  deren  Constitution  durch  die 
geheime  Krankheit  gelitten  hat,  eine  Erneuerung  ihres 
Körpers  vornehmen;  denn  nichts  ist  mehr  dazu  geeignet, 
Hymens  Glückseligkeit- zu  zerstören,  als  Krankheiten,  die 
Folgen  uiibed achtsamer  Vergnügungen  sind.  Diese  Be¬ 
trachtungen  haben  den  Doktor  Douglas  vermocht,  da  er 
noch  Student  auf  einer  der  vornehmsten  Universitäten  der 
Welt  war,  seine  ganze  Aufmerksamkeit  auf  Lustkrankheiten 
und  ihre  Folgen  zu  richten“. 

Matthews  behandelte  in  40  Jahren  90000  venerische 
Kranke,  was  den  Verfasser  des  „Tableau  descriptif  de 
Londres“  zu  einer  interessanten  Berechnung  seiner  Ein¬ 
nahmen  veranlasst.^) 

9  J.  C.  Jeaffreson  a.  a.  0.  S.  225—236;  Mühry  a.  a. 

0.  S.  149. 

2)  Archenholz  „Annalen“  Bd.  XIX  S.  191. 

3)  „Tableau  descriptif,  moral,  philosophique  et  critique 
de  Londres  en  1816“.  Paris  1817  Bd.  I.  S  135. 


333 


In  Cornwall  herrscht  der  Glaube,  dass  der  siebente 
Sohn  eines  siebenten  Sohnes  ein  besonders  glücklicher 
Arzt  sei.  Dies  erwähnt  z.  B.  schon  der  berüchtigte 
Lebemann  der  Restaurationszeit,  der  Earl  of  Ro ehester 
in  einer  Rede  „The  Quack  Doctor’s  Speech“,  welche  er 
als  Charlatan  verkleidet  auf  einer  Bühne  hielt. Diesen 
Aberglauben  machten  sich  auch  zwei  Charlatane  Dr. 
B  enj  amin  Thornhill  und  Dr.  B  o s sy  zu  Nutze,  indem 
sie  als  solche  siebenten  Söhne  des  siebenten  Sohnes  auf¬ 
traten.  Bossy  hielt  vor  versammeltem  Volke  in  Covent- 
garden  von  einer  eigenen  Plattform  aus,  auf  welcher  die 
Patienten  auf  Stühlen  sassen,  bombastische  Reden  in 
„englisch-deutschem  Dialekt“  und  ergötzliche  Zwiegespräche 
mit  den  Patienten  unter  dem  Gelächter  der  Gaffer.^) 

Zwei  andere  Kurpfuscher  jener  Zeit  waren  Katter- 
felto,  der  sogar  noch  ein  warmes  und  beredtes  Gedicht 
auf  das  „Segen  spendende“  himmlische  Bett  von  Graham 
verfasste,  sowie  Morison,  dessen  „Pillen“  noch  heute 
vom  Volke  als  üniversalmittel  gebraucht  werden.  ,, Morison 
hat  ein  Programm  zu  zeigen,  worin  er  eine  Skizze  seiner 
Biographie  giebt,  und  auch  erwähnt,  dass  er  in  Deutschland 
studirt  habe  und  zwar  in  Hanau;  nach  fünf  und  dreissig 
Jahren  körperlichen  und  Seelenleidens  habe  er  die  glück¬ 
liche  Entdeckung  gemacht,  nachdem  die  ganze  Facultät 
ihn  nicht  hätte  heilen  können.  Seine  Abbildung  befindet 
sich  auch  dabei,  wo  er  zu  seiner  Kleidung  gewählt  hat 
einen  Pelzrock,  einen  Schnurrbart  und  einen  weissen  Hut“.^) 


Sampson  a.  a.  0.  S.  377. 
2)  „Döings  in  London“  S.  173. 
Mühry  a.  a.  0.  S.  150. 


334 


Eine  höchst  ergötzliche  Schilderung  von  der  Keclame 
der  Kurpfuscher  in  London  um  1830  giebt  Adrian,  der 
seine  Erlebnisse  darüber  auf  einer  Wanderung  durch  den 
Strand  und  Fleet  Street  erzählt. 

Auch  die  englischen  Kurpfuscher  der  Gegenwart 
machen  immer  noch  glänzende  Geschäfte.  Gewöhnlich 
besitzen  sie  eine  „Office“  an  einer  der  Hauptverkehrs¬ 
strassen  (Fleet  Street,  Oxford  Street  etc.),  in  deren  Fenstern 
sie  meist  eine  höchst  sonderbare  Ausstellung  verschiedener 
auf  ihre  Kunst  sich  beziehender  Gegenstände  veranstalten 
(Grosse  Medicinflaschen  mit  hochtönenden  Inschriften, 
Nachbildungen  von  Körperteilen,  sehr  häufig  Schädel  mit 
GalFs  phrenologischem  Schema  bemalt,  Electrisir-  und 
Magnetisirmaschinen  u.  s.  w.)  Jedem  Besucher  Londons 
werden  diese  Läden  der  Charlatane  sofort  ins  Auge  fallen. 

Eine  Spielart  des  Kurpfuschertums  stellen  die  Wahr¬ 
sager  und  Wahrsagerinnen  (Fortune-tellers)  dar, 
die,  wie  Kyan  bemerkt,  für  die  Verbreitung  des  Lasters, 
der  Verführung  zur  Unzucht  und  zum  Ehebruch  ganz 
besonders  in  Betracht  kommen.  Der  Verfasser  der 
„Müssiggänger  in  London“  hat  ihr  Treiben  sehr 
anschaulich  geschildert.  Die  Wollstonecraft^)  eifert 
besonders  gegen  die  schönen  männlichen  Wahrsager: 
„Hier  in  London  giebt  es  eine  Menge  Blutegel,  die  im 
Verborgenen  lauern  und  sich  von  dem  schändiichen 
Gewerbe  nähren,  durch  das  Nativitätstellen  leicht¬ 
gläubige  Weiber  zu  hintergehen.  .  .  Ich  lebte  einst  in 
der  Nachbarschaft  eines  solchen  Mannes,  der  zugleich  ein 

1)  Adrian  „Skizzen  aus  England“  Frankfurt  a.  M.  1830 
Bd.  I  S.  36—39. 

‘^)  Ryan  a.  a.  0.  S.  108. 

0  „Müssiggänger  in  London.“  Bd.  II  S.  65 — 79. 

4)  M.  W  ollstonecraft  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  335;  S.  337. 


335 


schöner  Mann  war  und  sah  mit  Erstaunen  und  Unwillen 
Weiber,  deren  ganzer  Aufzug  und  Gefolge  einen  Rang 
ankündigte,  schaarenweise  seinem  Hause  zueilen.“  Unter 
den  weiblichen  Wahrsagerinnen  des  18.  Jahrhunders  war 
Mrs.  Williams  am  Bedford  Square  besonders  berühmt, 
ferner  die  „Zauberin  von  St.  Giles.“^) 

Noch  heute  erfreuen  sich  geheimnisvoll  thuende 
Wesen  dieser  Art  eines  grossen  Zulaufes.  So  erzählt  der 
„Daily  Telegraph“  in  der  Nummer  vom  10.  Juli  1900 
recht  interessante  Dinge  von  der  Wahrsagerin  Zuleika, 
die  als  Beratherin  der  vornehmen  Londoner  Damenwelt 
in  Liebes-  und  anderen  galanten  Angelegenheiten  anno  1900 
einen  bedeutenden  Ruf  hatte  und  vielleicht  noch  jetzt  hat. 


1)  Archen lioltz  „Annalen“  Bd.  III  S.  215. 


Sechstes  Kapitel. 

Die  Flagellomanie. 

In  der  Einleitung  zum  ersten  Bande  dieses  Werkes 
(S.  28)  habe  ich  die  Flagellomanie  d.  h.  die  Sucht 
zu  prügeln  und  zu  geissein  und  die  Vorliebe  für  den 
Gebrauch  der  Rute  als  ein  den  Engländern  eigentümliches 
Laster  bezeichnet,  und  diese  unter  allen  Ständen  und 
Lebensaltern  verbreitete  Leidenschaft  das  interessanteste 
Kapitel  in  der  Geschichte  des  englischen  Sexuallebens 
genannt.  In  sehr  naiver  Weise  haben  Kritiker  mich 
zu  verbessern  geglaubt,  indem  sie  darauf  hinwiesen,  dass 
auch  bei  anderen  Völkern  das  Prügeln  als  Strafmittel 
und  die  Rute  als  sexuelles  Stimulans  eine  Rolle  gespielt 
habe  und  noch  spiele. 

Diese  Thatsache  war  mir  sehr  wohl  bekannt  und 
kann  in  Wahrheit  Niemandem  entgehen,  der  sich  auch 
nur  ganz  oberflächlich  mit  dem  Studium  der  Geschichte 
des  erotischen  Flagellantismus  beschäftigt.  Ich  wusste 
ganz  genau,  dass  der  Mensch  im  allgemeinen,  ganz 
abgesehen  von  Rasse  und  Nationalität,  von  Kultur  und 
Civilisation,  von  jeher  eine  grosse  Neigung  für  die  Miss¬ 
handlung  seines  Mitmenschen  durch  Prügeln  mit  ver¬ 
schiedenen  Instrumenten  bekundet  hat,  wobei  auch  häufig 
sexuelle  Motive  mit  im  Spiele  gewesen  sein  mögen. 


337 


Schopenhauer  hält  sogar  die  Sucht  zu  prügeln  für 
eine  spezifische  Eigenschaft  des  Menschen,  was  ich  aller¬ 
dings  nicht  mit  unterschreiben  möchte.  Er  sagt:  „Sogar 
aber  lehrt  ein  unbefangener  Blick  auf  die  Natur  des 
Menschen,  dass  diesem  das  Prügeln  so  natürlich  ist,  wie 
den  reissenden  Tieren  das  Beissen  und  dem  Hornvieh 
das  Stossen :  er  ist  eben  ein  prügelndes  Tier.  Daher  auch 
werden  wir  empört,  wenn  wir  in  seltenen  Fällen  ver¬ 
nehmen,  dass  ein  Mensch  den  andern  gebissen  habe; 
hingegen  ist,  dass  er  Schläge  gebe  und  empfange,  ein 
so  natürliches  wie  leicht  eintretendes  Ereignis  .  .  .  Bei 
allen  Vergehungen,  mit  Ausnahme  der  schwersten,  sind 
Prügel  die  dem  Menschen  zuerst  einfallende,  daher  die 
natürliche  Bestrafung“.^) 

Es  ist  gewiss  richtig,  dass  das  Prügeln,  Geissein  und 
Peitschen  als  Strafmittel  seit  alten  Zeiten  auf  der  ganzen 
Erde  verbreitet  gewesen  ist,  sowohl  unter  civilisirten  als 
auch  unter  wilden  Völkern  und  Stämmen,  ebenso  wenig 
ist  zu  bezweifeln,  dass  dieses  Strafmittel  häufig  zugleich 
als  ein  Aphrodisiacum  gewirkt  hat  oder  von  dem  die  Strafe 
Erteilenden  aus  sexuellen  Motiven  angewendet  wurde. 
Die  Beziehungen  der  aktiven  oder  passiven  Flagellation 
zum  Geschlechtstriebe  sind  sicherlich  immer  und  überall 
bekannt  gewesen. 

Nichtsdestoweniger  erhalte  ich  meine  Behaupcang, 
dass  England  das  klassische  Land  der 
Flagellomanie  gewesen  ist  und  zum  Teil 
noch  ist,  vollkommen  aufrecht.  Denn  diese  Behauptung 
gründet  sich  auf  thatsächliche  Verhältnisse. 

L  Arthur  Schopenhauer  „Aphorismeu  zur  Lebens¬ 
weisheit“  in:  Parerga  und  Paralipomena  herausge^eben  von 
Eduard  Grisebach,  Leipzig  (Reclam)  Bd.  I  S.  430 — 431. 

22 


338 


In  keinem  Lande  ist  die  Leidenschaft,  für  die  Ente 
so  systematisch  gepflegt  und  ausgebildet  worden,  wie  in 
England,  in  keinem  Lande  ist  die  gesamte  Litteratur 
seit  dem  17.  Jahrhundert,  die  poetische  und  die  prosaische, 
die  anständige  und  die  pornographische,  so  sehr  erfüllt 
von  diesem  Thema  wie  hier.  Gleichfalls  haben  nirgends 
sonst  Bühne  und  Tageszeitungen  dasselbe  in  solcher 
Öffentlichkeit  behandelt,  was  bei  der  sonstigen  englischen 
Prüderie  in  sexuellen  Fragen  doppelt  auffällig  ist.  Endlich 
dürfte  ein  anderes  Volk  kaum  so  zahlreiche  Künstler 
aufweisen,  die  ihr  Talent  diesem  eigenartigen  Sujet  ge¬ 
widmet  haben,  wie  dies  in  England  der  Fall  ist. 

Die  bei  weitem  grössere  Verbreitung  der  Flagellomanie 
in  England  geht  auch  mit  Sicherheit  aus  dem  Umstande 
hervor,  dass  in  den  übrigen  westeuropäischen  Ländern 
diese  Leidenschaft  fast  stets  unter  dem  Deckmantel  der 
Eeligion  auftrat  und  wesentlich  auf  das  religiöse  Gebiet 
beschränkt  blieb,  während  ihr  rein  weltlicher  Charakter 
in  England  einer  grösseren  Verbreitung  bedeutenden 
Vorschub  leisten  musste  und  thatsächlich  geleistet  hat. 

Schon  Frusta  sagt:  „In  England,  dem  klassischen 
Lande  der  Freiheit,  war  das  Peitschen,  Geissein  und 
Prügeln  von  Alters  her  sehr  im  Schwange  und  ist  es 
zur  Stunde  noch,  trotzdem  dass  es  hier  keine  Jesuiten 
giebt.  Die  Hauserziehung  wird  mit  ungemeiner  Strenge 
getrieben  und  die  Flagellation  bei  beiden  Geschlechtern 
angewendet.  Am  längsten  dauert  sie  bei  dem  männlichen 
Geschlechte.  In  den  grossen  Kollegien  standen  vor  noch 
nicht  langer  Zeit  selbst  18  bis  21jährige  junge  Leute 
noch  unter  der  Eute.^Ö 

Giovanni  Frusta  „Der  Flagellantisinus  und  die 
Jesuitenbeichte“  Stuttgart  1846  S.  254. 


339 


Und  mein  1900  verstorbener  Freund  Pisanus  Fraxi, 
selbst  ein  Engländer  und  der  grösste  Kenner  des 
menschlichen  Geschlechtslebens  und  seiner  Verirrungen 
uuf  der  ganzen  Erde  und  bei  allen  Völkern,  der  sich 
diese  Kenntnis  durch  weitausgedehnte,  langjährige  Eeisen 
in  allen  Erdteilen  erworben  hat  (vergleiche  meine  Würdigung 
des  Lebens  und  der  Werke  dieses  berühmten  Gelehrten 
im  dritten  Bande  dieses  Werkes,  Kapitel  11)  hat  meine 
Behauptung,  dass  den  Engländern  dieses'  Laster  eigen¬ 
tümlich  sei,  durchaus  gebilligt.  Auch  bemerkt  er 
selbst  in  der  Einleitung  seines  „Jndex  librorum  prohibi- 
torum“:  „Die  Neigung,  welche  die  Engländer  am  meisten 
kultivieren,  ist  unzweifelhaft  diejenige  zur  Flagellation. 
Natürlich  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  Kute  in  allen 
katholischen  Ländern  von  den  Priestern  als  ein  Instrument 
zur  Befriedigung  der  eigenen  Lüsternheit  gebraucht  worden 
ist.  Auch  ist  der  Gegenstand  sehr  ernsthaft  und  wissenschaft¬ 
lich  von  einem  holländischen  Arzte  (Meibom)  behandelt 
worden.  Und  doch  hat  diesesLaster  sicher¬ 
lich  in  England  tiefer  Wurzeln  geschlagen 
als  irgendwo  anders,  und  nur  hier,  meine  ich, 
giebt  es  Männer,  die  mehr  Vergnügen  darin  finden  die 
Kute  zu  empfangen  als  sie  selbst  zu  geben.  Dies  ist  eine 
Thatsache  und  würde  die  Discretion  es  nicht  verbieten, 
■so  würde  es  leicht  sein,  Männer  in  den  höchsten  Stellungen 
in  der  Diplomatie,  Litteratur,  der  Armee  u.  s.  w.  namhaft 
zu  machen,  welche  gegenwärtig  dieser  Idiosynkrasie  huldigen, 
und  es  wäre  ebenso  leicht,  die  Orte  anzugeben,  die  sie 
m  diesem  Zwecke  besuchen.  —  Unzählige  Bücher 
in  englischer  Sprache  sind  diesem  Gegenstände  ganz  allein 
gewidmet ;  kein  englisches  Eroticum  ist  frei  von 
iSchilderungen  der  Flagellation  und  zahlreiche  separate 

22* 


340 


Bilder  stellen  Flagellationsscenen  dar.  Die  Rute  hat 
Mann  und  Weib  getrennt,  ihre  Anhänger  haben  die  vor¬ 
nehmsten  Töchterschulen  ihren  Gelüsten  dienstbar  gemacht, 
und  in  früherer  Zeit  sprach  man  auf  der  Bühne  ohne 
jede  Zurückhaltung  davon. 

Als  stringentester  Beweis  aber  für  die  Prävalenz 
Englands  in  Beziehung  auf  die  Flagellomanie  kann  die 
Thatsache  gelten,  dass  die  neuere  und  neueste  flagellan- 
tistische  Litteratur  in  Deutschland  und  Frankreich  sich, 
zum  weitaus  grössten  Teile  aus  Übersetzungen 
oder  Nachbildungen  englischer  Originalien, 
zusammensetzt.  Weder  die  Franzosen  noch  die- 
Deutschen  haben  eben  jemals  in  ihrem  Geschlechtsleben 
diese  Neigung  so  sehr  bekundet,  dass  sie  einen  Niederschlag 
von  dem  Umfange  in  der  erotischen  und  nichterotischen 
Litteratur  gefunden  hätte,  wie  dies  bei  den  Engländern 
der  Fall  ist.  Es  handelte  sich  bei  jenen  Völkern  immer 
nur  um  einzelne  Lebemänner  und  impotente  Individuen,, 
welche  zum  Gebrauch  der  Rute  als  Aphrodisiacum  griffen,, 
während  in  England  von  jeher  eine  wahre  Leidenschaft 
für  die  Rute  geherrscht  hat,  die  viel  allgemeiner  verbreitet 
war  als  in  anderen  Ländern.  „Alle  zarten  Rücksichten 
moderner  Humanität,“  sagt  T  a  i  n  e,  „waren  nicht  im. 
Stande,  bei  dieser  Nation  die  Faustkämpfe  und  den  Ge¬ 
brauch  der  Rute  zu  verdrängen.“^) 

1) Pisaiius  Fraxi  ,.Jndex  librorum  prohibitorum : 
being  notes  bio-biblio-iconographical  and  critical  on  curious  and 
uncommon  books“  London  1877  S.  XL — XLI. 

2)  H.  T  a  i  n  e  „Geschichte  der  englischen  Litteratur“,, 
Deutsch  von  L.  Kätscher,  Leipzig  1878  ßd.  I  S.  43.  Auch 
Eulenburg  nennt  England  das  „gelobte  Land,  die  Hochburg 
des  Flagellantismus“  (Eulenburg  „Sadismus  und  Masochis¬ 
mus“  Wiesbaden  1902  S.  60.) 


341 


Dass  es  das  specifiscli  englische  d.  h.  das  angel- 
'sächsische  und  nicht  das  keltische  bezw.  normannische 
Element  ist,  welches  mit  dieser  Neigung  behaftet  ist, 
beweist  die  Thatsache,  dass  die  alten  Angelsachsen 
den  Gebrauch  der  Kute  in  England  einführten  und  sowohl 
angelsächsische  Männer  als  auch  Frauen  mit  einer  wahren 
Leidenschaft  dieselbe  anwendeten,  die  den  Kulturhistorikern 
von  jeher  aufgefallen  istG-  Auch  Hector  France 
nennt  den  Gebrauch  der  Rute  eine  „Institution  ancienne 
■et  vraiment  nationale“  und  einen  „usage  tont  saxon“, 
der  durch  die  geheiligte  Tradition,  vor  allem  aber  durch 
Beispiel  und  Nachahmung  von  einer  Generation  auf  die 
andere  vererbt  worden  sei.^) 

Die  Verbreitung  der  Flagellomanie  unter  allen  Ständen 
und  Lebensaltern  der  englischen  Gesellschaft  ist  ein 
weiterer  Beweis  dafür,  dass  es  sich  um  eine  specifische 
^nationale  Eigentümlichkeit  und  nicht  etwa  um  eine  auf 
bestimmte  Kreise  von  Lebemännern  u.  dergl.  beschränkte 
Leidenschaft  handelt.  Der  Verfasser  der  Vorrede  zu  einer 
der  bekanntesten  englischen  flagellantistischen  Schriften 
bemerkt:  ,, Viele  Leute,  die  nicht  genügend  mit  der 
menschlichen  Natur  vertraut  sind,  glauben,  dass  die 
Leidenschaft  für  die  Flagellation  entweder  auf  Greise 
•oder  auf  die  durch  zu  viele  sexuelle  Ausschweifungen 
Erschöpften  beschränkt  sein  müsse.  Aber  das  ist  nicht 
der  Fall.  Denn  es  giebt  ebenso  viele  Jünglinge  und 
Männer  in  der  Vollkraft  des  Lebens,  welche  von  dieser 
Leidenschaft  ergriffen  werden,  als  alte  und  geschwächte 
derselben  huldigen“.  Der  Verfasser  führt  dann  Generäle, 

'  1)  T  h  0  m  a  s  Wriglit  „Domestic  manners  in  England 

•during  the  midie  ages“  London  1862  S.  56. 

H.  France  „Les  Nuits  de  Londres“  Paris  1900  S.  229. 


342 


Admiräle,  Obersten,  Kapitäne,  Bischöfe,  Kicliter,  Advokaten,. 
Lords,  Mitglieder  des  Unterhauses  und  Ärzte  als  Lieb¬ 
haber  der  Rute  an.^)  Ebendasselbe  lässt  sich  von  dem 
weiblichen  Geschlechte  sagen,  bei  dem  der  Gebrauch  der 
Rute  sich  nicht  bloss  auf  die  niederen  Stände  beschränkt, 
sondern  bis  in  die  höchsten  Kreise  hinein  verbreitet  ist, 
wie  aus  der  späteren  Darstellung  sich  ergeben  wird.O 

Taine  scheint  geneigt  zu  sein,  die  allgemeinste 
Ursache  der  Rutenleidenschaft  der  angelsächsischen  Rass& 
in  ihrer  Lebensweise  zu  erblicken,  vor  allem  in  dem  auch 
von  mir  im  vorigen  Kapitel  ausführlich  gewürdigten 
übermässigen  Fleisch-  und  Alkoholgenusse,  der  den  Ge¬ 
brauch  solcher  scharfen  Stimulantien,  wie  es  die  Flagellation 
ist,  mindestens  begünstigt.  Nach  dem  Trinken  und  dem 
Genüsse  unglaublicher  Mengen  Fleisches  sättigt  sich  das 
„plumpe  menschliche  Vieh  vollends  mit  Lärm  und 
Sinnenreiz‘^^) 

Mir  erscheint  der  übermässige  Gebrauch  der  Rut& 
in  England  wesentlich  als  ein  Ausfluss  der  Brutalität, 
die  ich  in  der  Einleitung  zu  Bd.  1.  als  einen  wesentlichen 
Zug  des  englischen  Nationalcharakters  ausführlich  ge¬ 
schildert  habe.  Insofern  nun  die  Brutalität  in  einem 
gewissen  Zusammenhänge  mit  der  Lebensweise  steht,  hat 
natürlich  auch  letztere  eine  ursächliche  Bedeutung  für 
die  Flagellomanie. 

Neben  der  Brutalität  spielt  aber  ein  anderes  Moment 
eine  Hauptrolle  in  der  Geschichte  des  englischen  Flagellantis- 

„Venus  School  Mistress  or  Birchen  Sport». 
Reprinted  from  the  edition  of  1788,  with  a  Preface  by  Mary 
Wilson,  containing  some  account  of  the  late  Mrs.  B  e  r  k  1  e  y 
Paris,  Societe  des  Bibliophiles  etc.  1898  S.  VIII.  (Neudruck). 

2)  Vergl.  auch  H.  France  a.  a.  0.  S.  229. 

3)  Taine  a.  a.  0.  S.  43 — 44. 


343  — 


mus.  Das  ist  das  geschlechtliche.  Um  dieses  zu 
verstehen,  muss  man  sich  die  allgemeinen  Beziehungen 
der  Flagellation  zur  Sexualität  vergegenwärtigen. 

Die  wissenschaftliche  Erkenntnis  dieser  Beziehungen 
ist  verhältnismäsig  neueren  Datums.  Der  erste  Arzt, 
welcher  sich  mit  der  Frage  des  erotischen  Flagellantismus 
litterarisch  beschäftigt  hat,  war  Johann  Heinrich 
Meibom  der  Ältere,  Professor  der  Medizin  in  Helmstädt. 

Die  Idee  zu  seiner  Schrift  entsprang  aus  einer 
Tischunterhaltung  bei  einem  vornehmen  Lübecker  Patrizier, 
hei  welcher  auch  die  Frage  auf  den  medicinischen  Wert 
der  Flagellation  kam,  welcher  von  einigen  Anwesenden 
bestritten  wurde.  Meibom  dagegen  trat  für  die  An¬ 
wendung  der  Flagellation  zu  medicinischen  Zwecken  ein 
und  schrieb  zur  weiteren  Erläuterung  seiner  Ansichten  im 
Jahre  1629  seine  berühmte  Abhandlung  über  den  „Nutzen 
des  Geissein  in  medicinischer  und  sexueller  Beziehung‘‘.^) 
Dieselbe  hat  das  bezeichnende  Motto: 

Delicias  pariunt  Veneri  crudelia  flagra; 

Dum  nocet,  illa  juvat;  dum  juvat,  ecce  nocet. 
Erberief  sich  darin  auf  Aristoteles,  Galen,  Caelius 
Aurelianus,  Rhazes,  Avicenna,  Petron,  Ovid^ 
Tibull,  Apulejus,  Menghus  Faventinus,  Pico 
dellaMirandula,  CoeliusRhodiginus  u.  A.  als 
Vorläufer  seiner  Theorie  und  erklärt  das  Geissein  für 
eines  der  mächtigsten  und  sichersten  Aphrodisiaca. 

Im  Jahre  1669  veranstaltete  der  dänische  Arzt 
Thomas  Bartholinus  eine  neue,  vortreffliche  Ausgabe 
der  Schrift  des  älteren  Meibom,  die  er  mit  einem  Briefe 

1)  J.  H.  Meibom  ins  „Tractatus  de  usu  flagrorum  in  re 
medica  et  Yenerea‘‘  Leyden  1629  —  2.  Ausgabe,  Lübeck,  1639  12®, 
48  S.  — Leyden  (Elzevir)  1643,  4®  —  London  1655,  32®  (nach¬ 
gedruckt  in  Paris  1757)  —  Kopenhagen  1669,  8®  — . 


344  — 


an  den  jüngeren  Meibom  begleitete,  welcher  neue 

interessante  Mitteilungen  über  das  Thema,  besonders 
über  die  Flagellation  in  Eussland  enthält,  und  durch  einen 

ebenfalls  dasselbe  Thema  behandelnden  Brief  des  jüngeren 
Meibom  ergänzt  wird.i) 

Dieses  Buch  wurde  später  von  Mercier  de  Compiegne 
ins  Französische  übersetzt  und  mit  neuen  Anmerkungen 
und  Zusätzen  versehen.^)  Bereits  vorher  war  eine 
englische  Übersetzung  erschienen,  an  die  noch  andere 
Abhandlungen  über  sexuelle  Fragen  angeschlossen  wurden. 

Der  zweite  berühmte  Autor  über  den  Flagellantismus 
nach  Meibom,  zugleich  der  erste  Geschichtsschreiber 
desselben,  war  der  Abbe  Boileau,  der  Bruder  des  be¬ 
rühmten  Dichters.  Sein  Werk“^),  das  im  Jahre  1700 
zuerst  Lateinisch  erschien,  dann  bald  ins  Französische 
übersetzt  wurde  ^),  behandelte  in  10  Kapiteln  die  religiöse 

0  „De  usii  flagrorum  in  re  medica  et  venerea,  lumborum- 
que  et  renum  officio,  Tliomae  Bartholini,  Joaiinis  Hen- 
rici  Meibomi  filii  etc.'‘  Kopenhagen  1669,  8^  —  Frankfurt 
1670  §0,  144  S. 

‘0  Mercier  de  Compiegne  „De  l’utilite  de  la  flagel- 
lation  dans  les  plaisirs  du  mariage  et  dans  la  me'decine“  Paris 
1792;  1795;  1800,  12^,  156  S. ;  Besan^on  1801.  8^.  100  S 

„A  Treatise  of  the  use  of  flogging  at  venereal  affairs. . . 
by  Henry  M  e  i  b  o  in  i  u  s ,  to  which  is  added  a  Treatise  of 
Hermaphrodites  etc. ;  a  Treatise  of  Flogging  etc.“  London  1718, 
12°,  68,  6  und  88  S.  mit  einem  Bilde,  welches  einen  Mann 
darstellt,  der  eine  Frau  geisselt,  während  eine  andere  zuscbaut. 
Deutsche  Übersetzung  „Von  der  Nützlichkeit  der  Geisselhiebe 
in  medizinischer  und  physischer  Beziehung  u,  s.  w.“  io;  Der 
Schatzgräber  u.  s.  w.  von  J.  Scheible,  Stuttgart  1847  Bd.  IV, 
S.  245—363. 

Ü  Boileau  „Historia  Flagellantium,  de  recto  et  ^^erverso 
flagrorum  usu  apud  christianos“  Paris  1700. 

Die  beste  Übersetzung  ist  die  des  Abbe  Grauet: 
„Histoire  des  Flagellans,  oü  Fon  fait  voir  le  bon  et  le  mauvais 
usage  des  Flagellations  parmi  les  chretiens,  par  des  preuves 
tirees  de  l’Ecriture  sainte,  etc,,  trad.  du  latin  de  M.  l’abbe 
Boileau,  docteur  de  Sorbonne“  Amsterdam  1732,  12® 


345 


Flagellation  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  in  polemischer  Weise,  indem  der  Verfasser 
überall  die  weltliche  und  sexuelle  Seite  der  „Disciplin“ 
hervorhebt.  Auch  betont  bereits  Boileau  nachdrücklich 
die  Gefahren  der  Verbreitung  des  Geisseins  durch  psychische 
Ansteckung  und  enthüllt  schonungslos  das  verderbliche 
Gebahren  gewisser  religiöser  Sekten  und  Orden  in  dieser 
Beziehung.  Kein  Wunder,  dass  das  Bnch  von  seiten  der 
letzteren,  namentlich  der  Jesuiten  die  heftigsten  Angriffe 
erfuhr.  Diesen  Leuten  antwortete  der  Dichter  Boileau, 
die  Partei  seines  Bruders  ergreifend,  mit  folgenden  Versen: 

Non,  le  livre  des  Flagellans 
N’a  jamais  condamne',  lisez  ]e  bien  mes  Peres, 

Ces  rigidite's  salntaires 
Que  pour  ravir  le  Ciel,  saintement  vlolens, 

Exercent  siir  leurs  corps  tant  de  Cliretiens  austeres. 

II  blame  seulement  cet  abus  odieux 
D’etaler  et  d’offrir  aux  yeux 
Ce  qne  leur  doit  toujours  cacher  la  bienseance, 

Et  combat  xivement  la  fansse  pie'te, 

Qni,  SOUS  couleur  d’eteindre  en  nous  la  volupte', 

Par  fausterite  meme  et  par  la  penitence 
Sait  allumer  le  feu  de  la  liibricite'. 

Boileau’s  Werk  ist  von  dem  Engländer  J.  L. 
Delolme,  der  ein  Exemplar  desselben  in  Italien  kaufte, 
einer  gründlichen  Umarbeitung  unterzogen  und  mit  einem 
interessanten  Kommentar  versehen  worden.  Das  Ganze 
erschien  1777  in  englischer  Sprache.^)  Es  ist  ein 
schätzbares  Werk. 

b  Fergl.  z  B.  J.  B.  Thiers  „Critique  de  Phistoire  des 
Flagellans  et  justification  de  Pusage  des  disciplines  volontaires“. 
Paris  1703. 

„The  History  of  the  Flagellants,  or  the  Advantages  of 
Discipline ;  Being  a  Paraphrase  and  Commentary  on  the  „Historia 


346 


Im  Jahre  1720  veröffentlichte  Martin  Schurig 
ein  recht  bemerkenswertes  Kapitel  über  den  erotischen 
Flagellantismus  in  seiner  grossen  „Spermatologia  historico- 
medica“.^)  Er  erwähnt  in  einem  besonderen  Abschnitt 
auch  eine  besondere  Spezialität  der  Flagellation,  die 
sogenannte  „Urtication“  (s.  darüber  unten). 

Vom  ärztlichen  Standpunkte  hat  der  Genfer  Arzt 
Fran9ois  Amedee  Doppet  die  Bedeutung  der  Flagel¬ 
lation  als  Aphrodisiacum  untersucht  und  darüber  eine 

kleine,  aber  inhaltreiche  Schrift  veröffentlicht.^) 

Das  1825  erschienene  treffliche  Werk  von  Lan- 

juinais  behandelt  die  Flagellation  als  Strafmittel,  bietet 
aber  auch  mannigfache  Beziehungen  zur  geschlechtlichen 
Flagellation  dar.^) 


Flagellantiuin“  of  the  Abbe  Boileau,  Doctor  of  the  Sorbonne 
etc.  By  One  who  is  not  Doctor  of  the  Sorbonne  (J.  L.  D  e  - 
lolme),  London  1777,  gr.  8^.  Neuausgabe  unter  dem  Titel 
„Memorials  of  Human  Superstition  etc.“  London  1784. 

Martin  Schurig  „Spermatologia  Historico-Medica“ 
Frankfurt  a.  M.  1720  S.  253 — 258. 

„Traite  du  fouet,  et  de  ses  effets  sur  le  physique 
de  l’amour,  ou  Aphro  disiaqu  e  externe.  Ouvrage  medico- 
philosophique,  suivi  d’une  dissertation  sur  les  moyens  d’exciter 
aux  plaisirs  de  l’amour^  parD***  (F.  A.  Doppet),  me'decin“, 
(Paris)  1788,  12®,  XVIII,  108  S.  —  Deutsche  Übersetzung;  „Das 
Geissein  und  seine  Einwirkung  auf  den  Geschlechtstrieb  oder 
das  äusserliclie  Aphrodisiacum,  eine  medicinisch-philosophische 
Abhandlung,  nebst  einem  Anhang  über  die  Mittel,  welche  den 
Zeugungstrieb  aufregen.  Von  D***“  in:  Der  Schatzgräber 
in  den  litterarischen  und  bildlichen  Seltenheiten  u.  s.  w.  von 
J.  Scheible,  Stuttgart  1847,  Theil  IV  S.  367 — 424. 

3)  J.  D.  Lanjuinais  „La  bastonnade  et  la  Flagellation 
pe'nales,  conside'rees  chez  les  peuples  anciens  et  chez  les 
modernes“.  Paris  1825. 


347 


Ein  höchst  wertvolles,  mit  echt  deutscher  Gründlich¬ 
keit  verfasstes  Buch  ist  Ernst  Günther  Förstemanns 
(Gymnasiallehrers  in  Nordhausen)  Monographie  über  dio 
christlichen  Geisslergesellschaften  des  Mittelalters  aus  dem; 
Jahre  1828.1) 

Auch  Giovanni  Frusta’s  1834  zuerst  erschienene 
Schrift  „Der  Flagellantismus  und  die  Jesuitenbeichte‘^ 
beleuchtet  die  geschlechtlichen  Missbrauche  im  religiösen 
Flagellantismus  auf  grelle  Weise,  enthält  aber  aucb 
sonst  zahlreiche  interessante  Details  und  originelle  An¬ 
schauungen.“) 

Erwähnung  verdienen  die  in  den  40iger  Jahren  er¬ 
schienenen  Schriften  von  Mailet^),  Corvin^)  und  der 
Artikel  „Rute“  in  dem  Wörterbuche  ,,Eros“. 

Die  gewiss  wertvollste  Schrift  über  den  Flagellantismus 
ist  niemals  veröffentlicht  worden,  existirt  vielleicht  aber 
noch  im  (unbeendigten)  Manuscript.  Es  dürfte  nur 
wenigen  bekannt  sein,  dass  der  gelehrte  Diplomat  Karl 
Freiherr  von  Martens  (1790 — 1862;  vergl.  über 
ihn  Brockhaus’  Konversationslexikon,  14.  Aufl.  Bd.  XL 
S.  635)  ein  grossartiges  Werk  über  die  Flagellation 
lange  Jahre  vorbereitete,  aber  nicht  vollenden  konnte,  da 
er  durch  den  Tod  daran  gehindert  wurde.  Der  Bibliograph 
Graesse  berichtet  darüber  in  seinem  „Tresor  de  livres 
rares“:  „Es  ist  schade,  dass  das  seltsame  Werk  über  die 


0  E.  G.  Förste  mann.  „Die  christlichen  Geisslerge- 
sellscliaften“  Halle  1828. 

2)  G.  Frust a  „Der  Flagellantismiis  und  die  Jesuiten¬ 
beichte“  Stuttgart  1834.  8^,  VIII,  315  S.  —  Neue  Ausgabe  1846^ 

3)  Felix  Mailet  „Les  Flagellants“  Montauban  1843-. 

4)  Corvin  „Die  Geissler“.  Leipzig  1847. 

G  „Eros“  Stuttgart  1849  ßd.  II. 


348 


Kasteiungen  und  Strafen  der  Mönche  und  Nonnen,  welches 
der  Baron  Karl  von  Martens  unternommen  hat,  wobei 
er  von  der  Ansicht  ausging,  dass  alle  diese  Massnahmen 
nur  zum  Zwecke  der  Befriedigung  der  ge¬ 
schlechtlichen  Begierden  erfunden  und  aus ge¬ 
führt  worden  seien,  nicht  beendigt  worden  ist.  Als 
Grundlage  für  seine  Untersuchungen  über  diesen  Gegen¬ 
stand  hatte  er  eine  beinahe  vollständige  Sammlung  von 
Geissei-  und  Strafinstrumenten  jeder  Art  zusammengehracht, 
welche  nach  seinem  Tode  zu  Dresden  öffentlich  versteigert 
wurde.“ 

Als  ein  nur  teilweiser  Ersatz  dieses  gross  angelegten 
Werkes  kann  das  englische  Werk  über  die  Geschichte  der 
Rute  von  James  G.  Bertram  betrachtet  werden,  der 
dasselbe  zuerst  1870  unter  dem  Pseudonym  ,,Rev.  Wm. 
Cooper“  veröffentlichte.^)  Trotz  des  Mangels  der  ge¬ 
naueren  Quellenangaben  bietet  dieses  neuerdings  auch  ins 
Deutsche  Q  übersetzte  Buch  noch  immer  die  beste  Über¬ 
sicht  über  die  verschiedenen  Anwendungsarten  der  Rute 
und  eine  relativ  vollständige  Sammlung  des  in  den  früher  ‘ 
genannten  Werken  zerstreuten  Materiales. 

Dagegen  kann  die  schöne  Abhandlung  über  Flagel¬ 
lation  von  Pisanus  Fraxi  (1879)  als  ein  muster¬ 
gültiges  Specimen  bibliographischer  und  litterargeschicht- 

9  J.  G.  Th.  Graes  se  „Tre'sor  de  livres  rares  et  precieux“ 
Dresden  1863  Rd.  IV  S.  420. 

9  „Flagellation  and  the  Flagellants.  A  History  of  the  Rod 
in  all  countries  from  the  earliest  period  to  the  present  time. 
By  the  Rey.  Wm.  Cooi:)er,  B.  A.  With  numeroiis  illustra- 
tions.“  Edinburg  1870  —  2.  Auflage,  London,  J.  C.  Hotten, 
1873,  8^  —  3.  Aufl.  London  1896. 

9  „Der  Flagellantismus  und  die  Flagellanten.  Eine  Ge¬ 
schichte  der  Rute  in  allen  Ländern“.  Deutsch  von  Hans 
Dohrn,  Dresden  1899,  8^. 


349 


liclier  Forschung  bezeichnet  werden,  welches  für  weitere 
Untersuchungen  auf  diesem  Gebiete  vorbildlich  sein  solltet) 
Vielfach  hat  die  neuere  Litteratur  über  Flagellation 
aus  den  letztgenannten  Werken  geschöpft,  so  Michal  in 
seiner  „Geschichte  des  Stockes“,  von  Hurlbert  ins 
Englische  übersetzt“),  ferner  JeandeVilliotin  seinen 
verschiedenen  Elaboraten^),  die  aber  immerhin  manches 
Neue  bringen,  ebenso  wie  die  besonders  die  Flagellation 
in  der  belletristischen  Litteratur  berücksichtigende  Studie 
von  Ullo  und  das  brauchbare  Buch  von  Hansen.^) 

Die  letzten  der  Erwähnung  werten  Autoren  über  die 
Flagellation  sind  A.  Eulenburg;,  der  in  seiner  neuesten 
Schrift  diesem  Gegenstände  sehr  interessante,  besonders 
in  kritischer  und  litterargeschichtlicher  Hinsicht  beachtens¬ 
werte  Ausführungen  widmet  ^),  und  J.  Bloch,  der  eine 
neue  Theorie  der  Flagellation  aufstellt,  die  er  aus  ihren 
physiologischen  Elementen  ableitet  (siehe  unten). 

9  P.  Fraxi  „Centuria  librorimi  absconditorum“  London 
1879,  S.  442—474. 

„The  story  of  the  stick  in  all  ages  and  lands.  Translated 
and  adapted  from  the  French  of  Antony  Real  (Fernand 
Micha  1).  A  new  edition  with  an  introducting  letter  by 
William  Henry  Hurlbert,  and  the  illustrations  by 
Alfred  Thompson,  New  York  1892,  8L 

3)  ,, Etüde  sur  la  tlagellation  aux  points  de  Yiie  me'dical 
et  historique“  Paris  1899 ;  „La  flagellation  ä  travers  le  monde“ 
Paris  1899  ^  „Curiosites  et  anecdotes  sur  la  flagellation“  Paris 
1900.  „En  Virginie“,  Paris  1901  (mit  Bibliogra2:)hie). 

Ullo  „Die  Flagellomanie“  Dresden  1901;  D.  Hansen 
„Stock  und  Peitsche.  Ihre  Anwendung  und  ihr  Missbrauch  im 
modernen  Straf-  und  Erziehungswesen“.  2.  Aufl.  Dresden  1902, 
80,  213  S. 

5)  A.  Eulenburg  „Sadismus  und  Masochismus“  Wies¬ 
baden  1902  S.  57 — 68  (mit  guter  Bibliographie). 

0)  J.  Bloch  „Beiträge  zur  Aetiologie  der  Psychopathia 
sexualis“  Dresden  1903  Teil  II  S.  75 — 97. 


350 


Tor  der  nähern  Betrachtung  der  einzelnen  Elemente 
-und  Beziehungen  der  sexuellen  Flagellation  und  ihrer 
Ausübung  in  England  soll  die  Frage  beantwortet  werden, 
ob  das  Geissein  als  Aphrodisiacum  im  Altertum  bekannt 
war.  Zwei  erfahrene  Autoren  der  Gegenwart  haben  die 
Frage  im  allgemeinen  verneint. 

P  i  s  a  n  u  s  F  r  a  x  i  sagt  :  „Es  ist  der  Erwähnung 
wert,  dass  den  Alten  die  Flagellation  als  ein  Aphro- 
■  disiacum  unbekannt  gewesen  zu  sein  scheint.  Die  Geissei 
wurde  zwar  in  Rom  freigebig  gegen  Sklaven,  Kinder  und 
gelegentlich  sogar  gegen  Schauspieler  in  Anwendung 
gebracht.  Zweifellos  empfanden  auch  einige  der  Aus- 
peitscher,  seien  es  Herren  oder  Eltern,  gemäss  der  Bruta¬ 
lität  oder  Grausamkeit  ihrer  Natur,  Vergnügen  bei  dem 
Werke.  Aber  ich  kenne  keine  einzige  Stelle  bei 
griechischen  oder  römischen  Schriftstellern,  welche 
vermuten  Hesse,  dass  Flagellation  als  ein  direktes 
Erregungsmittel  des  Geschlechtstriebes  benutzt  wurde. 
Die  Schläge,  welche  von  den  Luperci  bei  dem  Feste  ihres 
Gottes  ausgeteilt  wurden,  waren  Symbole  der  Reinigung 
und  Fruchtbarkeit,  aber  durchaus  nicht  auf  Hervorrufung 
einer  geschlechtlichen  Begierde  berechnet.“ 

Auch  Eulenbur  g^)  meint,  dass  sich  bei  den 
Schriftstellern'  des  klassischen  Altertums  keine  ganz 
sicheren  Spuren  einer  Bekanntschaft  mit  den  aphrodi¬ 
sischen  Eigenschaften  der  Flagellation  nachweisen  lassen. 
Sogar  der  Missbrauch  der  Flagellatioii  als  Strafmittel  sei 
in  jenen  Zeiten  nicht  so  sehr  hervorgetreten,  da  die 

0  P.  Fraxi  „Centuria  librorum  absconditorum“  S.  442 
Anmerkung. 

2)  A.  E  u  1  e  n  b  u  r  g  „Sadismus  und  Masochismus“  S,  57 
<bis  58;  S.  63. 


351 


Geisselung  eines  Freien  den  niclitorientalisclien  Nationen 
widerstrebt,  der  Sklave  aber  als  Sache  gegolten  habe. 

Wenn  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  die  sexuelle 
Flagellation,  wie  sie  im  christlichen  Mittelalter  und  in 
der  Neuzeit  in  ständiger  Verbindung  mit  religiösen 
Gebräuchen  (Geisselfahrten,  „Disciplin“  der  Mönche  und 
Nonnen  u.  a.  m.)  aufgetreten  ist,  dem  Altertum  so  gut  wie 
unbekannt  gewesen  ist,  so  liegen  doch  unzweifelhafte 
Zeugnisse  dafür  vor,  dass  die  sexuell  stimulierende 
Wirkung  des  Geisseins  den  Alten  sehr  wohl  bekannt 
gewesen  ist  und  wahrscheinlich  ebenso  häufig  wie  jetzt 
von  einzelnen  Lebemännern  absichtlich  herbeigeführt 
wurde.  —  Die  1766  erschienene  Schrift  über  den  ,, Ge¬ 
brauch  der  Alten,  ihre  Geliebte  zu  schlagen“  enthält  nur 
sehr  wenig  Beweiskräftiges  für  die  Existenz  der  erotischen 
Flagellation  im  Altertume.  D  o  p  p  e  t^)  sagt:  ,, Wollüstige 
Eeibungen,  hervorgebracht  mittelst  Rutenstreiche  und 
ähnlicher  Mittel,  kannten  schon  die  Venuspriesterinnen 
zu  Babylon,  Tyrus,  Athen  und  Rom,  nur  waren  sie  viel¬ 
leicht  weniger  elegant  als  die  Methoden,  deren  sich  ihre 
heutigen  Berufsverwandtinnen  in  London,  Paris,  Neapel 
und  Venedig  bedienen“,  macht  aber  keine  näheren 
Quellenangaben. 

Wenn  man  bedenkt  —  um  zunächst  auf  die  Ver¬ 
hältnisse  bei  den  Griechen  einzugehen  — ,  dass  bei 
der  sexuellen  Flagellation  (wenigstens  der  aktiven)  die 
kallipygischen  Reize  des  gepeitschten  Individuums  eine 
grosse  Rolle  spielen  und  sich  nun  daran  erinnert,  dass 
die  Griechen  sogar  eine  Venus  Kallipygos  verehrten,  der 
zu  Ehren  die  berüchtigten  kallipygischen  Spiele  veranstaltet 


D  0  p  p  e  t  „Das  Geissein  u.  s.  w.“  a.  a.  0.  S.  377. 


352 


wurden  (s.  darüber  unten),  bei  welchen  wollüstige  Be¬ 
wegungen  jenes  Körperteiles  den  Hauptreiz  für  die  Zu¬ 
schauer  bildeten,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  auch 
die  Beziehungen  der  Flagellation  zu  diesen  Dingen  nicht 
unbekannt  gewesen  sind.  Für  diese  Kenntnis  der  erotischen 
Flagellation  bei  den  Hellenen  spricht  auch  die  vielsagende 
Thatsache,  dass  gewisse  Hetären  Beinamen  führten,  die 
auf  ihren  Ruf  als  Flagellantin  hindeuten  wie  z.  B.  die 
KafieTVJtrj  (von  Axtfiuo  =  schmieden  und  tvjt?]  der  Schlag), 
von  deren  „lieblicher  Hand“  geschlagen  zu  werden 
Timokles  als  eine  hohe  Wonne  preist.^)  Auch  die  Er¬ 
zählung  des  Lucian  über  den  Cyniker  Peregrinus 
Proteus,  der  sich  vor  versammeltem  Volke  der  Mastur¬ 
bation  hingiebt  und  sich  dabei  von  den  ümherstehenden 
schlagen  lässt^),  sowie  die  unter  Aufsicht  von  Priesterinnen 
alljährlich  stattfindende  öffentliche  Auspeitschung  junger 
Männer  im  Tempel  zu  Sparta^)  weisen  deutliche  erotische 
Nüancen  auf. 

Mit  absoluter  Sicherheit  lässt  sich  aber  die  Existenz 
der  sexuellen  Flagellation  bei  den  alten  Römern  be¬ 
haupten.  Josua  Eiselein  hat  einige  sehr  wichtige 
Belegstellen  dafür  in  dem  Commentar  zu  seiner  deutschen 
Übersetzung  von  Butler’s  „Hudibras“  mitgeteilt.^)  So 
spricht  bereits  P  1  a  u  t  u  s  nur  allzudeutlich  von  der 
„V  i  r  g  a  r  u  m  1  a  s  c  i  v  i  a .“  Auch  das  uralte  Fest  der 


1)  Vergl.  darüber  J.  Bloch  „Beiträge  zur  Ätiologie  der 
Psychopathia  sexualis.“ 

2)  Delolme  a.  a.  0.  S.  86. 

3)  ibidem  S.  73 — 74. 

4)  ,,S  a  m  ii  e  1  B  u  1 1  e  r  s  Hudibras,  ein  schalkhaftes  Helden¬ 
gedicht“  Verdeutscht  und  commentirt  von  Josua  Eiselein, 
Freiburg  i.  B.  1845  S.  102  u.  S.  188. 


353 


Luperealien  lasse  sich  schwerlich  ohne  die  Voraussetzung 
einer  Kenntnis  der  aphrodisischen  Wirkungen  der  Flagellation 
erklären.  Als  die  Frauen  in  Kom  und  Italien  nur  schwer 
concipirten,  verkündete  Juno,  die  man  um  Kat  und  Bei¬ 
stand  angerufen  hatte: 

Italidas  matres,  inquit,  caper  hirtus  inito ! 

Zum  Glücke  war  ein  Augur  dabei,  der  die  Sache 
cum  grano  salis  verstand,  einen  Bock  zu  opfern,  und  mit 
Riemen  aus  desen  Fell  die  Hinterbacken  der  Weiber  zu 
peitschen  befahl,  welches  sie  fruchtbar  machen  würde. 
Daraus  entwickelte  sich  dann  das  Luperealienfest,  welches 
am  15.  Februar  jedes  Jahres  gefeiert  wurde,  bei  welchem 
die  nackt  umherlaufenden  Weiber^)  von  den  ebenfalls 
nackten  Luperci  mit  ziegenledernen  Riemen  geschlagen 
wurden.. 

Die  folgende  von  Eisei  ein  angeführte  Stelle  des 
Dichters  Ausonius  ist  ebenfalls  recht  bezeichnend  für  die 
Neigung  der  Römer  zur  Flagellation: 

Sit  mihi  talis  amica,  velim, 

Jurgia  ([uae  temere  incipiat, 

Nec  studeat  quasi  casta  loqui; 

Piilchra,  procax,  petulante  manu, 

V^erbeia  quae  ferat  et  regerat, 

Caesaque  ad  oscula  confugiat. 

Besonders  beliebt  war  bei  den  Römern  jene  Art  der 
erotischen  Flagellation,  die  man  Urtication  nennt  d.  h. 
das  Geissein  mit  Brennnesseln,  dieses  „irritamentum  Yeneris 
languentis  et  acres  Divitis  urticae“  wie  luvenal  sagt. 
In  Petron’s  „Satyricon“  ergreift  Enothea,  um  dem  im- 


1)  Vergl.  darüber  die  Bemerkung  von  W.  H  e  i  n  s  e  in 
seiner  Übersetzung  des  Petronius,  Neudruck  von  A. 
W  e  i  g  e  1 ,  Leipzig  1898  Bd.  I  S.  43. 


23 


354 


potenten  Encolpius  zu  neuen  Kräften  zu  verhelfen,  ein 
„Büschel  grüner  Nesseln,  und  fing  an,  bedächtlich  alle 
Teile  unter  dem  Nabel  zu  hauen“. 

Fe  st  US  berichtet  sogar  von  Leuten,  die  sich  gegen 
Bezahlung  auspeitschen  Hessen  und  die  man  „Flagratores“ 
nannte.^)  Offenbar  dienten  dieselben  den  sexuellen  Gelüsten 
aktiver  Flagellanten. 

Interessant  ist  auch  eine  Bemerkung  im  Talmud, 
dass  Schlagen  auf  den  Kücken  Ursache  des  Samen¬ 
flusses  d.  h.  der  Ejaculation  sein  könne. 

Nach  alledem  kann  wohl  nicht  mehr  bezweifelt  werden, 
dass  die  Alten  bereits  die  Flagellation  als  ein  Aphrodisia- 
cum  gekannt  und  benutzt  haben.  Jedoch  sollte  die 
sexuelle  Flagellation  erst  im  Mittelalter  eine  eigen¬ 
tümliche  systematische  Ausbildung  erhalten  durch 
ihre  Verquickung  mit  der  Religion,  wie  sie  uns  in  den 
Erscheinungen  des  Flagellantismus  oder  der  Geissler- 
fahrten  und  der  klösterlichen  Di  sei plin  entgegentritt. 
Von  dieser  eigentümlichen  Richtung  der  sexuellen 
Flagellation  sagt  Frust a:  „Man  muss  dies  Gemälde  des 
Flagellantismus  auch  als  Krankengeschichten  des  mensch¬ 
lichen  Verstandes,  als  Denkmale  des  Wahnsinns,  als 
Nachtstücke  der  Phantasie,  als  eine  anatomische  Galerie 
von  moralischen  Skeletten  und  Abnormitäten  betrachten“.^) 
Dieser  Schriftsteller  vindicirt  den  christlich-ger¬ 
manischen  Völkern  den  zweifelhaften  Ruhm,  das  „Prügel- 

0  P  e  t  r  0  n  i  u  s ,  übersetzt  von  II  ei  ns  e  Bd.  II  S.  154. 

2)  D  e  1  0 1  m  e  a.  a.  0.  S.  85. 

3)  J.  Pr  euss  „Die  männlichen  Genitalien  und  ihre  Krank¬ 
heiten  nach  Bibel  und  Talmud“  in  Wiener  med.  Wochenschrift 
1898  Nr.  14. 

4)  Frusta  a.  a.  0.  S.  VH. 


355 


oder  Flagellationssystem“  nicht  nur  theoretisch,  sondern 
auch  praktisch  mit  Eaftinement  am  weitesten  ausge¬ 
bildet  zu  haben.  Der  „Geissellustsport  mit  dem  Kecord 
des  Heiligengeruches“, i)der  in  der  fürchterlichen  psychischen 
Epidemie  der  Geisselfahrten  des  13.  und  14.  Jahrhunderts 
solche  wahnvvitzigen  Krämpfe  von  Wollust  und  Schmerz 
hervorrief,  beschränkte  sich  in  späteren  Zeiten  mehr  auf 
■die  „Disciplin“,  deren  conditio  sine  qua  non  zuchtlose 
Entblössung  war,  und  die  sich  bald  aus  einer  „oberen“ 
in  eine  „untere“  verwandelte,  bei  welcher  letzteren  die 
Geisselung  des  Gesässes^)  die  Hauptrolle  spielte.  Hierüber 
finden  sich  in  den  geschichtlichen  Darstellungen  des  Mönchs¬ 
tums,  der  Klöster,  der  Jesuiten  und  anderen  geistlichen 
Orden  ausführliche  Nachrichten.^) 

Sicherlich  hat  die  noch  bis  in  die  neueste  Zeit  geübte 
religiöse  Flagellation  nicht  wenig  zur  Verbreitung  der 
Flagellation  auch  in  weltlichen  Kreisen  beigetragen,  da 
die  Mönche  und  Nonnen  bald  von  der  Selbstgeisselung 
und  Geisselung  unter  einander  zur  Flagellation  ihrer 
weltlichen  Beichtkinder  übergingen  und  auf  diese  Weise 
unzählige  aktive  und  passive  Liebhaber  der  Kute 
künstlich  züchteten,  während  diese  hinwiederum  durch 
Bethätigung  ihrer  so  erworbenen  Neigungen  für  eine 
weitere  Verbreitung  derselben  sorgten. 

Betrachtet  man  daher  die  „Disciplin“  vom  rein  mensch¬ 
lichen  Standpunkte  aus,  so  kann  man  Mich  eiet  nicht 


1)  E  u  1  e  n  b  u  r  g  a.  a.  0.  S.  63. 

2)  In  der  Nonnensprache  wird  das  Gesäss  auch  als  „Fuss“ 
bezeichnet.  Vergl.  F.  J.  Lipowsky  „Gemälde  aus  dem 
Nonnenleben“  4.  Aufl.  München  1828  S.  116. 

3)  Vergl,  auch  Eulenburg  a.  a.  0.  S.  63—66. 

23* 


356 


Unrecht  geben,  wenn  er  ausruft;  „Quoi!  lorsque  dans  les 
bagnes  meme,  sur  des  voleurs,  des  meurtriers,  sur  les  plus 
feroces  des  bommes,  la  loi  defend  de  frapper,  —  vous,  les- 
bommes  de  la  gräce,  qui  ne  parlez  que  de  charite,  de  la 
bonne  sainte  Vierge  et  du  doux  Jesus,  vous  frappez  des- 
femmes  .  .  .  que  dis-je,  des  filles,  des  enfants,  ä  qui  Ton 
ne  reprocbe  apres  tout  que  quelques  faiblesses.“i) 


Wenn  wirklich  die  sexuelle  Flagellation  d.  b.  das- 
Schlagen,  Geissein,  Peitschen  zum  Zwecke  der  Erregung 
bezw.  Steigerung  der  Libido  sexualis  oder  als  Begleit¬ 
erscheinung  des  Geschlechtsaktes,  sogar  als  dessen  Surrogat 
aus  natürlichen  Erscheinungen  der  Vita  sexualis  sich 
erklären  lässt,  so  darf  man  voraussetzen,  dass  dieselbe 
nicht  nur  beim  Menschen  vorkommt,  sondern  sich  auch 
im  Tierreiche  nachweisen  lässt.  In  der  That  geht  dies 
aus  den  nachfolgenden  interessanten  Mitteilungen  des 
Physiologen  Bur  dach  mit  Sicherheit  hervor. 

„Bei  manchen  Tieren  finden  sich  eigentümliche 
Organe  zur  Reizung.  So  hat  der  Scorpion  unter  der 
Klappe  der  Zeugungsöffnung  auf  jeder  Seite  einen  Kamm, 
der  wahrscheinlich  als  Palpe  dient,  womit  Männchen  und 


L  J.  Mi  dielet  „Le  Pretre,  la  Femme  et  la  Familie“ 
Paris  1875  Teil  II  Capitel  V.  —  Nach  Frusta  (S.  315)  sollen 
besonders  die  italienischen  Damen  des  16.  Jahrhunderts,  durch 
die  Klostererziehung  dazu  vorbereitet,  durch  die  Jesuiten  ge¬ 
leitet  und  durch  schlüpfrige  Lektüre  zu  allerlei  lüsternen 
Phantasien  verführt,  einen  bedeutenden  Antheil  an  der 
Verbreitung  der  Neigung  zur  Flagellation  gehabt  haben. 


357 


Weibchen  sich  gegenseitig  streicheln.  Bei  Helix  und  Par¬ 
macella  findet  sich  in  einem  blinden  Anhänge  der  gemein¬ 
schaftlichen  Zeugungshöhle  der  sogenannte  Liebespfeil,  ein 
spitziges,  kalkiges,  vierschneidiges  Körperchen,  das  auf 
einer  kleinen  Warze  steht;  nachdem  sie  die  Zeugungshöhle 
nach  aussen  umgestülpt  haben,  schleudern  sie  den  Pfeil 
hervor  und  verwunden  einander  damit  an  irgend  einer 
Stelle;  jede  Schnecke  fürchtet  sich  davor,  und  versteckt 
sich  in  ihr  Haus,  wie  sie  den  Pfeil  der  anderen  erblickt, 
bis  er  sie  endlich  unerwartet  erreicht,  wobei  er  dann 
abbricht,  um  späterhin  sich  von  Neuem  zu  erzeugen. 
Andere  Tiere  verwunden  sich  auf  andere  Weise;  Der 
Hahn  hackt  die  Hühner  auf  Hals  und  Hinterkopf,  und 
der  männliche  Aguti  bringt  dem  Weibchen  eine  grosse 
Bisswunde  im  Nacken  bei;  ebenso  beisst  der  wilde  Kater 
die  Katze  in  den  Nacken.  Bei  Anderen  besteht  die 
Beizung  in  einem  sanften  Schlagen:  so  schlägt 
der  weibliche  Fisch  mit  dem  Kopfe  an  den 
Hinterleib  des  Männchens,  die  Tritonen  legen 
die  Köpfe  aneinander,  das  Männchen  richtet 
den  Kamm  auf,  bewegt  ihn  rechts  und  links, 
und  schlägt  mit  dem  gekrümmten  Schwänze 
das  Weibchen;  das  Männchen  von  Salarnandra 
exigua  beugt  den  Schwanz  nach  vorn,  bewegt 
ihn  sehrschnell, undschlägtdanndasWeibchen 
damit,  das  von  Salarnandra  platycauda  stellt 
sich  zur  Seite,  klammert  sich  mit  denVorder- 
füssen  an,  schlägt  mit  dem  Schwänze  das 
Wasser,  nähert  ihn  dann  dem  Weibchen  und 
schlägt  es  damit.“^) 

K.  F.  Bur  da  eil  „Die  Physiologie  als  Erfahrungswissen¬ 
schaft“  Leipzig  1826,  Bd.  I,  S.  433. 


258 


Es  ergiebt  sich  hieraus,  dass  auch  bei  Tieren  gewisse 
schmerzhafte  Manipulationen  vorgenommen  werden,  um 
den  Geschlechtstrieb  zu  erregen  und  zu  steigern.  Diese 
schmerzhaften  Manipulationen  bestehen  aus  Bissen,  Stichen, 
hauptsächlich  aber  aus  Schlägen.  Die  Vorgänge  bei 
Tritonen  und  Salamandern  kann  man  als  eine  typische  Fla¬ 
gellation  ante  coitum  auffassen. 

Beim  Menschen  kann  die  sexuelle  Flagellation,  wenn 
sie  auch  an  sich  gewiss  nichts  Normales  darstellt,  doch 
aus  den  natürlichen  Begleiterscheinungen  des  gewöhnlichen 
Geschlechtsaktes  abgeleitet  werden. 

Nach  Bloch  ist  deshalb  die  Flagellation  der  haupt¬ 
sächliche  Modus  der  Bethätigung  sadistischer  Neigungen 
geworden,  weil  gerade  „bei  ihr  sich  alle  physiologischen 
sadistischen  Begleiterscheinungen  des  geschlechtlichen 
Verkehrs  vereinigen  und  stärker  potenziert  zu  Tage  treten. 
Der  Sadist  kann  nur  bei  der  Flagellation  das  vollstän¬ 
dige  Ensemble  der  aetiologischen  Momente  gemessen,  die 
die  sadistischen  Lustgefühle  in  ihm  wachrufen.  Die 
Flagellation  wird  daher  ganz  allgemein  am  besten  aus 
einer  Nachahmung  und  einer  bewussten  Synthese 
aller  physiologisch  auftretenden  sadistischen  Begleiter¬ 
scheinungen  des  Coitus  erklärt.“^) 

Gewisse  Äusserungen,  Bewegungen,  Farbenverände¬ 
rungen  des  flagellierten  Individuums  sind  solchen  Er¬ 
scheinungen  beim  Geschle(ihtsakte  ähnlich  und  erwecken 
daher  ähnliche  Ideenassociationen,  welche  geschlechtliche 
Empfindungen  wachrufen. 

Wenn  wir  nun  die  einzelnen  Motive  der  sexuellen 
Flagellation  untersuchen,  wobei  zunächst  vorausgesetzt  sei,. 


1)  J.  Bloch  a.  a.  0.  S.  76. 


359 


dass  es  sich  um  die  am  meisten  übliche  Form  derselben, 
die  Geisselung  des  Gesässes,  die  sogenannte  „untere  Dis- 
ciplin“  handle,  so  tritt  uns  zunächst  ein  von  diesem 
Körperteile  ausgehender  rein  aesthetischer  Reiz  als 
eine  mittelbare  Ursache  der  Flagellation  entgegen. 
Delol  me^)  erzählt,  wie  eine  alternde  Dame,  erschreckt 
über  die  Runzeln  ihres  Gesichtes,  vor  einem  grossen 
Spiegel  den  übrigen  Körper  erblickte  und  zu  ihrem*  Ent¬ 
zücken  entdeckte,  dass  die  Formen  jenes  Teiles  noch 
tadellos  schön  waren.  Er  führt  dann  weiter  aus,  dass  der 
häufige  Anblick  des  Gesässes  auf  viele  Menschen  einen 
sehr  starken  Reiz  ausübe  und  so  die  Gedanken  auf  diese 
Gegend  gelenkt  würden,  wodurch  eine  Praedisposition  für 
die  Flagellomanie  geschaffen  werde.  Er  misst  dem  „Sight 
in  Love“  eine  grosse  Rolle  bei. 

Die  alten  Griechen  hatten  die  aesthetische  Bedeutung 
des  Gesässes  sehr  genau  erkannt,  wofür  die  mythologische 
Schöpfung  der  Aphrodite  Kallipygo s  Zeugnis  ablegt. 
Auch  neuere  Anthropologen  und  Aesthetiker  weisen  nach¬ 
drücklich  auf  die  Schönheit  jenes  Körperteils  hin.  Moreau 
bemerkt:  „Les  reliefs  qui  les  (les  cuisses)  surmontent 
posteri eurement,  ces  formes,  dont  la  Venus  Callipyge 
offre  le  plus  parfait  modele,  ont  un  genre  de  beaute 
qu’il  serait  difficile  de  decrire,  et  qui  parait  consister 
principalement  dans  le  passage  agreable  que  ces 
renflemens  etablissent  entre  le  torse  et  le  membre.^‘  '^) 

Der  Aesthetiker  Schasler^)  nennt  das  Gesäss  einen 

9  Delolme  a.  a.  0.  S.  328 — 329. 

9  J.  L.  Moreau  „Histoire  naturelle  de  la  femme“  Paris 
1803  T.  Ip.  306—307. 

9  Max  Sc  basier  „Aesthetik“  Leipzig  und  Prag  Bd.  1. 
S.  175—176. 


360 


„mit  Unrecht  verachteten  oder  doch  mindestens  bespöttel¬ 
ten“  Teil  des  Körpers  und  motiviert  dies  folgendermassen: 
„Die  hohe  aesthetische  Bedeutung  desselben,  selbst  im 
Vergleich  mit  dem  Busen,  beruht  darin,  dass  das  Gesäss 
nicht  nur  überhaupt  die  für  die  Entleerung  bestimmte 
Öffnung  des  Unterleibs,  den  After,  verdeckt  —  eine 
Funktion,  die  beim  Tiere  dem  Schwanz  zufällt  —  sondern 
dass  es  vorzugsweise  durch  eine  plastisch  schöne  Abrun¬ 
dung  bestimmt  scheint,  die  Anschauung  von  jeder  Er¬ 
innerung  an  jene  zwar  natürlichen,  immerhin  aber  un¬ 
ästhetischen  Funktionen  abzuziehen  und  dieselben  ver¬ 
gessen  zu  machen;  eine  Bestimmung,  die  beim  scham¬ 
losen  Tiere  gänzlich  in  Fortfall  kommt.  Ausserdem  deutet 
die  Bezeichnung  „Gesäss“  schon  darauf  hin,  dass  nur 
dem  Menschen,  nicht  dem  Tiere,  ein  eigentliches  Sitzen, 
soferne  es  dem  Körper  eine  harmonische  Stellung  anzu¬ 
nehmen  gestattet,  zukommt.  Der  Affe  sitzt  zwar  auch, 
aber  diese  Stellung  ist  ihm  ebensowenig  naturgemäss  und 
erscheint  daher  bei  ihm  ebensowenig  schön,  wie  das  auf¬ 
rechte  Gehen,  welches  nur  den  Mangel  an  Proportionalität 
seiner  Gliederung  umsomehr  hervortreten  lässt.“  Hieraus 
erklärt  sich  nachFrusta  die  Thatsache,  dass  durch  den 
Anblick  der  enthüllten  kallipygischen  Beize  die  „künstle¬ 
rische  Beschaulichkeit“  bei  beiden  Geschlechtern  geweckt 
wird,  die  eine  „mit  dem  Schönheitssinn  in  Verbindung 
stehende  Schwelgerei  des  Gesichts-  und  Gefühls-Organes“ 
zur  Folge  hat.^ 

Auch  neuere  Dichter  haben  den  aesthetischen  Beiz 
dieses  Körperteiles  gewürdigt.  Delolme  und  Bertram 
(Cooper)  nennen  Kabelais,  Lafontaine,  Bousseau, 
Scarron,  Lord  Bolin gbr oke  als  Bewunderer  desselben. 
Pavillon,  ein  französischer  Schöngeist  unter  Ludwig 


1)  Frusta  a.  a,  0.  S.  311. 


361 


XIV.  besingt  sogar  seine  Pracht  und  Herrlichkeit  in  einem 
■Gedicht  „La  metamorphose  da  Cal  d’Iris  en  Astre.“i) 

Neben  der  allgemeinen  aesthetischen  Bedeutung  des 
’Gesässes,  welche  ihm  aus  seiner  oben  von  Moreau  und 
Schasler  geschilderten  Eigenschaft  als  Übergangspartie 
zwischen  Rumpf  und  unteren  Extremitäten  erwächst,  sind 
es  auch  in  Hinsicht  auf  die  Form  die  gröberen  plasti¬ 
schen  Reize  dieses  Teiles,  welche  eine  gewisse  Wirkung 
ausüben.  G.  Jaege  r  meint,  dass  derselbe  nur  seiner  Plastik 
wegen  reize.  Es  sei  nach  dem  Aesthetiker  Vischer 
die  ,, pfirsichartig  geformte“  Beschaffenheit  des  Gesässes, 
welclie  ein  aesthetisches  Wohlgefallen  erwecke.^)  Ebenso 
ei*klärt  de  Sade  aus  der  „rondeur,  conformation,  forme 
enchanteresse“  die  Anziehungskraft,  welche  diese  Gegend 
ausübt  (Justine  I,  42).  Hierher  gehört  auch  die  inte¬ 
ressante  Bemerkung  Doppet’s:  „Ich  habe  selbst  in  meinen 
Schuljahren  häufig  genug  bemerkt,  dass  die  hässlichen 
und  magern  Jungen  nur  selten  an  die  Reihe  kamen.“ 

Namentlich  scheint  eine  den  Durchschnitt  überragende 
Grösse  des  Posterius,  wie  sie  bekanntlich  bei  gewissen 
Negervölkern  und  den  Hottentotten  in  sehr  starkem  Masse 
vorhanden  ist^),  einen  gewissen  Reiz  für  zahlreiche  Indi- 

L  Delolme  a’.  a.  0.  S.  234 — 238;  Cooper  a.  a.  0.  S.  4. 
Eine  Analyse  des  Gedichtes  von  Pavillon  findet  sich  bei 
J.  L  e  m  0  n  n  y  e  r  „Bibliographie  des  ouvrages  relatifs  ä  Tainour, 
aux  femines  et  au  mariage“  TJlle  1899  ßd.  IH  S.  215. 

2)  G.  Jaeger  im  „Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen“ 
Leipzig,  1900  Bd.  II  S.  65. 

Do  pp  et  a.  a.  0.  S.  402. 

'^)  Vergl.  darüber  die  Mitteilungen  bei  W.  Reinhard 
„Unter  dem  Bakel“  Dresden  1903  S.  176 — 180.  —  Die  Frau  ist 
in  dieser  Beziehung  vor  dem  Manne  bevorzugt,  „hlatibus  gau- 
dent  maioribus  feminae,  id  quod  jam  Cercidas  poeta  de  V'e- 
nere  et  Atheniensibus  feminis,  inde  AcOJujtvyoi'^  a  se  dictis 
jiraedicavit“.  J.  Rosenbaum  „De  sexuali  organismorum 
fabrica  etc.“  Halle  1832  S.  51. 


362 


viduen  zu  haben.  Daher  bedienen  sich  nicht  selten 
Flagellanten  der  künstlichen  Vergrösserung  dieses 
Teiles.  In  der  „Exhibition  of  Female  Flagellants“  verlangt 
ein  solcher  „Philopodex“  von  dem  Maler,  dass  er  die 
weiblichen  Posteriora  lieber  über  als  unter  der  Grösse 
abbilden  solle,  welche  die  gewöhnliche  Proportion  dem 
Maler  oder  Bildhauer  erlaube.  Andere  beobachten  Flagel¬ 
lationsszenen  durch  —  Vergrösserungsgläser,  um  den 
flagellierten  Teil  möglichst  riesenhaft  vor  Augen  zu  haben. 

In  der  „Venus  Schoolmistress“  findet  sich  eine  sehr 
merkwürdige  Einteilung  der  menschlichen  Posteriora. 
Der  Verfasser  behauptet,  dass  dieselben  bei  Knaben  bis 
zum  16.  Lebensjahre  fast  immer  sehr  ähnlich  seien,  aber 
nach  dieser  Zeit  eine  mehr  „individuelle“  Beschaffenheit 
annehmen.  Einige  behielten  ihre  kindlichen  Formen, 
andere  nehmen  bei  starker  Vergrösserung  einen  harten 
und  rauhen  Charakter  an.  Der  Verfasser  behauptet 
weiter,  dass  die  Männer  mit  stark  entwickelten  Posteriora 
sich  früher  verheirateten  als  die  übrigen,  da  diese  kalli- 
pygischen  Adonisse  auf  Frauen  eine  grosse  Anziehungskraft 
ausüben  und  in  der  Potentia  coeundi  et  generandi  andere 
Männer  übertreffen.^) 

Aus  der  alleinigen  Wirkung  dieser  allein  die  Form 
betreffenden  aesthetischen  und  plastischen  Reize  erMärt  sich 
die  Thatsache,  dass  es  zahlreiche  Individuen  gieht,  die,  ohne 
zur  eigentlichen  Flagellation  zu  schreiten,  sich  schon  mit 
dem  blossen  Anblicke  der  enthüllten  Posteriora  begnügen 
und  daraus  eine  geschlechtliche  Befriedigung  schöpfen. 

1)  Eine  solche  Szene  wird  in  den  „Memoiren  einer 
russischen  Tänzerin“  Milwaukee  1893  Bd.  II.  S.  81  ff.  ge¬ 
schildert. 

2)  „Venus  Schoolmistress“  S.  97 — 98;  S.  99. 


363 


„Flagellation  und  Entblössung  sind  untrennbar,“  sagt 
Ryan,  „und  rufen  sogar  bei  Kindern  oft  Erection 
hervor.“^)  Häufig  genügt  schon  zu  diesem  Zwecke  die 
Entblössung  ohne  die  nachfolgende  Geisselung. 

So  betrachten  in  einer  deutschen  Flagellationsschrift 
mehrere  Personen  die  ihnen  dargebotenen  kallipygischen 
Reize  durch  Operngläser,^)  und  in  der  „Justine“  des 
Marquis  de  Sa  de  (Bd.  III  S.  34)  findet  gar  eine  grosse 
kallipygische  Revue  von  Mädchen,  Knaben,  Frauen  und 
Greisinnen  vor  dem  Libertin  Verneuil  statt.  In  gewissen 
ländlichen  Gegenden  der  Bretagne  wird  dieser  Exhibitio¬ 
nismus  der  Nates  in  einer  höchst  eigentümlichen  Weise 
vollzogen,  nämlich  mittelst  eines  sogenannten  „Toull  er 
c’has“  französisch  „chatiere“,  das  ist  ein  grosser  Apparat 
in  Form  einer  hölzernen  Brille,  durch  welche  der  Zuschauer 
seinen  Kopf  steckt,  während  ein  Weib  vor  dem  Betreffenden 
ihre  Hinterseite  entblösst.^) 

In  England  hat  diese  sonderbare  Liebhaberei  für 
den  blossen  Anblick  kallipygischer  Reize  sogar  eine  eigene 
Art  von  Prostituirten  erzeugt,  die  sogenannte  „po sture 
girls“.  Dieser  Typus  scheint  um  1750  aufgekommen 
zu  sein.  Denn  in  verschiedenen  um  jene  Zeit  verötfent- 
lichten  erotischen  Schriften  werden  sie  zuerst  erwähnt. 
So  ist  in  der  „History  of  the  Human  Heart,  or  the  Adven- 
tures  of  a  Young  Gentleman“  (London  1769  S.  116)  von 
den  „posture  girls“  die  Rede,  welche  ,,stripped  stark 


Ryan  a.  a.  0.  S.  382. 

2)  „Am  Venusberg  oder  Pensions-Erlebnisse“  Budapest 
o.  J.  S.  49. 

„Glossaire  cryptologique  du  breton“  in:  Kavjizadic; 
Recueil  de  documents  pour  servir  ä  l’e'tude  des  traditions  popu- 
laires.  Paris  1899  Bd.  VI  S.  65 — 66. 


364 


naked  and  mounted  tliemselves  on  the  middle  of  the 
table“,  um  liier  die  betreffenden  Schönlieiten  zu  demon¬ 
strieren.  In  der  fünften  Erzählung  (The  Eoyal  Kake,  or 
the  Adventures  of  Prince  YoriclP’)  der  „New  Attalantis  for 
the  Year  1762“  wird  „Posture  Nan“,  die  ,, grösste  Mei¬ 
sterin  ihres  Geschlechtes  in  dieser  Kunst“  gerühmt.  Das 
Treiben  dieser  „posture  girls“  in  einem  Dirnenlokal  der 
Great  Russell  Street  wird  im  „Mitternachtsspion“  sehr 
anschaulich  geschildert.  ,, Sehen  Sie  dort“,  sagte  ürbanus, 
„einen  Gegenstand,  der  zugleich  unseren  Unwillen  und 
unser  Mitleid  erregt.  —  Eine  schöne  Frau  liegt  auf  dem 
Boden  ausgestreckt  und  bietet  jene  Teile  den  Blicken  dar, 
welche,  wenn  sie  nicht  jeder  Scham  entblösst  wäre,  sie 
eitrigst  zu  verbergen  suchen  Avürde.  Da  sie  dem  Trünke 
ergeben  ist,  kommt  sie  gewöhnlich  angeheitert  in  dieses 
Haus  und  entblösst  sich  meistens  nach  zwei  oder  drei 
Gläsern  Madeira  in  dieser  unanständigen  Weise  vor  den 
Männern.  Sehen  Sie,  sie  wird  jetzt  wie  ein  Tier  hin¬ 
ausgetragen.  Man  verlacht  sie,  ist  aber  entzückt  über 
solche  Prostitution  einer  unvergleichlichen  Schönheit.“ 
Wenn  wir  nun  zu  den  Motiven  des  eigentlichen 
Flagellationsaktes  übergehen,  so  haben  wir  zunächst  die 
Reize  colorist ischer  Natur  zu  erwähnen,  welche  vor 
und  während  der  Ausführung  des  Aktes  auf  das  Auge 
des  aktiven  Flagellanten  wirken.  Das  Kolorit  spielt 
überhaupt  in  der  Vita  sexualis  beider  Geschlechter  eine 
grosse  Rolle.  Schasler  bemerkt  darüber:  „Zn  diesen 

„The  Midnight  Spy“  London  1766  S.  67  —  Nicht  zu 
verwechseln  mit  den  „Postnre  Girls“  sind  die  „Posture  Masters“ 
d.  h.  Jongleure  und  Schlangenmenschen,  die  seit  Karl  II. 
diesen  Namen  führten.  Vergl.  J.  Strutt  „The  Sports  and 
Pastimes  of  the  People  of  England“  London  1830  S.  235 — 236. 


365 


plastischen  Elementen  des  geschlechtlichen  Gegensatzes 
tritt  nun  noch  der  Unterschied  des  Kolorites  hinzu, 
und  zwar  zunächst  als  äusseres  Merkmal  des  Geschlechts¬ 
unterschiedes  überhaupt  neben  der  tormalen  Gestaltung. 
Da  die  Haut  des  Mannes  im  allgemeinen  härter  und 
trockener,  die  des  Weibes  dagegen  weicher  und  feuchter 
ist,  so  spielt  das  männliche  Kolorit  mehr  in’s  Bräunliche, 
das  des  Weibes  mehr  in’s  Kosige.  Hiermit  steht  dann 
weiterhin  im  Zusammenhänge  der  leichtere  Wechsel  des 
Jncarnats,  das  Erröten,  Erblassen  u.  s.  1,  was  beim 
Manne  erst  bei  heftig  erregtem  Innern  eintritt,  während 
es  beim  Weibe,  ebenso  wie  die  Thränen,  bei  den  leisesten 
Regungen  kommt  und  geht.“ 

Nach  Bloch  ist  die  Rötung  gewisser  Teile  eine 
allgemeine  anthropologische  Erscheinung  der  geschlecht¬ 
lichen  Aufregung.  „Die  intensive  dunkelrote  Färbung 
des  Gesichtes  und  der  Genitalien  nebst  ihrer  Umgebung 
ist  eine  physiologische  Begleiterscheinung  der  sexuellen 
Brunst,  die  meist  durch  die  damit  verknüpfte  Turgescenz 
der  männlichen  und  weiblichen  Genitalien  um  so  greller 
in  die  Erscheinung  tritt  und  zu  Gefühlsassociationen  führt, 
in  welchen  das  Blut  eine  hervorragende  Rolle  spielt.“^), 
Grosse  macht  auf  die  biologische  und  ethnologische 
Bedeutung  der  roten  Farbe  für  den  Geschlechtstrieb 
aufmerksam  und  verweist  auf  die  interessante  Thatsache, 
dass  bei  Tieren  häufig  die  sekundären  Geschlechtscharaktere 
rot  gefärbt  sind  (glühend  rote  Gesäss-  und  Backen¬ 
schwielen  des  brünstigen  Pavian,  scharlachroter  Kamm 
des  Hahnes  u.  s.  w. 

Schasler  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  178. 

2)  J.  Bloch  „Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia 
sexualis.“  Theil  II  S.  89. 

3)  ibidem  S.  39 — 40. 


366 


Indem  also  der  Flagellant  eine  Rötung  der  Nates 
hervorbringt,  sucht  er  nur  eine  natürliche  Begleiter¬ 
scheinung  der  Libido  sexualis  zu  erzeugen.  Hierfür  spricht 
auch  der  Umstand,  dass  wilde  Völker  sich  die  Hinterbacken 
rot  färben,  so  dass  diese  wie  hei  den  Affen  grell  hervor¬ 
treten.  Nach  Bloch  übt  auch  der  Kontrast  der  Farben 
zwischen  den  nichtflagellirten  und  den  flagellirten  Stellen 
eine  sexuelle  Wirkung  aus. 

Der  eigenartige  und  sehr  starke  sexuelle  Reiz,  welchen 
der  Anblick  des  Blutzuflusses  zu  den  flagellirten  Teilen 
und  der  dadurch  bedingten  Rötung^  liefert,  wird  denn 
auch  in  allen  flagellantistischen  Schriften  gebührend  her¬ 
vorgehoben.  Frusta  berichtet:  „Ein  berühmter  und 
in  der  Meinung  hochgestellter  deutscher  Fürst  des  acht¬ 
zehnten  Jahrhunderts,  welcher  in  seine  junge  und  schöne 
Gemahlin  ausserordentlich  verliebt  war,  fand  sie  niemals 
liebenswürdiger,  als  wenn  er  sie  nach  Noten  mit  der 
Rute  durchgestäupt  hatte.  Sie  erhielt  —  denn  sie  selbst 
empfand  geringen  Spass  an  der  Sache  —  unter  dieser 
Bedingung  alles,  was  sie  von  ihm  verlangte.  Was  ihn 
am  meisten  dabei  gereizt  haben  soll,  war  die 
Verwandlung  des  Jncarnates  der  Haut.  Stunden¬ 
lang  betrachtete  er  die  also  colorirten  Reize  und  konnte 
sich  nicht  satt  daran  sehen.  Ähnliche  Dinge  erzählt 
Brantöme  inseinen  „Dames  galantes.“  Bloch  macht 
darauf  aufmerksam,  dass  man  diese  Leidenschaft  für  die 
Farbenveränderungen  bei  der  Flagellation  auch  auf  manchen 
bildlichen  Darstellungen  von  Flagellationsscenen  wahr- 

1)  Delolme  a.  a.  0.  S.  234. 

2)  Bloch  a.  a.  0.  S.  80. 

Z.  B.  in  „Raped  on  the  railway“  London  1899  S.  140. 

4)  Frusta  a.  a.  0.  S.  312. 


367 


nehmen  könne,  indem  die  flagellirten  Teile  meistens  grell 
rot  gezeichnet  werden,  i) 

Der  Verfasser  der  „Romance  of  Chastisement‘‘ 
(London  1870  S.  82)  meint,  dass  die  Posteriora  des 
Menschen  die  Fähigkeit  besässen  auch  ohne  Flagellation 
ganz  von  selbst  zu  erröten,  und  behauptet  das  abwechselnde 
Rot-  und  Blasswerden  dieser  Teile  selbst  gesehen  zu  haben. 

Die  stark en  Be wegungen  und  Zuckungen,  in 
welche  die  flagellirten  Teile  während  der  Züchtigung 
geraten  und  die  ebenfalls  als  eine  Imitation  gewisser 
Bewegungen  beim  Coitus  aufgefasst  werden  können^), 
bilden  einen  weiteren  Reiz.  Das  „Erzittern‘‘,  die  „oscillirende 
Bewegung“,  die  ,, wollüstigen  Zuckungen“  der  flagellirten 
Teile  werden  denn  auch  regelmässig  bei  der  Schilderung 
von  Flagellationsscenen  erwähnt.  Schon  in  einem  Briefe 
des  Alkiphron  heisst  es  über  die  Bewegungen  der 
Nates  bei  den  „kallipygischen  Spielen“  (nach  der 
französischen  Übersetzung  des  Abbe  Richard):  „Dans 
leur  jeu  rapide,  dans  leurs  convulsions  aimables, 
ces  spheres  n’ont  pas  le  tremblement  de  celles 
de  Myrrhine.  Leur  mouvement  ressemble  au  doux 
gemissement  de  l’onde.  Aussitot  eile  redouble  les  lascives 
Bloch  a.  a.  0.  II.  S.  81. 

2)  „Die  alten  Inder“,  sagt  Bloch  (a.  a.  0.  S.  79)  „welche 
in  Beziehung  auf  die  Beobachtung  und  Zusammenstellung  der 
äusseren  Erscheinungen  der  Libido  sexualis  Ausserordentliches 
geleistet  haben,  bezeichnen  als  Symptom  der  wollüstigen  Brunst 
des  Weibes  auch  „zuckende  Bewegungen  der  Hinterbacken“. 
Ebendieselben  Zuckungen  jener  Region  treten  im  höchsten 
sexuellen  Orgasmus  in  potenziertem  Masse  auf.  Sie  gleichen 
dann  ganz  den  durch  Schmerz  oder  Todeskampf  xerursachten 
reflektorischen  Bewegungen  und  erregen  eben  deswegen,  weil 
sie  als  vollkommen  dem  Willen  entzogener  Akt  erscheinen,  den 
sadistisch  veranlagten  Mann.“ 


368 


crispations  avec  tant  d^agilite,  qu’un  applaudissement 
universel  lui  decerne  les  honneurs  du  triomphe“.i)  In 
den  ,,Kallipygen“  wird  die  Bewegung  der  Posteriora  von 
einem  Zuschauer  sogar  gewissermassen  „beseelt“,  indem 
erbemerkt,  es  schiene  ihm,  als  ob  jener  Teil  die  Empfindungen 
beschreiben  wolle,  die  ihn  bei  der  Flagellation  bewegen.^) 

Eine  sehr  wichtige,  vielleicht  die  hauptsächliche 
Ursache  der  aktiven  Flagellation  bildet  die  sadistische 
Veranlagung  des  Flagellanten.  C  o  o  p  e  r  sagt :  „Unter  den 
Elementen,  aus  denen  die  Leidenschaft  der  Flagellanten 
zusammengesetzt  ist,  scheint  —  einem  alten  Schriftsteller 
zufolge  —  die  Hauptsache  „ein  Gefühl  von  Befriedigung 
über  die  Schmerzen  anderer  zu  sein,  entstehend  aus  dem 
bösen  Princip,  das,  im  Verein  mit  dem  guten,  in  jedes 
Menschen  Herzen  zu  finden  ist,  und  die  nahe  Verwandt¬ 
schaft  zwischen  Grausamkeit  und  Wollust,  welche  den 
Anblick  der  oft  lächerlichen  Bewegungen  und  Konvulsionen 
der  gezüchtigten  Menschen  ergötzlich  findet“. 

Frusta^)  will  in  diesem  Gefühle  des  Wohlbehagens 
am  Schmerze  des  Anderen  noch  eine  andere  Nüance  finden,, 
nämlich  „eine  Art  Ironie  der  Wollust  und  Grau¬ 
samkeit  zugleich,  welche  mit  den  für  das  physische 
Auge  nicht  selten  lächerlichen  Konvulsionen  und  den 
Geberden  des  Misshandelten  einen  oft  sich  selbst  unbe¬ 
wussten  Scherz  treibt.“  Am  reinsten  tritt  dieses  sadistische 
Element  in  der  aktiven  Flagellation  in  jenen  seltenen 
Fällen  hervor,  wo  Menschen  Tiere  flageliieren,  nur  um 

1)  B.  Du  tour  „Histoire  de  la  Prostitution“  Brüssel  1861 
Bd.  I  S.  190—191. 

2)  „Die  Kallipygen“  Milwaukee  1898  S.  142. 

3)  Cooper  a.  a.  0.  S.  164, 

‘^)  Frusta  a.  a.  0.  S.  311. 


369 


die  Wollust  der  Grausamkeit  geiiiessen  zu  können,  ohne 
geschlechtliche  Berührungen  vorzunehmen.  Freilich  giebt 
es  auch  andere,  noch  seltenere  Fälle  —  ein  solcher  ist 
mir  von  zuverlässiger  Seite  berichtet  worden  —  wo 
Menschen  nach  der  Flagellation  die  Tiere  sodomitisch 
missbrauchen. 

Jene  Fälle,  in  denen  Individuen  am  liebsten  möglichst 
zahlreichen  Auspeitschungen  Zusehen,  lassen  sich  ebenfalls 
auf  vorwiegend  sadistische  Neigungen  zurückführen.  Ein 
Offizier,  der  oft  zugesehen  hatte,  wenn  seine  jüngeren 
Geschwister  bestraft  wurden,  bekam  infolgedessen  eine 
ganz  unsinnige  Leidenschaft  für  das  Schlagen.  Er  pflegte 
die  Angestellten  in  einem  holländischen  Zuchthause  zu 
bestechen,  dass  sie  ihn  das  Amt  des  Zuchtmeisters  ver¬ 
sehen  liessen,  und  wenn  das  nicht  anging,  so  sah  er 
wenigstens  zu,  wie  die  weiblichen  Gefangenen  gepeitscht 
wurden.^) 

Diese  sadistischen  Flagellanten  werden  am  meisten 
durch  den  Anblick  des  bei  der  Geisselung  fliessenden 
Blutes  erregt,  weshalb  die  Züchtigung  immer  bis  zu 
diesem  Punkte  ausgedehnt  werden  muss,  um  dem  Flagel¬ 
lanten  die  gewünschte  Befriedigung  zu  verschaffen.  Dies 
wird  z.  B.  in  der  „Justine“  des  Marquis  de  Sade  (I,  265) 
geschildert.  D  u  f  o  u  r  erblickt  gerade  in  diesem  Blutdurste 
den  charakteristischen  Unterschied  des  antiken  und  des 
christlichen  Flagellantismus.  Er  sagt:  „L’usage  de  la 
flagellation  dans  l’antiquite  etait  bien  comme  de  tous  les 
debauches,  qui  Pappelaient  en  aide  pour  se  preparer  aux 
plaisirs  de  Pamour.  Mais,  au  moyen-äge,  si  la  flagellation 
erotique  ne  s’exercait  plus  que  rarement  et  dans  le  plus 


1)  C  0  0  p  er  a.  a.  0.  S.  165. 


24 


370 


profond  mystere,  eile  avait  pris  un  caractere  de  ferocite 
sanguinaire,  qui  se  reproduisait  dans  les  actes  des  Flagel- 
lants.“^) 

Bei  der  passiven  Flagellation  tritt  das  masoch¬ 
istische  Element  in  den  Vordergrund.  Den  Flagellirten 
erfüllt  ein  „mystisches,  aus  Sinnlichkeit  und  Phantasie 
zusammengesetztes  Gefühl  von  Demütigung  unter  die 
Gewalt  eines  Stärkeren,  von  Zurückversetzung  seiner 
Persönlichkeit  in  das  kindliche  Alter,  sodann  eine  tiefe 
Scham  und  Freude  zugleich  über  die  zugefügte  Miss¬ 
handlung  Nach  V.  Kr afft-E bin g^)  dient  den  von 
der  Perversion  des  Masochismus  Beherrschten  als  Ausdruck 
der  von  ihnen  ersehnten  Situation  der  Unterwerfung  unter 
das  Weib  hauptsächlich  die  passive  Flagellation.  Eine 
solche  Situation  wird  sehr  drastisch  durch  das  bekannte 
Bild  von  Hans  Baidung  veranschaulicht,  auf  welchem 
Aristoteles  der  Phyllis  als  Pferd  dient  und  von  ihr 
mit  der  Geissei  angetrieben  wird.  Der  folgende  von 
Cooper^)  berichtete  Fall  illustrirt  ebenfalls  den  Masochis¬ 
mus  des  Flagellirten.  Ein  Edelmann  aus  der  Zeit  G  e  o  r  g’  s  IL 
mietete  sich  ein  Haus  in  London  und  eine  hübsche  Haus¬ 
hälterin.  Ein  Mal  in  jeder  Woche  musste  dieselbe  alles 
für  ihn  bereit  halten,  was  man  braucht,  um  eine  Stube 
zu  scheuern,  und  auch  zwei  Frauenzimmer  kommen  lassen, 
von  denen  die  eine  die  Haushälterin,  die  andere  das  Stuben¬ 
mädchen  vorstellen  und  ihm  bei  der  Arbeit  behilflich  sein 
mussten.  Wenn  nun  der  Edelmann  die  Stuben  scheuerte, 

1)  Dufour  a.  a.  0.  Bd.  V.  S.  150. 

2)  Frusta  a.  a.  0.  S.  312. 

V.  Krafft*Ebing  „Psychopathia  sexualis“  10.  Aufl. 
Stuttg.  1899.  S.  90. 

‘^)  C  0  0  p  e  r  a.  a.  0.  S.  167— 16S. 


371 


benalim  er  sich  dabei,  als  ob  er  ein  Mädchen  aus  dem 
Armenbause  wäre  und  verrichtete  seine  Arbeit  so  schlecht, 
dass  ihn  immer  eine  oder  auch  beide  Frauenzimmer  so 
schlugen,  wie  die  Gemeindekinder  von  den  Hausfrauen 
geschlagen  zu  werden  pflegen ! 

Ferner  wird  in  des  englischen  Dichters  Otway 
Komödie  „Venice  Preserved“  (Akt  III,  Scene  1)  eine 
solche  masochistische  Flagellationsscene  beschrieben.  Der 
:senile  Senator  Antonio  besucht  seine  Maitresse  Aquilina, 
um  Wildfang  mit  ihr  zu  spielen.  Er  verlangt  von  ihr, 
dass  sie  ihm  ins  Gesicht  spucken  solle,  spielt  dann  die 
Kolle  eines  Hundes,  kriecht  unter  den  Tisch,  bittet  sie, 
ihn  wie  einen  Hund  zu  behandeln,  ihn  zu  treten  u.  s.  w., 
bis  zuletzt  die  Courtisane  eine  Rute  holt  und  ihn  hinaus- 
peitscht.^)  Ebenfalls  enthalten  die  „Justine“  und  „Juliette“ 
von  de  Sade  mehrere  derartige  Schilderungen  (z.  B. 
Justine  I,  320). 

F r u s t a^)  glaubt  auch  dem  Wortzauber  eine  gewisse 
Wirkung  bei  der  Flagellation  zuschreiben  zu  müssen.  Denn 
durch  das  Nennen  des  Werkzeuges  der  Geisselung  würden 
viele  Frauen  zum  Erröten  gebracht,  weil  in  dem  Worte 
virga  eine  lüsterne  Zweideutigkeit  liege,  da  es  sowohl 
die  Rute  als  auch  das  männliche  Glied  bezeichne.  Übrigens 
wird  bezeichnender  Weise  auch  das  deutsche  Wort  Rute 
sowohl  für  das  Geisselinstrument  als  auch  für  das  Membrum 
virile  gebraucht. 

Ein  anderer  mystischer  Reiz  der  Flagellation  soll  auf 
der  von  ihr  ausgehenden  magnetischen  Wirkung  be¬ 
ruhen.  „Sodann  kommt  noch  das  Geheimnis  des  tier- 

1)  Vergl.  P.  Fraxi  „Centuria  librorum  absconditoruiii“ 
•S.  450. 

2)  Frusta  a.  a.  0.  S.  312. 


24* 


—  — 

ischen  Magnetismus  hinzu,  welcher  die  durch  Zerquälung 
des  Körpers  und  Aufreizung  der  Lebensgeister  gesteigerte 
und  völlig  metamorphosirte  Phantasie  zu  Bildern  und 
Vorstellungen  hintreibt,  welche  in  dem  gewöhnlichen  sich 
nicht  zeigen.  Es  ist  dies  eine  merkwürdige  Erscheinung^ 
welche  namentlich  in  dem  Leben  und  in  dem  Ideengang 
der  grossen  Mystiker  Damiani,  Franz  von  Assisi,, 
der  heiligen  Brigitta,  Hildegard,  Theresia  u.  s.  w., 
Taulers,  Thomas  a  Kempis,  Heinrich  Suso  u.  A. 
überrascht.“^) 

Diese  „magnetische  Theorie“  der  Flagellation  wird 
ausführlich  in  der  englischen  Flagellationsschrift  „The  Ro- 
mance  of  Chastisement“  entwickelt.  Wenn  die  Flagellation 
von  einer  geschickten  weiblichen  Hand  ausgeführt  wird,  so- 
geht  nach  dem  Verfasser  eine  Art  von  Magnetismus  von  der 
Flagellantin  auf  das  (nota  bene  oft  männliche)  Opfer  über 
und  von  diesem  wieder  zurück  auf  die  Geisslerin.  Eine 
Flagellierte  schildert  ihren  „magnetischen“  Zustand  fol- 
gendermaassen :  „Furcht  und  Scham  waren  vergangen¬ 
es  war  als  wenn  ich  meine  Person  den  Umarmungen 
eines  Mannes  preisgab,  den  ich  so  sehr  liebte,  dass  ich 
seine  wildesten  Wünsche  anticipierte.  Aber  kein  Manu 
schwebte  mir  in  Gedanken  vor;  vielmehr  war  Martinet- 
(die  Gouvernante)  der  Gegenstand  meiner  Anbetung,  und 
ich  fühlte  durch  die  Rute,  dass  ich  ihre  Leidenschaft 
teilte.  Der  Rapport,  wie  die  Magnetiseure  ihn  her¬ 
steilen,  war  so  stark,  dass  ich  ihre  Gedanken  erraten- 
konnte.  Hätte  sie  gewünscht,  dass  ich  meine  Vorderseite 
ihren  Schlägen  darböte,  so  würde  ich  mit  Gewalt  mich 
bemüht  haben  (trotz  der  Fesselung)  zu  gehorchen.  E& 


Frusta  a.  a.  0.  S.  318.  • 


373 


ging  ein  magnetischer  Schauer  durch  uns  Beide,  der  mit 
jedem  Schlage  zunahm.  Es  war  mir  aber  unmöglich  zu 
sagen,  ob  es  mehr  Schmerz  oder  Lust  war.“ 

Erwähnenswert  ist  auch  eine  merkwürdige  Äusserung 
Stilling’s,  die  G.  H.  v.  Schubert  in  seiner  berühm¬ 
ten  „Symbolik  des  Traumes“  anführt:  „Es  ist  fast  un¬ 
glaublich,  welche  unlautere  und  unsinnige  Quellen  jene 
süssen  religiösen  Entzückungen  haben  können,  auf  welche 
Einige  so  stolz  sind.  Eine  gewisse  fanatische  Ge¬ 
sellschaft  in  den  dreissiger  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts  rief  sie,  auf  eine  Art  von  magne¬ 
tischer  Weise,  'durch  fortgesetztes  eigenes 
Kneipen  undKeiben  des  Leibes  hervor.  Und 
jene  Entzückten  wurden  für  Wiedergeborne  gehalten!“^) 
Für  die  Erklärung  des  mittelalterlichen  Flagellantismus 
und  der  klösterlichen  Disciplin  kommt  hauptsächlich  die 
wollüstige  Betonung  der  religiösen  Empfin¬ 
dungen  in  Betracht,  welche  sich  aus  der  nahen  Ver¬ 
wandtschaft  zwischen  Keligion  und  Wollust  ergiebt.  Bloch 
nennt  sogar  in  einem  gewissen  Sinne  die  Geschichte  der 
Religionen  zugleich  die  Geschichte  einer  besonderen  Er¬ 
scheinungsform  des  menschlichen  Geschlechtstriebes,  worin 
ihm  übrigens  schon  v.  Schubert  in  dem  ebengenannten 
Werke  vorangegangen  ist.  „Religion  und  Sexualität  be¬ 
rühren  sich  auf  das  innigste  in  jener  Ahnung  des 
Metaphysischen  und  jenem  Abhängigkeitsgefühle;  daraus 
entspringen  jene  merkwürdigen  Beziehungen  zwischen 
beiden,  jene  leichten  Übergänge  religiöser  in  sexuelle 
Gefühle,  die  in  allen  Lebensverhältnissen  sich  bemerkbar 


LG.  H.  v.  Schubert.  „Die  Symbolik  des  Traumes.“ 
3.  Autl.  Leipzig  1840  S.  199. 


374 


machen.  Tn  beiden  Fällen  wird  die  Hingabe,  die  Ent- 
äusserung  der  eignen  Persönlichkeit  als  ein  Lustgefühl 
empfunden.  .  .  Die  Identität  beider  Empfindungen  erklärt 
ihr  häufiges  Ineinanderübergehen,  ihre  beständige  associative 
Verknüpfung.  .  .  Die  religiöse  Kasteiung,  Busse,  Selbst- 
zerfleischung  spiegelt  sich  wieder  in  der  geschlechtlichen 
Selbstpeinigung“.  1)  v.  Krafft-Ebing^)  stellt  die  diesen 
innigen  Zusammenhang  zwischen  religiöser  und  geschlecht¬ 
licher  Empfindung  sehr  gut  bezeichnende  Formel  auf: 
„Keligiöser  und  sexueller  Affektzustand  zeigen  auf  der 
Höhe  ihrer  Entwicklung  Übereinstimmung  im  Quantum 
und  Quäle  der  Erregung  und  können  deshalb  unter 
geeigneten  Umständen  vicariiren.“ 

Der  Hauptcharakterzug  der  religiösen  Geisselung,  die 
Askese,  die  Selbstdemütigung,  weist  daher  sehr  aus¬ 
geprägte  geschlechtliche  Elemente  auf.  Bloch  sagt 
darüber:  „Die  Askese  entspringt  aus  dem  schon  vom 
primitiven  Menschen  tiefempfundenen  Gegensätze  zwischen 
Geist  und  Materie,  wobei  die  letztere,  beim  Menschen  das 
körperliche  Dasein,  besonders  dessen  intensivste  Äusserung, 
den  Geschlechtstrieb  darstellend,  als  das  unreine  Element 
aufgefasst  wird,  das  zu  Gunsten  des  rein  geistigen 
bekämpft,  überwunden  und  womöglich  vernichtet  werden 
muss.  Neben  dem  Gelübde  der  Armut  ist  die  geschlecht¬ 
liche  Abstinenz,  der  Kampf  gegen  das  „Fleisch“ 
(„caro“  der  alten  Kirchenväter  bezeichnet  stets  die  Geni¬ 
talien)  der  vornehmlichste  psychologische  Charakterzug 
der  Askese.  Um  aber  diesen  übermächtigen,  in  jedem 


J.  Bloch  „Beiträge  zur  xitiologie  der  Psychopathia 
sexualis“  Dresden  1902  Teil  I  S.  77 — 78. 

2)  V.  Krafft-Ebing  a.  a.  0.  S.  9. 


375 


Menschen  zeitweilig  intensiv  gesteigerten  Sexualtrieb 
niederzukämpfen  und  womöglich  auszurotten,  musste  der 
Asket  immer  vor  ihm  auf  der  Hut  sein,  immer 
an  ihn  denken.  So  kam  er  dahin,  sich  mehr  mit  dem 
Geschlechtstrieb  zu  beschäftigen  als  dies  der  normale 
Mensch  für  gewöhnlich  zu  thun  pflegt.  .  .  Geschlechtliche 
Kasteiung  und  geschlechtliche  Ausschweifung:  das  sind 
die  beiden  Pole,  zwischen  denen  sich  das  Leben  des 
Asketen  bewegt,  welches  also  in  jedem  Falle  eine  starke 
sexuelle  Beimischung  aufweist.  Die  Askese  ist  dann  oft 
nur  das  Mittel,  den  sexuellen  Genuss  in  einer  anderen 
Form  und  in  gesteigerterer  Weise  sich  zu  verschaffen.“ 
Wenn  nun  auch  die  religiöse  Flagellation 

o  o 

ursprünglich  durch  ein  „religiöses  Vorurteil  über  das 
gottgefällige  Tilgen  irdischer  Vergehen  durch  freiwillige 
oder  von  anderen  verursachte  Schmerzen,  oft  auch  durch 
eine  gemischte  Empfindung  über  die  vermeintliche  Bändigung 
der  irdischen  Natur“ hervorgerufen  sein  mag,  so  stellt 
sich  doch  mit  dem  Zwange  der  Notwendigkeit  das  g  e  = 
schlechtliche  Moment  in  Bälde  ein.  Dem  mystischen 
Element  gesellt  sich  bald  das  physisch-sinnliche  zu.  Als 
ein  unseren  Gegenstand  näher  berührendes  Beispiel  solcher 
Verbindung  von  Eeligion  und  Wollust  mag  der  englische 
König  Jakob  II.  genannt  werden, einer  der  grÖsstenWollüstlinge 
seiner  Zeit  (s.  oben  S.  63 — 6  7), zugleich  aber  ein  überaus  bigotter 
Katholik.  Seine  von  ihm  arg  vernachlässigte  und  betiogene 
Gemahlin  Maria  von  Modena  bewahrte,  wie  Macaulay 
berichtet,  bis  an  das  Ende  ihres  Lebens  und  hinterliess 
bei  ihrem  Tode  dem  Kloster  Chaillot  als  einen  Schatz  die 
Rute,  mit  welcher  er  das  gegen  sie  verübte  ^''nrecht 


J.  Bloch  a.  a.  0.  S.  95 — 96. 
2)  Frusta  a.  a.  0.  S.  312. 


376 


kräftig  an  seinena  Rücken  gerächt  hatte.*)  Die  religiöse 
Disciplin  zog  am  schnellsten  dann  geschlechtliche  Miss- 
hräuche  nach  sich,  wenn  dieselbe  von  Personen  ver¬ 
schiedenen  Geschlechts  mit  einander  vorgenommen 
wurde,  und  der  Mann  dem  Weib  oder  das  Weib  dem 
Manne  die  Geisselung  zu  Teil  werden  Hess.  Mit  Recht 
sagt  ein  puritanischer  Schriftsteller:  „Es  ziemt  dem  Manne 
nicht,  sich  von  einem  Weibe  schlagen  zu  lassen  und  das 
Mädchen  wird  verdorben,  w’enn  es  von  einem  Mann 
Streiche  empfängt“.^) 

Eine  grosse  Rolle  spielt  die  passive  Flagellation  als 
ein  blosses  Praep arativmittel  zum  Beischlaf.  Pisanus 
Fraxi  ist  der  Ansicht,  dass  die  Flagellation,  wenn  sie 
überhaupt  einen  Wert  habe,  doch  nur  ein  praeparatorischer 
Akt,  ein  „incentive  to  a  higher  pleasure“  sei,  ein  Mittel 
zum  Zweck,  nicht  der  Zweck  selbst.^) 

Diese  rein  physische  Wirkung  der  Geisselung  auf 
das  Genitalsystem  erklärt  sich  aus  der  reflectorischen 
Erregung  der  Genitalsphäre,  insbesondere  der  im  Rücken¬ 
mark  und  im  S3^mpathischen  Nervensystem  gelegenen  Centren 
derselben  durch  scharfe  und  schmerzhafte  Reize,  welche 
die  Haut,  insbesondere  in  der  Nähe  der  Genitalien,  treffen. 
Schon  de  Sa  de  bemerkt:  „üne  grande  inflammation 
agit  extraordinairement  les  esprits  animaux  qui  coulent 
dans  la  cavite  de  ces  nerfs,  et  les  determine  au  plaisir, 
si  cette  inflammation  est  produite  sur  les  parties  de  la 
generation  ou  sur  celles  qui  l’avoisinent,  voilä  qui  explique 
les  plaisirs  re9us  par  les  coups,  les  piqüres,  les  pin^ures 

1)  Th.  B.  Macaulay’s  Geschichte  von  England,  Deutsch 
von  W.  Be  sei  er,  Braunschweig  1852  Bd.  III  S.  78. 

2)  Cooper  a.  a.  0.  S.  174. 

P.  Fraxi  „Index  librorum  prohibitorum“  S.  242. 


377 


■ou  le  fouet“  (Justine  III,  175 — 176).  Der  Arzt  Meibom 
behauptet  sogar,  dass  man  die  Wirkung  der  Flagellation 
auf  das  Zustandekommen  der  Erection  genau  beobachten 
könne  und  die  „oscillationes  membri“  nach  der  Zahl  der 
applicirten  Hiebe  sich  richten.^)  Frusta  führt  diese 
aphrodisische  Wirkung  der  passiven  Flagellation  auf  die 
„raschere  Circulation  des  Blutes“  zurück.  „Bei  dem 
passiven  Flagellantismus,  nämlich  da  wo  die  Flagellation 
aus  Mysticismus  oder  Manie  durch  sich  selbst  oder  andere 
vorgenommen  wird,  und  namentlich  in  der  Mönchsdisciplin 
in  so  seltsamen  und  mannigfachen  Variationen  vorkömmt, 
dagegen  gewahrt  man  bei  sorgfältigem  Studium  der 
menschlichen  Natur  ebenfalls  einen  wollüstigen  Reiz,  be¬ 
wirkt  durch  den  rascheren  Kreislauf  des  Blutes,  welcher 
in  Folge  der  Streiche  (wenigstens  der  mit  feinen  Werk¬ 
zeugen  ausgeteilten),  sich  einstellt“. S  churig  vergleicht 
nicht  übel  die  Wirkung  der  Flagellation  mit  dem  Schlafen 
in  Rückenlage  auf  weichen  Federbetten.  In  beiden 
Fällen  werde  die  Lumbalgegend  in  übermässiger  Weise 
erhitzt  und  so  die  Libido  sexualis  geweckt.^)  John 
Davenport  sagt :  „ As  an  erotic  stimulant  ,more  particularly, 
it  may  be  observed  that,  considering  the  many  intimate 
and  sympathetic  relations  existing  between  the  nervous 
branches  of  the  extremity  of  the  spinal  marrow,  it  is 
impossible  to  doubt  that  flagellation  exercised  upon  the 
buttocks  and  the  adjacent  parts,  has  a  po werful  efiect 
upon  the  Organs  of  generation.“-*) 

1)  Meibom  a.  a.  0.  310 — 311 

2)  Frusta  a.  a.  0.  S.  312. 

3)  Martin  S  churig  „Spermatologia  historico-medica“ 
Frankfurt  a.  M.  1720  S.  256 — 257. 

4)  Davenport  a.  a.  0.  S.  113. 


378 


Als  Beispiel  für  eine  solche  präparatorisclie  Wirkung  der 
passiven  Flagellation  sei  die  Herzogin  Leono  re  Gonzaga 
von  Mantua  erwähnt,  die  sich  von  ihrer  Mutter  nait  Ruten 
peitschen  liess,  um  in  der  ehelichen  Umarmung  wärmer 
zu  werden  und  zu  concipirenA)  Hierher  gehört  auch  ein 
von  LudovicusCaelius  Rhodiginus  in  seinen 
berühmten  „Lectiones  antiquae“  mitgeteilter  Fall,  den  ich 
im  lateinischen  Original  wiedergebe. 

„Non  multis  abhinc  annis  vixisse  quendam  in  Venetiis, 
non  gallinaceae  salacitatis,  verum  ingenii  stupendi  maxime, 
quodque  vix  impetret  tidem,  ex  adjuratissimis  compertum 
est:  qui  quo  pluribus  atfectus  fuisset  plagis,  eo  impetuosius 
ardentiusque  in  concubitum  ferebatur  praeceps.^) 

Jedoch  dient  auch  die  aktive  Flagellation  sehr  häufig 
lediglich  präparatorischen  Zwecken,  um  den  Flagellanten 
schnell  in  einen  für  die  Ausübung  des  Coitus  günstigen 
Zustand  zu  versetzen.  Das  gilt  sowohl  von  Frauen  wie 
von  Männern.  Die  Thätigkeit  weiblicher  Flagellantinnen 
endet  sehr  oft  mit  der  Herbeirufung  eines  Mannes,  der 
die  durch  die  Vollziehung  der  Geisselung  in  ihnen  erweck¬ 
ten  Gelüste  befriedigen  muss.  „Ces  rages  amourenses  la 
prenaient  chaque  fois  qu’elle  avait  fouette  quelque  joli 
derriere“  heisst  es  in  einer  französischen  Flagellations- 
schrift^J.  Ebenso  geht  der  Weg  männlicher  Flagellanten 
nach  der  Ausübung  der  activen  Flagellation  nicht  selten 
zur  Ehefrau  oder  ins  Bordell.  Thomas  Barth olinus 
berichtet:  „Perser  und  Russen  tractiren  ihre  Frauen,  bevor 
sie  ihnen  die  eheliche  Pflicht  erweisen  wollen,  mit  Stock- 

A  Eulen burg  a.  a.  0.  S.  58. 

‘A  Caelii  Rliodigini  Lectiones  antiquae,  Basel  1550 
fol.  412. 

3)  ,, Jupes  trousse'es“  par  E.  D.  Lisbonne  (Paris)  1898  S.  11. 


379 


sdilägen  auf  den  Hintern.  Von  den  Letztem  versichert 
uns  Barclay,  dass  die  Zärtlichkeit  des  Ehemannes  nach 
der  Zahl  der  von  ihm  ausgeteilten  Hiebe  abgeschätzt  wird. 
Der  Neuvermählte  in  Russland  verabsäumt  die  Anschaffung 
von  Ruten  weniger  als  irgend  ein  anderes  Stück  seines 
unentbehrlichen  Hausrats.  Zur  Züchtigung  werden  jene 
Ruten  gewiss  nicht  gebraucht,  folglich  dienen  sie  keinem 
andern  Zwecke  als  dem  erwähnten.“^) 

Noch  deutlicher  geht  der  rein  präparatorische  Zweck 
der  Flagellation  aus  dem  folgenden  beglaubigten  Fall  hervor. 

„Der  Elementarlehrer  Franjo  M.  in  Pozega  pflegte 
nur  allzuhäufig  fünf,  sechs  der  seiner  Zeit  anvertrauten 
Knaben  auf  nacktem  Leibe  blutig  hauen  zu  lassen,  um 
nach  stundenlanger  Abschindung  der  hilflosen  Jungen 
schnurstracks  zu  einer  Buhldirne  zu  eilen.  Er  lachte 
vor  Vergnügen  bei  dem  Jammergeschrei  der  Knaben  und 
seine  blauen  Augen  funkelten  dabei  vor  Wollust. 

Die  stimulirende  Wirkung  der  aktiven,  mehr  noch 
passiven  Flagellation  hat  man  auch  zu  therapeu¬ 
tischen  Zwecken  benutzt.  Von  den  alten  Aerzten  ist 
allen  Ernstes  die  Plagellation  dem  Heilapparat  der  Medizin 
einverleibt  worden,  um  als  probates  Mittel  gegen  ver¬ 
schiedene  Hindernisse  des  normalen  Geschlechtsverkehrs 
und  der  Fruchtbarkeit  zu  dienen,  vor  allem  aber  gegen 
Impotenz,  und  zwar  sowohl  gegen  die  Impotentia  gene- 
randi  als  auch  coeundi.  Namentlich  sollen  die  arabischen 
Ärzte  zu  Salerno  dieses  eigenartige  Rezept  den  in  diese  Kate- 


y  Tb.  ßartholinus  bei  J.  II.  Meibomius  „Von  der 
Nützlichkeit  der  Geisselhiebe  u.  s.  w.“  in:  Der  Schatzgräber 
u.  s.  w.  Bd.  IV.  S.  257 — 258. 

2)  Bloch  a.  a.  0.  Theil  II  S.  86. 


380 


gorie  gehörigen  Patienten  verschrieben  haben.  So  soll 
der  Herzog  Alfonso  11.  von  Ferrara,  T a s s o ’ s  Protektor 
und  Peiniger,  der  von  keiner  seiner  drei  schönen  Frauen 
(Virginia  von  Medici,  Margherita  von  Gonzaga 
und  Barbara  d’Austria)  ein  Kind  bekommen  konnte, 
den  Beischlaf  nicht  früher  haben  vollziehen  können  als 
nach  an  ihm  vorgenommener  heftiger  Geisselung.^)  Bekannt 
ist  auch  der  von  dem  berühmten  Bekämpfer  der  Astrologie 
Giovanni  Pico  della  Mirandola  in  seiner  1495 
erscheinenden  Streitschrift  erzählte  und  oft  citirte  Fall 
eines  Mannes,  der  ad  Venerem  nunquam  accenditur,  nisi 
vapulet.“^)  Eine  sehr  anschauliche  Schilderung  der  Flagella¬ 
tion,  wie  sie  im  18.  Jahrhundert  in  den  Bordellen  bei 
impotenten  Wüstlingen  und  Greisen  in  Anwendung  gezogen 
wurde,  findet  sich  in  der  Schrift  von  Do  pp  et. 

„Versetzen  wir  uns  nun  auf  einen  Augenblick  im 
Geist  an  jene  Orte,  wo  die  Wollust  feil  ist.  Hier  werden 
wir  am  häufigsten  Gelegenheit  finden,  uns  zu  überzeugen, 
wie  oft  man  zu  Geisselungen  Zuflucht  nehmen  muss,  wenn 
man  sich  anschickt,  dem  Liebesgott  eine  Schlacht  zu 
liefern.  Schon  beim  Eintritt  in  jene  Tempel  der  Venus 
bemerkt  man  ähnliche  Werkzeuge  der  verschiedensten 
Art.  Die  Priesterin  der  Wollust  zeigt  euch  ein  Kuten- 
bündel,  das  von  einer  sehr  eleganten  ^Schleife  zusammen¬ 
gehalten  ist.  Sodann  führt  sie  euch  zu  einer  Geissei, 
die  am  Ende  jeder  Schnur  eine  goldene  oder  silberne 
Spitze  hat,  der  Griff  oder  Stiel  ist  von  Kosenholz,  und 
die  Einfassung  desselben  von  sehr  kostbarem  Stolfe. 
Fragt  ihr  sie,  wie  ein  simpler  Mann  aus  der  Provinz, 

9  Frust a  a.  a.  0.  S.  314. 

2)  Vergl.  Schurig  a.  a.  0.  S.  254—255;  P.  Fraxi  „Cen- 
turia‘-  S.  448—449;  Eulen  bürg  a.  a.  0.  S.  59. 


381 


wozu  diese  Waffen  gebraucht  werden?  so  wird  sie  euch 
in  kindischer  Weise  antworten:  sie  dienen  dazu,  um 
Vergnügen  zu  bereiten.  Auch  nicht  eine  Prostituirte 
verschmäht  dieses  Mittel  in  Anwendung  zu  bringen,  ja, 
sie  kommt  Euch  im  Voraus  damit  entgegen,  da  sie  an 
dessen  Wirksamkeit  auch  dann  nicht  verzweifelt,  wenn 
ein  TOjähriger  Greis  vor  ihr  steht. 

Ich  selbst  war  einmal  Zeuge  einer  seltsamen  Szene,, 
die  den  Beweis  lieferte,  dass  die  Weisheit  kein  Schutz¬ 
mittel  gegen  die  Liebe  sei.  Ich  ward  nämlich  während 
meines  Aufenthaltes  in  Paris  in  einen  der  vielen  Harems 
gerufen,  die  sich  in  der  St  Hororestrasse  befinden,  um 
einer  Venuspriesterin,  die  in  ihrem  Berufe  erkrankt  war,, 
mit  ärztlicher  Hilfe  beizuspringen.  Als  ich  in  ihre 
Kammer  eintrat,  vernahm  ich  aus  dem  benachbarten 
Zimmer  die  Scheltworte  eines  keifenden  Weibes,  das 
Frauenzimmer,  welches  meinen  Beistand  erwartete,  Hess, 
mir  nicht  erst  Zeit,  sie  um  die  Ursache  des  Lärms  zu 
befragen.  Mit  leiser  Stimme  bat  sie  mich,  zu  schweigen,, 
sie  hob  ganz  vorsichtig  den  Vorhang  und  Hess  mich 
durch  eine  kleine  Öffnung  blicken,  die  mir  ein  Schauspiel 
der  lächerlichsten  Art  darbot.  Diese  Szene,  wie  ich  erfuhr, 
zweimal  wöchentlich  aufgeführt,  bot  folgenden  Anblick: 
Die  Hauptperson,  eine  reizende  Brünette,  zeigte  den  Hals, 
die  Waden  und  den  Hintern  ganz  entblösst.  Sie  um¬ 
standen  vier  Greise  mit  stattlichen  Perrücken.  Ihre 
Tracht,  ihre  Steilung  wie  ihr  Mienenspiel  zwangen  mich, 
die  Lippen  zu  verbeissen,  um  das  mühsam  verhaltene 
Lachen  zu  unterdrücken.  Diese  ergrauten  Wollüstlinge 
spielten,  wie  zuweilen  Knaben  unter  sich  zu  thun  pflegen, 
„Schulmeisterchens“.  Die  Dirne  Hess,  das  Rutenbündel 
nicht  aus  der  Hand  legend,  ihnen  abwechselnd  die  kleine* 


382 


Züchtigung  zukommen;  der  die  meisten  Schläge  in 
Empfang  nahm,  war  auch  der  kraftloseste  unter  ihnen. 
Die  Kranken  küssten  ihre  Gebieterin,  während 
diese  sich  mit  der  Züchtigung  der  unkeuschen  Haut 
abquälte,  und  die  Komödie  nahte  sich  erst  dann  ihrem 
Ende,  als  die  erschlaffte  Natur  aller  ferneren  Bemühungen 
spottete.  Meine  Patientin  fand  mein  Erstaunen  sehr 
belustigend  und  erzählte  mir  hierauf  mehrere  Anekdoten 
noch  komischerer  Art,  wie  sie  täglich  in  ihrem  Kloster 
zum  Besten  gegeben  werden.  „Wir  haben“,  setzte  sie 
hinzu,  „vielleicht  das  wichtigste  Amt  in  Paris,  denn  wir 
gemessen  die  Auszeichnung,  dass  wir  den  angesehensten 
Gliedern  des  Clerus,  der  Beamtenwelt  und  der  Kauf¬ 
mannschaft  die  Rute  geben  dürfen.“ 

An  diese  Greisengeschichte  schliesse  ich  eine  andere, 
die  de  Renneville  in  seiner  „Geschichte  der  Bastille“ 
erzählt,  und  die  für  die  merkwürdige  Wirkung  der 
Flagellation  auf  abgelebte  Greise  einen  sehr  charakte¬ 
ristischen  Beleg  liefert. 

de  Renneville  erblickte  in  einem  Zimmer  der 
Bastille,  das  ein  Greis  bewohnte,  eine  Birkenrute  auf  dem 
Kaminsims  und  fragte  den  Aufseher,  ob  diese  für  die 
Züchtigung  eines  ebenfalls  im  Zimmer  befindlichen  Hundes 
benutzt  würde. 

„Non,  me  dit  notre  feroce  Philosophe,  c’est  le  violon 
de  ce  vieux  fou,  en  me  montrant  l’antique  Docteur  de  la 
Faculte.  Et  soudain  ce  barbare  Correcteur  empoignant  le 
redoutable  faisseau :  allons,  dit-il  au  puerile  Vieillard,  dans 
l’instant,  sans  replique,  chausses  bas.  Ce  bon  homme  tout 
tremblant  se  jeta  ä  genoux  devant  l’impitoyable  Satyre, 


q  Doppet  a.  a.  0.  S.  381—383. 


383 


et  son  bonnet  a  ses  genoux,  en  se  grattant  la  tete  des 
deux  maiiis,  il  lui  dit  en  pleurant:  pourquoi  me  voulez- 
vous  foüeter?  je  n’ai  pas  encore  fait  de  mal  aujourd’hui. 
Faut-il  me  supplier  en  voiis  grattant  la  tete?  lui  repondit 
Parrogant  Pedant,  et  lui  donnant  des  verges  rudement  sur 
les  doigts:  allons  encore  une  fois  chausses  bas;  vous 
n’amendez  pas  votre  marche,  en  vous  faisant  tirer  Poreille. 
Je  crus  d’abord  que  ce  n’etoit  qu’un  jeu;  ce  qui  ne 
m’emut  pas  beaucoup.  Mais  quand  je  vis  le  pauvre 
imbecille  (sic),  redoublant  ses  pleurs,  detacber  sa  culotte, 
et  troussant  sa  cbemise  sanglante,  decouvrit  des  fesses 
toutes  fletries  et  decbarnees,  et  tout  en  galle  par  la 
violence  des  flagellations,  je  me  mis  au  devant  pour 
empecher  cet  extravagant  Bourreau  d’outrager  un  Vieillard 
qui  auroit  bien  ete  son  Grand  Pere“. 

Vergebens  bemüht  sich  de  ßenneville,  den  Auf¬ 
seher  von  seinem  Vorhaben,  den  Greis  zu  peitschen, 
abzubringen.  Dieser  verhält  sich  zuerst  ganz  passiv. 
Als  aber  Kenne vi Ile  mit  Gewalt  ihn  aus  den  Händen 
seines  Peinigers  befreien  will,  sagt  er  zu  ihm: 
„MMez  vous  de  vos  affaires;  je  veux  etre  foü- 
ette  moi:  c’est  cette  correction  paternelle  qui  me  tient  en 
vigueur“.  Und  er  lief  auf  Gringalet  (den  Aufseher) 
zu  „ses  chausses  detachees,  il  lui  abandonna  son  derriere, 
qui  fut  fustige  par  le  Pedant  ä  double  reprise;  car  mon 
Opposition  avoit  redouble  sa  fureur.  Apres  quoi  le  Docteur 
flagelle,  demanda  du  pain  et  du  beure  au  PhilosojJie 
bouru,  qui  lui  en  donna  aux  charges  d’etre  plus  sage 
ä  Pavenir.  “ 

h  Constantin  de  Renneville  „L’Inquisition  Fran^- 
oise  ou  PHistoire  de  la  Bastille“  Amsterdam  1719  Bd.  III  S. 
256.  —  Ein  beigefügter  kurioser  Holzscbnitt  illustriert  die  oben 
geschilderte  Scene. 


384 


[n  den  Flagellationsschriften  wird  das  Motiv  der 
Impotenz  hänfig  verwertet.  In  der  „Venus  School-Mistress“ 
erteilt  ein  Arzt  einem  impotenten  Ehemann  im  Bette  eine 
gute  Tracht  Prügel,  worauf  dieser  seinen  ehelichen  Pflichten 
nachzukommen  vermag.  „Madame  Birchini’s  Dance“ 
behandelt  die  Geschichte  eines  jungen  Edelmannes,  der 
nach  mannigfachen  Ausschweifungen  impotent  geworden 
ist  und  durch  Madame  Birchini’s  geschickte  Hand  seine 
frühere  Kraft  wiedererlangt  und  ebenfalls  nunmehr  seine 
ehelichen  Pflichten  erfüllen  kann. 

In  einem  französischen  Werke  „Les  Coutumes 
Theatrales  ou  Scenes  Secretes  des  Foyers“  (Paris  1743) 
wird  das  Thema  der  Flagellation  bei  Impotenz  ausführlich 
behandelt.  So  sagt  eine  Courtisane  zu  ihrem  Freunde: 

Apprends,  eher  bon  ami,  que  les  coups  vigoureux 
Te  rendront  plus  sensible  aux  plaisirs  amoureux. 

Ceux  dont  la  nature  trop  lente 
Ne  peut  satisfaire  une  amante; 

Par  quelques  coups  de  yerge  appliques  fortement 
Se  portent  an  combat  plus  yigoureusement. 

Der  Arzt  Roubaud  empfiehlt  in  seinem  Werk  über 
die  Impotenz  thatsächlich  die  Flagellation  als  ein  unter 
Umständen  wirksames  Mittel  und  gieht  für  diesen  Zweck 
sogar  eine  eigene  von  ihm  konstruirte  elektrische  Flagella¬ 
tionsmaschine  an.  „J1  a  fait  construire,  ä  cet  usage,  un 
balai  metallique  forme  d’une  centaine  de  fils  flexibles,, 
qui  par  la  diversite  de  leur  composition  (cuivre,  laiton,, 
fer,  platine  etc.),  degageraient  une  certaine  quantite  d’Mec- 
tricite  et  dont  l’action  stimulante  s’ajouterait  ä  celle  de- 
la  flagellation.^) 

Venus  School-Mistress  S.  95—96. 

2)  ibidem  S.  89 — 90. 


385 


Auch  in  England  wird  die  Flagellation  öfter  bei  der¬ 
artigen  Zuständen  angewendet. 

Ein  hohes  Alter  hat  der  Gebrauch  der  Flagellation  bei 
weiblicherSterilität,  wie  die  schon  erwähnten  L  u  p  e  r- 
calien  bezeugen.  Dieses  Mittel  spielt  im  Aberglauben  ver¬ 
schiedener  Völker  eine  grosse  Rolle.  Floss  und  Bartels'^) 
bemerken:  „Man  will  eine  ähnliche  Procedur  (wie  bei  den 
Luperealien)  in  dem  Aufpeitschen  wiederfinden,  welches  am 
1.  Osterfeiertage  die  jungen  Burschen  im  Voigt  lande  und  in 
anderen  Teilen  Deutschlands  in  der  Frühe  vornehmen, 
indem  sie  mit  frischen  grünen  Reisern  die  Mädchen  aus 
dem  Bette  jagen.  Ebenso  erinnert  an  die  Luperealien  das 
Niederlausitzer  Zempern  und  das  Budissiner 
Semperlaufen.  .  .  Nach  Pouqueville  existirt  in 
Athen  nicht  bloss  bei  Schwangeren,  sondern  auch  bei 
solchen  Frauen,  die  fruchtbar  werden  wollen,  die  Sitte,  an 
einem  Felsen  in  der  Nähe  der  Kallirr  hoe  sich  zu 
reiben,  und  dabei  die  Moiren  anzurufen,  ihnen  gnädig 
zu  sein.“  Dieses  Reiben  geschah  bezeichnender  Weise 
mit  den  unteren  Körperteilen,  ln  der  Kirche  St.  Hyacinthe 
in  Paris  findet  sich  folgender  Spottvers: 

Femmes  qui  desirez  de  devenir  enceinte 
Adressez  cy  vos  voeux  an  grand  Saint-Hyacinthe, 

Et  tont  ce  que  pour  vous  le  Saint  ne  ponrra  faire, 

Les  Meines  de  Ce'ans  pourront  y  satisfaire. 

Eine  höchst  eigentümliche  therapeutische  Anwendung 
findet  die  Flagellation  in  dem  pornographischen  Machwerk 
„Am  Venusberg“.  Hier  wird  ein  alter,  fast  blinder  Mann 
jedesmal  zu  einer  Abstrafung  von  Mädchen  herbeigeholt, 
weil  er  beim  „Schalle  der  Rutenhiebe  und  dem  Gewimmer 

q  Remo  „La  vie  galante  en  Angleterre“  S.  256. 

2)  Floss  und  Bartels  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  593—594. 

25 


386 


der  Gezüchtigten  auf  kurze  Dauer  durch  Wollust  (sic) 
eine  bessere  Sehkraft  erlangte,  also  auch  darnach  lechzte, 
so  oft  als  möglich  dieses  Glück  zu  erreichen“  (!!!). 

Nicht  minder  phantastisch  sind  die  Anwendungen  der 
Rute  bei  Wahnsinn  (Caelius  Aurelianus),  Hypochon¬ 
drie,  Epilepsie,  Gicht,  während  sie  als  blosser  Hautreiz, 
als  Revulsivmittel  und  als  Suggestionsmittel  gewiss  nützlich 
sein  kann,  aber  doch  besser  durch  andere,  harmlosere 
Mittel  ersetzt  wird.  Cooper  berichtet  von  einem  Arzte, 
der  die  Rute  ungefähr  mit  den  Augen  ansah,  wie  Dr. 
Sangrada  das  kalte  Wasser  und  den  Aderlass.  Sie  sei 
ihm  ein  Universalmittel,  da  sie  „die  stockenden  Säfte  in 
Bewegung  bringt,  die  salzhaltigen  Niederschläge  auflöst, 
den  Körper  von  den  gerinnenden  Feuchtigkeiten  reinigt, 
den  Kopf  klar,  den  Unterleib  frei  macht,  das  Blut  treibt 
und  die  Nerven  stärkt“.^) 

Nicht  minder  interessant  ist  die  Thatsache,  dass  man 
der  Flagellation  einen  gewissen  kosmetischen  Eflekt 
zuschreibt.  Sie  soll  durch  die  Ableitung  der  Blutcircu- 
lation  vom  Innern  auf  die  Haut  die  Entwickelung  eines 
gewissen  Embonpoints  in  den  flagellirten  Teilen  fördern. 
Schon  Galen  erzählt,  dass  die  Pferdehändler  den  mageren 
Pferden  mässige  Schläge  erteilen,  um  sie  dick  zu  machen.^) 
Besonders  günstig  soll  die  Flagellation  der  Ausbildung  der 
kallipygischen  Reize  sein.  Dieser  Glauben  kommt  schon 
bei  einem  antiken  Komödiendichter  vor,  wo  erwähnt  wird, 
dass  eine  Kupplerin  ihre  Mädchen  peitscht,  damit  sie  vollere 
Hinterbacken  bekommen.^) 

Vergl.  das  interessante  Ka23itel  „Die  berühmten  heil¬ 
kräftigen  und  medizinischen  Eigenschaften  der  Rute“  bei 
Cooper  a.  a.  0.  S.  67 — 70. 

Cooper  a.  a,  0.  S.  68. 

Eulenburg  „Sadismus  und  Masochismus“  S.  57. 


387 


Dies  Motiv  der  Flagellation  ist  in  einer  etwas  freien 
Erzählung  „Claudine  der  kluge  Backfisch“  verwendet 
worden,  wo  Frau  Grünebach,  die  seit  langen  Jahren  Künstlern 
Modell  gestanden  hat  und  seihst  von  ihrer  Tante  mit  der  Kute 
bearbeitet  worden  ist,  damit  ihre  Formen  an  „Plasticität“ 
gewännen,  welcher  Zweck  in  vollem  Umfang  erreicht  ward, 
die  15jährige  Agnes,  ihr  Ziehkind  und  ebenfalls  Modell- 
■steherin,  täglich  mit  der  Rute  peitscht.  Einem  sie  darüber 
zur  Rede  stellenden  Künstler  erwidert  sie:  „Meine  Tante 
selig,  die  war  der  Meinung,  und  sie  hatte  Recht,  dass 
von  dem  regelmässigen  Bearbeiten  mit  der  Rute  ein  schöner 
Körper  nur  noch  runder  und  gesunder  wird,  vorzüglich 
bei  jungen  Mädchen.  So  wenigstens  war  es  bei  mir.  Erst 
wollten  mich  die  Bildhauer  blos  zu  einer  Psyche  als  Modell 
nehmen;  aber  von  dem  vielen  Schlagen  wurden  meine 
Muskeln  und  meine  Weichteile  so  entwickelt,  dass  der 
beste  Bildhauer  der  Welt,  Danske,  ein  Freund  von.Thor- 
waldsen  zu  meiner  Tante  sagte:  „Das  Mädchen  ist,  von 
hinten  betrachtet,  zu  üppig  für  eine  Psyche,  ich  will  sie 
als  Venus  Kallipygos  abformen.  Sie  verstehen  ja,  was  ich 
meine  ....  Nun,  und  als  ich  grösser  und  stärker  wurde, 
da  bin  ich  als  Muse  Modell  gestanden  und  dann  als  Medea, 
.aber  immer  noch  geschlagen  von  meiner  Tante,  die  von 
der  Rute  nicht  abliess,  so  lange  sie  eine  halten  konnte. 
Nun,  und  da  habe  ich  die  kolossalen  Formen  bekommen.“^) 
Mögen  nun  alle  diese  verschiedenartigen  Motive  bef 
der  Flagellation  mitwirken,  zu  einer  wahren  Leidenschaft 
wird  dieselbe  doch  erst  durch  die  gewohnheitsmässige 
Ausübung.  Dies  hat  schon  der  alte  Pico  della  Mirandula 

A.  P.  Luciani  „Claudine  der  kluge  Backfisch“  Leipzig 
{ca.  1878)  S.  27 — 28.  Vergl.  auch  hierüber  die  Vorrede  zu  den 
.„Me'moires  d’une  danseuse  russe“. 


25* 


388 


liervorgelioben.^)  Sowohl  die  aktive  als  auch  die  passive 
Flagellation  können  durch  häufig  wiederholte  Anwendung 
zu  einem  unentbehrlichen  Reiz  für  den  Flagellanten  bezw. 
Flagellirten  werden.  Bloch  bemerkt:  „Was  den  Lehrer 
und  Zuchtmeister  betrifft,  so  kann  dieser  im  Anfang  seiner 
Thätigköit  noch  durchaus  frei  von  irgend  welchen  sadisti¬ 
schen  Neigungen  sein,  die  sich  vielmehr  erst  im  Laufe 
der  gewohnlieitsmässigen  Ausübung  der  körperlichen  Züch¬ 
tigung  einstellen,  so  dass  diese  allmählig  dem  Betreffenden. 
Zü  einem  Genüsse  wird.“^) 

Nach  einem  deutschen  Gelehrten  lassen  sich  die- 
Prügel  einteilen  in  Staats-  und  Privat-,  öffentliche  und 
geheime,  freiwillige  und  unfreiwillige,  zweckgemässe  und 
zweckwidrige,  rationalistische  und  supernaturalistischCy 
geistliche  und  weltliche,  reguläre  und  irreguläre,  trockene^ 
und  saftige  etc.  Prügel.  Ferner  lassen  sie  sich  unter¬ 
scheiden:  1)  nach  dem  Subjekte,  welches  prügelt,  2)  nacli 
dem  Objekte,  welches  geprügelt  wird,  3)  nach  dem  Ma¬ 
teriale  womit,  4)  dem  Körperteile,  auf  welchen  geprügelt. 
Avird;  endlich  5)  nach  der  Dauer  der  Züchtigung.*'^) 

Liner  nicht  minder  subtilen  Untersuchung  haben. 
Pater  Gretser  und  Abbe  Boileau  das  „Material“,, 
womit  geprügelt  und  gegeisselt  wird,  unterzogen,  und 
als  hauptsächliche  Prügelinstrumente  Stock,  Peitsche^ 
Kordel-,  Draht-  und  Riemengeissel,  Kuhhaut  oder  Farm- 
schwänz,  Birken-  und  Binsenrute  bezeichn et.L  Ein  wohl 
erschöpfendes  Kapitel  über  die  Flagellationsinstrumente- 
findet  sich  bei  Cooper,  dem  wir  entnehmen,  dass  ausser 


Meibom  a.  a.  0.  S.  265. 
Bloch  a.  a.  0.  Bd.  II.  S.  86. 
3)  F  r  u  s  t  a  a.  a.  0.  S.  1. 
ibidem. 


389 


den  gewöhnlichen  weiter  unten  genannten  Züchtigungs- 
instrumenten  auch  Hüte,  Handtücher,  Lineale,  Besen, 
Ketten,  Schüreisen,  Feuerzangen,  Schlüsselbund,  Federn¬ 
bündel,  Fächer  u.  s.  w.  zu  diesem  Zwecke  benutzt 
worden  Sind.  Sir  Thomas  Morus  pflegte  seine  erwach- 
-senen  Töchter  mit  einer  Rute  zu  schlagen,  die  aus 
Pfauenfedern  angefertigt  war;  einige  Fischweiber  straften 
•einen  Galan  mit  getrockneten  Aalhäuten  ab  und  eine 
Hausfrau  soll  ihre  Köchin  sogar  mit  einer  Hammelkeule 
geprügelt  haben A)  Hansen  ergänzt  diese  Aufzählung 
durch  die  folgende  Mitteilung:  „Der  einfache  Strick,  den 
man  ums  Handgelenk  schlang,  die  frisch  vom  Baum 
gerissene  Birkenrute,  der  im  rohen  Busch  abgeschnittene 
schmächtige  Haselstock  fanden  ihre  Vervollkommnungen 
in  den  mit  Knoten,  Dornen,  Bleikugeln,  eisernen  Stacheln 
und  Nägeln  besetzten  Peitschen,  in  der  neunschwänzigen 
Katze,  in  gehärteten  Riemen  und  Ochsenziemern,  in  mit 
scharfen  Substanzen  getränkten  Geissein  und  anderen 
höllischen  Schmerzerzeugern,  gegen  welche  der  Knieriem 
des  Schustermeisters  eine  lächerliche  Maus  ist.  Die 
meisten  Hiebe  sind  von  jeher  mit  Stock  und  Peitsche 
ausgeteilt  worden.  Was  nun  das  Verhältnis  dieser  beiden 
Züchtigungsinstrumente  zu  einander  anlangt,  so  wird  kein 
Einsichtiger  bestreiten,  dass  der  Stock  das  mildere 
Werkzeug  ist.“ 

Von  diesen  zahlreichen  Flagellationsinstrumenten 
haben  sich  nur  einige  wenige  dauernder  und  allgemeiner 

9  Cooper  a.  a.  0.  S.  160—161.  In  einem  „Brief  von 
Frau  Martinet“  (in  den  „Flagellations-Erfahrungen“  Dresden 

1901  S.  104—105)  wird  der  Pantoffel  als  der  beste  Ersatz 
der  Rute  gepriesen. 

9  D.  Hansen  „Stock  und  Peitsche“  2.  Aufl.  Dresden 

1902  S.  7—8. 


390 


Beliebtheit  erfreut.  Abgesehen  von  der  menschlichen 
H  a  n  d ,  die  in  vielen  Flagellationsschriften  gewissermassen 
als  mildes  Praeludium  in  Funktion  tritt,  spielt  die  weitaus 
bedeutsamste  Bolle  als  Instrument  par  excellence  der 
sexuellen  Flagellation  die  Rute,  und  zwar  meist  die 
Birke  nrute.^) 

Sie  besingt  der  englische  Satiriker  Samuel  Butler^) 
im  „Hudibras“ : 

Die  Tuo-endmutter  Rute  straft 
Und  muntert  auf  zur  Wissenschaft; 

Sie  kann  Naturgebrechen  heben 
Und  faulem  Fleische  Rührung  geben 
Sie  legt  den  Grund  zu  allem  Ruhm 
In  Poesie  und  Heldentum. 

Aus  Doppet’s  obengenannter  Mitteilung  erhellt, 
dass  schon  im  18.  Jahrhundert  die  Rute  zu  den  not¬ 
wendigen  Requisiten  eines  Bordells  gehörte,  wie  denn 
auch  Hogarth  auf  der  dritten  Tafel  des  Weges  einer 
Buhlerin  das  Innere  eines  Bordellzimmers  mit  einer  Rute 


0  Die  Birke  und  ihr  Erzeugnis  besingt  sohon  der  la¬ 
teinische  Dichter: 

Stat  prope  nullius  non  hospita  laeta  Betula 
Arentis  madidive  soll  nullo  aere  tristis. 

Mollis  et  alba  cutim,  formosam  xertice-  fundens 
Caesariem;  sed  mens  tetrica  est,  sed  nulla  nec  arbor 
Nec  fera  sylvarum  crudelior  incolit  umbraS'; 

Nam  simul  atque  urbes  concessum  intrare  doinosque, 
Plagosum  Orbilium  saexumque  imitata  Draconem, 
lila  furit,  non  ulla  xiris  delicta,  nec  ullum 
Induigens  ludum  pueris;  inscribere  membra 
Discentum  teneroque  rubescere  sanguine  gaudet. 

2)  Butler’s  Hudibras,  deutsch  von  Eise  lein  S.  102, 


391 


ausgestattet  hat,  wozu  Liclitenberg  recht  interessante 
erläuternde  Angaben  macht.  Gegenwärtig  muss  sogar 
jede  einzeln  wohnende  Prostituirte  und  Demimondaine, 
um  konkurrenzfähig  zu  bleiben,  mindestens  ein  paar 
Enten  zur  Verfügung  haben.  Car  Her,  der  ehemalige 
Polizeipräsident  von  Paris  und  ein  genauer  Kenner  der 
betreffenden  Verhältnisse,  bemerkt:  „Bei  gewissen  Pro- 
stituirten  kann  man  ein  wahres  Arsenal  von  Peinigungs¬ 
werkzeugen  erblicken,  Klopfpeitschen,  Ruten,  knotige  Stricke, 
lederne  Riemen,  in  welche  Nadelspitzen  eingefügt  sind  etc. 
Das  getrocknete  Blut,  das  diese  verschiedenartigen  Instru¬ 
mente  wie  ein  Ueberzug  bedeckt,  liefert  den  Beweis,  dass 
sie  nicht  bloss  als  Spielzeug  und  zum  Schein  da  sind, 
sondern  wirklich  und  thats'ächlich  zur  Befriedigung  unge¬ 
heuerlicher  Launen  angewandt  werden. “i)  Auch  ein 
Patient  v.  Krafft-Ebing’s  stellt  die  Thatsache  fest, 
dass  „jede  erfahrene  Protistuirte  irgend  ein  zur  Flagellation 
geeignetes  Instrument  (gewöhnlich  eine  Rute)  im  Besitze 
zu  haben  pflegt.“^) 

Besonders  wirksam  sollen  Ruten  sein,  die  längere  Zeit 
in  Essig  gelegen  haben.  Schon  Pico  dellaMirandula  und 
Caelius  Rhodiginus  berichten  von  der  Anwendung 
eines  „flagellum  aceti  asperitate  obduratum“^)  und  de  Sade 
bemerkt,  dass  die  in  Essig  aufbewahrten  Ruten  ,,acquierent 
plus  de  verdeur  et  plus  de  piquant“  (Justine  I,  262). 

Eine  sehr  beliebte  Art  der  Flagellation  war  in  früheren 
Zeiten  und  ist  zum  Teil  noch  heute  die  Urtication  d.  h.  das 
Peitschen  mit  Brennesseln,  wie  dies  schon  von  Petroni us 


q  Ullo  „Die  Flagellomanie“  S.  48. 

Y,  K  r  a  f  f  t  -  E  b  i  n  g  „Psychopathia  sexualis“  S.  95. 
3)  Sch  urig  a.  a.  0.  S.  254. 


392 


(s.  oben)  beschrieben  wird  und  in  dera  alten  Verse:  ,,Mire 
per  urticas  monachus  exercet  amicas“  sprichwörtlich  gewor¬ 
den  ist.  Auf  diese  eigenartige  Misshandlung  des  Körpers 
passt  wörtlich  des  gelehrten  Virey  Ausspruch,  dass  die 
Wollust  zuckersüsser  sei,  wenn  sie  brenne  und  kratze.^) 
Auch  der  Dichter  des  „Hudibras“  gedenkt  der  „Nesseln, 
welche  die  Triebe  aufwecken.“'^)  Der  Arzt  Christian 
Franz  Paullini  kannte  einen  alten  Gärtner,  qui  semper 
ante  exercitia  venerea  membrum  et  festes  viridi  urticae 
fasce  fricabat  et  caedebat,  sicque  rem  suam  agebat  animose 
ac  feliciter.  Ebenso  berichtete  eine  Frau,  Namens  S  u  s  a  n  n  a 
Luasiz  vor  Gericht,  dass  ihr  Gatte  ante  coitum  sibi 
urticas  porrexisse,  jubendo  ut  membrum  ejus  virile  caederet. 
Auf  diese  Erfahrungen  gestützt  verordnete  Dr.  Johann 
Christoph  AVestphal  die  Urtication  als  Mittel  gegen 
Impotenz,  da  .ja  durch  dieselbe  sensus  tactus  sensibilius 
afficitur  sanguinisque  copiosior  aftluxus  excitatur.“^) 

In  den  Departements  de  FAin  et  de  la  Cöte  d’or  in 
Frankreich  dient  statt  der  Brennesseln  die  Linaria 
cymbalaria  zur  Urtication.  Mit  den  Blättern  derselben, 
welche  auf  der  Haut  ein  überaus  heftiges  Brennen 
verursachen,  reiben  sich  die  jungen  Mädchen  in  der  Nähe 
der  Geschlechtsteile  so  lange,  bis  das  Blut  herauskommt. 
Diese  ungewöhnliche  Art  der  Masturbation  ist  dort  sehr 
verbreitet.  In  Kuffey  (Cöte  d’or)  nennt  man  die  Cymbalaria 
auch  „pinton“,  in  Poncin  (Ain)  heisst  sie  „timbarde“.^) 


9  J.  J.  Virey  „Das  AVeib“  deutsch  von  L.  Hermann, 
Leq)zig  1827  S.  173. 

2)  Butlers  „Hudibras“  ed.  Eiselein  S.  166. 

Sch  urig  a.  a.  0.  S.  257 — 258. 

4)  „Folklore  de  la  France“  in:  KQVJixaÖLa^  Paris  1898 
Bd.  A'  S.  358.  —  Nach  Ryan  a.  a.  0.  S.  382  soll  die  Urtication 
nur  noch  selten  in  England  ausgeübt  werden. 


393 


Als  besonders  zarter  Liebesdienst  gilt  das  Flagelliren 
mit  Blumen,  wie  dies  z.  B.  in  den  „Kallipygen“  (S.  78) 
vorkommt  und  auf  einem  der  Schrift  de  Villiot’s  „En 
Virginie“  beigegebenen  Titelbilde  von  der  Hand  eines 
grossen  französischen  Künstlers  dargestellt  ist. 

Noch  sonderbarere  Arten  der  Flagellationsmaterialien 
werden  erwähnt.  So  wird  in  dem  Eroticum  „Am  Venus¬ 
berg“  auseinander  gesetzt,^)  dass  der  feinfasrige  Asbest 
ein  Mittel  sei,  welches  zu  Pulver  zerrieben  und  auf  die 
menschliche  Haut  gebracht,  dort  ein  heftiges  Prickeln  und 
Brennen  hervorrufe,  welches  immer  stärker  werde,  je  mehr 
man  die  eingeriebene  Stelle  frottire  oder  kratze.  Hierdurch 
werde  die  gleiche  Wirkung  erzielt,  wie  durch  das  Peitschen, 
ohne  dass  die  Haut  in  erheblicher  Weise  verletzt  werde. 

Die  Wirkung  der  Urtication  und  der  Eute  verbindet 
ein  nicht  selten  gebrauchtes  Flagellationsinstrument;  die 
Bürste.  Diese  tritt  z.  B.  in  einer  englischen  erotischen 
Schrift  „Lascivious  Gems“  (London  1866  S.  48 — 56)  in 
Funktion,  wo  der  impotente  Eduard  Tracy  von  seiner  Ge¬ 
liebten  an  den  Bettpfosten  gebunden,  erst  mit  der  Ente 
und  dann  mit  der  Bürste  bearbeitet  wird.  „Still,  J  was 
not  satiated.  Seizing  a  hand  brush,  J  struck  the  raw 
tlesh  with  the  bristles,  and  scrubbed  it  with  them.  J  then 
took  the  eau  de  cologne  bottle  from  the  dressing  table, 
and  poured  the  contents  over  the  parts,  and  resumed  the 
use  of  the  hair  brush. Unter  diesen  barbarischen  Mani¬ 
pulationen  wird  natürlich  der  unglückliche  Liebhaber 
ohnmächtig. 

Eaffinirte  Flagellanten  sind  sogar  auf  die  Idee  ge¬ 
kommen,  die  Geisselung  durch  Maschinen  besorgen  zu 


1)  „Am  Veniisberg“  S.  141  —  142 


394 


lassen,  womöglich  solche,  die  zngleich  mehrere  Individuen 
verprügelt.  Diese  Phantasien  sind  meist  englisch¬ 
amerikanischen  Ursprungs.  Schon  im  18.  Jahrhundert 
machte  der  englische  Lebemann  Chace  Price  den  Vor¬ 
schlag,  eine  Maschine  zu  konstruiren,  die  vierzig  Leute 
zugleich  flagelliren  könne !  Der  berühmte  Schauspieler 
Samuel  Foote  hatte  darüber  mit  dem  Erfinder  im  — 
Bordell  der  Charlotte  Hayes  eine  längere  Debatte. 
Price  wollte  sogar  diese  originelle  Erfindung  patentireii 
lassen.^)  Auch  Talbot  sah  um  1830  eine  solche  merk¬ 
würdige  Flagellationsmaschine  in  einem  Londoner  Bor¬ 
delle.-)  Neuerdings  sollen  die  Amerikaner  diese  Idee 
wieder  aufgenommen  haben.  In  der  englischen  Zeitschrift 
„Society“  wird  darüber  folgender  Brief  von  Henry 
Rowlands  vom  14.  Oktober  1899  veröffentlicht:^) 

„Wenn  man  der  amerikanischen  Presse  glauben  darf, 
so  haben  unsere  Vettern  in  den  Vereinigten  Staaten 
nichts  weniger  als  eine  Maschine  zur  Austeilung  körper¬ 
licher  Züchtigungen  erfunden. 

Auf  Originalität  kann  diese  Erfindung  jedoch  keinen 
Anspruch  erheben,  denn  schon  seit  langer  Zeit  besitze  ich 
ein  älteres  Werk,  das  wenigstens  schon  80  Jahre 
alt  ist,  und  welches  ich  bei  einem  Antiquar  in  der  Rue 
Montmartre  vorfand,  in  dem  ein  hölzerner  Apparat  be¬ 
schrieben  ist,  an  dem  2  Ruten  befestigt  sind,  mit  welchen 
man  zu  gleicher  Zeit  einen  Knaben  und  ein  Mädchen 

auspeitschen  kann. 

\ _ 

9  „Les  Serails  de  Loadres“  S.  46. 

Ryan  „Prostitution  in  London“  S.  381. 

2)  „John  Bull  beim  Erziehen“  Dresden  1901  N.  F.  Bd.  II 
S.  125.  Vergl.  über  „Prügelmaschinen“  auch  Hansen  „Stock 
und  Peitsche“  S.  121 — 122  (mit  zwei  satirischen  Abbildungen 
S.  122  und  124). 


395 


Mr.  Croquemitaine  übernimmt  dabei  die  nötigen^ 
Manipulationen  beim  Knaben,  während  Madame  Bri-- 
quabrac  ihre  zärtliche  Sorgfalt  dem  Mädchen  angedeihen> 
lässt.  Der  Zeichnung  nach  zu  urteilen  kann  man  mit  dieser 
Maschine  in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  eine  ganze 
Anzahl  von  Delinquenten  vermöbeln,  ohne  Ermüdung  oder 
wesentliches  Echauffement  der  Assistenten.“ 

Die  an  der  Spitze  der  Civilisation  marschirenden 
Amerikaner  haben  neuerdings  auch  auf  diesem  Gebiete- 
den  Rekord  geschlagen,  indem  sie  die  Elektricität 
für  den  Betrieb  solcher  Flagellationsmaschinen  heranzogen. 
Die  Chicagoer  Zeitungen  berichteten,  dass  eine  Industrie¬ 
schule  in  Denver  einen  elektrischen  Flagellationsapparat 
für  die  Erziehung  derselben  angeschafft  habe.  D  e 
Villiot^)  beschreibt  denselben  folgendermassen : 

L’apparail  en  question  a  la  forme  d’une  chaise  äv. 
laquelle  il  manquerait  le  fond  ou  le  cannage.  La  patiente 
est  tenue  de  s’asseoir  sur  ce  siege,  evidemment  apres 
avoir  prealablement  decouvert  ce  qu’irrespectueusement 
on  appelle  le  posterieur.  Cette  chaise  fin  de  siede  est 
suffisamment  elevee  pour  permettre  ä  quatre  battoirs 
fixes  au-dessous  d’elle,  d’operer  librement  un  mouvement 
rotatoire  plus  ou  moins  rapide  seien  le  bon  vouloir  de- 
l’operateur,  qui  n’a  qu’ä  mettre  en  action  une  batterie 
electrique  mise  en  communication  avec  la  chaise  au  moyem 
de  fils  mötalliques.  Les  battoirs  mis  en  mouvement  accom- 
plissent  fort  consciencieusement  leur  täche  et  ont  l’avan- 
tage  de  produire  un  travail  tres  regle,  tres  regulier  et  sans- 
la  moindre  fatigue  pour  l’operateur.  Quant  aux  sentiments- 


L  de  Villiot  „Etüde  sur  la  flagellation“  Paris  1899* 
S.  364-365. 


396 


de  la  principale  interessee,  c’est-ä-dire  de  l’eleve  qui  est 
fxee  dans  la  chaise  au  moyen  d’etaux  qui  lui  maintiennent 
solidement  les  poignets  et  les  chevilles,  les  journaux 
americains  n’eii  parlent  pas. 

L’operateur  n’a  qu’ä  presser  sur  un  bouton,  et  la 
‘Chaise  fouetteuse  fait  le  reste.“ 

Se  non  e  vero,  e  ben  trovato. 


Von  den  Flagellationsinstrumenten  wenden  wir  uns 
zu  den  Flagellationspersonen.  Es  ist  nicht  gleichgültig, 
wer  die  Eute  handhabt  und  wie  sie  gehandhabt  wird. 

Um  zuerst  auf  den  letzteren  Punkt  einzugehen,  so  ist  vor¬ 
züglichin  England  die  Flagellation  zu  einer  wahren  „Kunst“ 
ausgebildet  worden  und  hat  dort  einen  eigenen  Berufs- 
zweigder  Prostitution  hervorgerufen,  die  sogenannten 
„  governesses  “,  die  ihren  Namen  von  den  öfter  von 
dem  Züchtigungsrecht  Gebrauch  machenden  Gouvernanten 
-entlehnt  haben.  In  der  Vorrede  zur  „Venus  School-Mistress“ 
heisst  es:  „Die  Frauen,  welche  den  Liebhabern  der 
Disciplin  die  meiste  Befriedigung  verschaffen,  heissen 
„Gouvernanten“,  weil  sie  durch  ihre  Erfahrung  einen 
Takt  und  einen  modus  operandi  sich  angeeignet  haben, 
den  die  Allgemeinheit  nicht  besitzt.  Denn  nicht  die 
blosse  Handhabung  der  Rute  und  die  Bereitwilligkeit  zu 
flagelliren  verschaffen  einer  Frau  den  Besuch  von  Lieb¬ 
habern  der  Rute.  Sie  muss  vielmehr  eine  Zeit  lang  bei 
•einer  anderen  „erfahrenen“  Frau  sich  gründlich  in  der 
Kunst  ausgebildet  und  vervollkommnet  haben.  Sie  müssen 
•eine  schnelle  und  intensive  Methode  besitzen,  die  ver- 


397 


scliiedenen  Aberrationen  des  mensclilicben  Geistes  zu 
erkennen,  und  müssen  daher  bereit  und  willig  sein,  ihnen 
zu  willfahren  und  entgegenzukommen.“ 

Daher  erfordert  die  sexuelle  Flagellation  eine  grosse 
Delikatesse  und  ein  gewisses  savoir  faire  von  Seiten  der 
Flagellanten  oder  der  Flagellantinnen.  Der  Verfasser^) 
einer  1868  in  London  erschienenen  flagellantistischen 
Schrift  „The  Merry  Order  of  St.  Bridget“  bemerkt:  „Es 
giebt  sehr  grosse  Unterschiede  in  dor  Art  des  Geisseins. 
—  Die  Anwendung  oder  Erdulduug  der  Kute  bringt 
keinen  Genuss,  wenn  sie  aut  die  gewöhnlichste  Art  ge¬ 
schieht,  wie  wenn  eine  Frau  im  Jähzorn  schlägt.  Aber 
wenn  eine  elegante,  wohlerzogene  Dame  sie  mit  würde¬ 
voller  Miene  und  graziöser  Haltung  handhabt,  dann  werden 
sowohl  die  Ausübung  als  auch  das  Erdulden  ein  wirk¬ 
liches  Vergnügen.“^) 

Noch  näher  wird  dies  in  der  ,, Exhibition  of  Female 
Flagellants“  ausgeführt.  Flirtilla  sagt  dort:  „Know 
then  you  silly  girl,  there  is  a  manner  in  handling  this 
sceptre  of  felicity,  that  few  ladies  are  happy  in ;  it  is  not 
the  impassioned  and  awkward  brandish  of  a  vulgär  female 
that  can  charm,  butthe  deliberate  and  elegant 
manner  of  a  wo  man  of  rank  and  fashion, 
who  displays  all  that  dignity  in  every  action,  even  to 
the  flirting  of  her  fan,  that  leaves  an  indelible  wound. 


L  „Venus  School-Mistress“  S.  IX. 

2)  Wahrscheinlich  ist  es  Bertram,  der  unter  dem  Pseu¬ 
donym  Cooper  die  „History  of  the  Rod“  schrieb. 

3)  „The  Merry  Order  of  St.  Bridget.  Personal 
Recollections  of  the  Use  of  the  Rod.  By  Margaret  Anson. 
York.  Printed  for  the  Author’s  Friends.  1857.“  (London  1868) 
S.  181. 


398 


’What  a  differonce  between  liigh  and  low-life  in  this 
particular!  To  see  a  vulgär  woman  wlien  provoked  by  her 
^children  seize  them  as  a  tyger  would  a  lamb,  rudely 
•^expose  tlieir  posteriors,  and  correct  them  with  an  open 
hand,  or  a  rod  more  like  a  broom  than  a  neat  collection 
-of  twigs  elegantly  tied  together;  while  a  well-bred  lady, 
’Coolly  and  deliberately  brings  her  child  or  pupil  to  task 
and  when  in  error,  so  as  to  deserve  punishment,  commands 
'the  incorrigible  Miss  to  bring  her  the  rod,  go  on  her 
knees,  and  beg  with  uplifted  hands  an  excellent  whip- 
'ping  etc.“^) 

Die  sexuelle  Flagellation  erstreckt  sich  nur  selten 
-auf  den  ganzen  Körper.  Eine  solche  Geisselung  führt 
z.  B.  der  Mönch  Clement  in  der  „Justine“  des  Marquis 
de  Sade  aus  (II,  195  ff.)  Meibom  erwähnt  eine  Geisselung 
des  Armes  in  geschlechtlicher  Absicht.^)  Die  sogenannte 
„obere“ Disciplin  (Disciplina  sursumodersecundum 
supra)  geschah  auf  Schultern  und  Kücken,  bisweilen  auch 
auf  Brust,  Oberarm,  Hals  und  Kopf,  die  „untere“  Disciplin 
^(Disciplina  deorsum  oder  secundum  sub)  auf 
Lenden,  Hüften  und  Schenkel.^)  Natürlich  spielt  bei  der 
■  unteren  Disciplin  hauptsächlich  (aus  den  oben  angeführten 
•Gründen)  die  Geisselung  des  Gesässes  die  Hauptrolle. 

Die  englische  Flagellationspraxis  hat  noch  gewisse 
■raffinierte  Details  der  Rutenapplication  ausgebildet  und 
vor  allem  den  berüchtigten  ,,Cut  up“  erfunden,  das 
heisst  die  Flagellation  der  Genital-  und  Perinealgegend, 
welche  in  den  meisten  englischen  Flagellationsschriften 

9  „Exhibition  of  -Femaln  Flageliants  in  the 
.‘-Modest  and  Incontinent  World  etc.“  London  1777  S.  4. 

9  Meibom  a.  a.  0,  S.  347. 

9  Frust a..a.  a.  0.  S.  20. 


399 


ausführlicher  beschrieben  wird,  z.  B.  in  ,,The  Komance  of 
Chastisement,  or  Kevelations  of  the  School  and  Bedroom“ 
London  1870  (S.  62),  und  in  „The  Kumance  of  Chastisement, 
or  the  Kevelations  of  Miss  Darc}^“  London  1866.  In  einer 
neueren  Schrift  wird  angegeben,  dass  der  „Cut  up“  sogar 
in  den  Schulen  gebräuchlich  sei.^)  Übrigens  hat  auch 
der  Marquis  de  Sa  de  sich  diese  raffinirte  Marter  nicht 
entgehen  lassen  (Justine  II,  197). 

Weiler  empfängt  die  Ausführung  der  Flagellation 
noch  besondere  Eigentümlichkeiten  und  einen  individuelleren 
Charakter  dadurch,  dass  sie  von  gewissen  anderen  Excen- 
tricitäten  und  Zuthaten  begleitet  wird.  Abgesehen  von 
der  sadistischen  bezw.  masochistischen  Veranlagung  der 
meisten  Flagellanten  bethätigen  viele  noch  andere  perverse 
Gelüste  bei  Ausübung  der  Flagellation.  Der  Verfasser 
von  ,, Venus  School-Mistress“  bemerkt:  „Ich  könnte  einen 
ganzen  Band  mit  der  Aufzählung  und  Erörterung  aller 
der  verschiedenen  und  sonderbaren  Neigungen  anfüllen, 
die  Männer  bei  der  Flagellation  bekundet  haben. 

So  spielt  z.  B.  die  Kleidung  der  Flagellantin  oder 
des  Flagellirten  eine  grosse  Kolle.  Zahlreiche  aktive 
Flagellanten  oder  Flagellantinnen  ziehen  der  vollständigen 
Entblössung  ihrer  Opfer  die  nur  teilweise  vor,  da  dies 
für  sie  einen  grösseren  Keiz  hat.  Mit  Kecht  nennt  der 
Verfasser  der  ,,Romance  of  Chastisement,  or  Kevelations 
of  the  School  and  Bedroom“  (London  1870  S.  80)  die 
„Nacktheit  im  Bade“  decent  in  Vergleichung  mit  der 
höchst  unzüchtigen  partiellen  Entblössung  der  zu 
flagellirenden  Mädchen  oder  Knaben. 


0  „With  Rod  and  Bum;  or  Sport  in  the  West  End  ot 
London.  By  Ophelia  Cox.A  true  tale  by  a  young  governess,“ 
London  and  New  York  1898  S.  16. 

2)  „Venus  School-Mistress“  S.  55. 

\ 


400 


Ähnlich  heisst  es  in  der  „Rxhibition  of  Female 
Flagellants“,  dass  die  „Nacktheit  bei  der  Flagellation  hnmer 
eine  partielle  sein  muss,  um  den  höchsten  Grad  der  Be¬ 
friedigung  zu  geben'^,  und  es  wird  der  Vorschlag  gemacht, 
die  Kleidung  bei  den  verschiedenen  Individuen  so  anzu¬ 
ordnen,  dass  bei  jeder  ein  anderer  Körperteil  den  Blicken 
des  Flagellanten  demonstrirt  wird. 

Neben  dem  Kontrast,  den  die  Kleidung  zu  den  nicht- 
bekleideten  Körperteilen  bildet,  wirkt  auf  die  Flagellanten 
häufig  ganz  besonders  auch  die  Zusammensetzung  der 
Kleidung,  das  Kostüm  als  solches.  Dies  gilt  sowohl 
für  die  aktive  wie  für  die  passive  Flagellation.  So  verlangt 
z.  B.  ein  passiver  Flagellant,  dass  die  ihn  geissein  de  Frau 
jedesmal  zuvor  ein  —  Nonnenhabit  anlegt. In  der 
„Bomance  of  Chastisemmnt“  tragen  die  flagellirten  Mädchen 
Empirekostüm;  in  einer  flagellantistischen  Anekdoten¬ 
sammlung  „Sublime  of  Flagellation“  (London  1786  S.  39) 
wird  ein  junger  Liebhaber  der  Rute  besonders  durch  das 
herrliche  Kostüm  seiner  Angebeteten  zu  der  Bitte  einer 
Züchtigung  von  ihrer  Hand  veranlasst.  Die  mit  goldenen 
Spangen  besetzten  Schuhe,  die  golddurchwirkten  seidenen 
Strümpfe,  die  Jupons,  der  Arm-  und  Halsschmuck  haben 
es  ihm  angethan.  Vielfach  werden  weibliche  Ober-  und 
Unterkleider  dort,  wo  sie  in  der  Gegend  der  Hüfte  und 
des  Gesässes  enden,  noch  mit  besonderen  Zierraten  ver¬ 
sehen,  um  so  die  Aufmerksamkeit  auf  diesen  Teil  zu 
enken. 

In  eigenartiger  Weise  scheint  der  bekannte  Schrift¬ 
steller  George  Augustu s  Sala  dem  Kleidungsfetischis- 


L  „Venus-School  Mistress“  S.  54. 

„The  Merry  Order  of  St.  Bridget“  London  1868  S.  25. 


401 


mus  bei  der  Flagellation  gehuldigt  zu  haben.  In  der 
von  ihm  zum  grössten  Teile  verfassten  erotischen  Schrift 
„The  Mysteriös  of  Verbena  House“  (zuerst  London  1881) 
nehmen  die  Erörterungen  über  Kleidung  einen  sehr  grossen 
Raum  ein.  So  sagt  er  an  einer  Stelle;  „Die  grösste  Feindin 
der  weiblichen  Keuschheit  ist  die  Berührung.  Lasst  das 
Mädchen  leichte  Kleidung  tragen,  so  wird  sie  kühles  Blut 
behalten.  Nonnen,  wenigstens  solche  auf  dem  Festlande, 
tragen  keine  Unterkleidung,  ebenso  wenig  thun  dies  Bauern¬ 
mädchen.  Aber  je  grösser  die  Unzüchtigkeit  ist  —  die 
professionelle  oder  jede  andere  —  desto  schöner  und  kost¬ 
barer  werden  die  Kleider,  während  die  Prüde  oder  das 
alte  Mädchen  entweder  sehr  unscheinbare  Unterkleider 
trägt  oder  gar  keine.  Ich  kannte  thatsächlich  eine  Dame, 
die  nicht  nur  selbst  jede  Unterkleidung  verschmähte, 
sondern  auch  ihren  Töchtern  verbot,  welche  zu  tragen. 
,,Sie  ist  unanständig“  sagte  sie.  Und  das  ist  auch  der 
Fall.  Sie  bringen  etwas,  was  dem  anderen  Geschlechte 
angehört,  mit  dem  Weibe  in  unmittelbaren  Contakt.“ 
Reitkleidung  hält  er  für  besonders  gefährlich  für  die 
weibliche  Keuschheit,  wegen  des  engen  Anschmiegens 
derselben.  „Lass  die  Grazien  ganz  nackt  oder  nur  mit 
einer  losen  Draperie  bekleidet  sein,  und  sie  können  so 
keusch  sein  wie  Susanna.  Aber  stecke  sie  in  Unterhosen 
und  sie  werden  prostituirt  werden.  Wenn  Diana  in  Unter¬ 
hosen  zur  Jagd  gegangen  wäre,  würde  sie,  glaube  ich, 
dem  armen  Actäon  nicht  so  übel  mitgespielt  haben.“ 
In  seinen  weiteren  Schilderungen,  die  sich  lang  und  breit 
über  die  verschiedenen  Möglichkeiten  der  weiblichen  Unter- 

L  „The  Mysteries  of  Verbena  House,  or  Miss  Bellasis 
birched  for  thieving.  By  Etonensis“.  London  1898  Bd.  1. 
S.  43—45. 


26 


402 


kleidung  ergehen,  verrät  aber  der  Verfasser  seine  Vorliebe 
gerade  für  diesen  Teil  der  weiblichen  Toilette. 

In  einer  anderen  FJagellationsschrift  wird  als  besondere 
Attraction  die  „Dame  in  Weiss“  geschildert. 

„Frau  Hautville  machte  für  die  Gelegenheit  (der 
Flagellation)  eine  sehr  hübsche  Toilette;  sie  war  ganz  in 
Weiss,  in  dem  Kostüm  einer  Novize,  wenn  sie  den  Schleier 
nimmt.  Das  Kleid  war  erheblich  verändert,  da  es  lür 
die  Gelegenheit  zu  fliessend  war,  aber  Alles  war  weisse 
Seide  und  Spitzen;  und  wie  ein  lieblicher  kleiner  Engel 
sah  sie  aus,  als  die  Toilette  beendet  war.  Vom  Kopf  bis 
zu  den  Füssen  hatte  sie  Nichts,  was  nicht  reines  Weiss 
war.  Weisse  Atlasschuhe  mit  auf  den  Rosetten  funkelnden 
Diamanten;  weisse  seidene  Strümpfe,  die  oberhalb  ihrer 
runden  Kniee  mit  weisssammtenen  Strumpfbändern  mit 
Atlasrosetten  befestigt  waren ;  weisse  ünterröcke  aus  weichem 
Linnen  und  feinstem  Flanell  mit  Lilien  gestickt.  Ihr  Kleid 
war  aus  Seide  —  von  der  weichen  geräuschlosen  Art,  die 
nicht  knistert  —  reich  mit  kostbaren  Mechelner  Spitzen 
besetzt  und  über  ihrem  Haupte  hatte  sie  einen  viereckigen 
Schleier.“^) 

Zu  dem  äusseren  Schmuck  weiblicher  Flagellantinnen 
in  England  gehört  auch  der  Blumen  st  rauss,  der  ge¬ 
wöhnlich  am  Busen  befestigt  wird  und  dessen  Duft  sowohl 
die  Trägerin  selbst  als  auch  die  männliche  oder  weibliche 
Person,  welche  die  Züchtigung  erleidet,  geschlechtlich 
erregt. 

In  der  „Venus  School-Mistress‘‘  heisst  es:  „Und  Du, 
0  Flora!  Hohepriesterin  der  Venus,  komm  und  hilf 


0  „Flagellations-Erfahrungen“  deutsch  von  E.  Weber, 
Dresden  1901  S.  130—131. 


403 


Deinen  lieblichen  Schwestern,  ihre  hübschen  Köpfe  und 
schwellenden  Busen  zu  verschönern !  Lass  Deine  süssen 
Oaben  die  erlesenen  Genüsse,  welche  die  Liebesgöttin  ihren 
Verehrern  schenkt,  vorbereiten  und  verfeinern  !“i)  Diese 
Apostrophe  geht  von  einem  Mädchen  aus,  das,  während  sie 
die  Eute  gebraucht,  gewöhnlich  einen  mächtigen  Blumen- 
strauss  an  der  Brust  befestigt,  um  von  Zeit  zu  Zeit 
daran  zu  riechen,  „as  the  fragrance  of  the  flowers  always 
excited  in  me  the  most  pleasing  sensations.“  Eine  andere 
gerät  dadurch  während  der  Flagellation  sogar  in  einen 
^,lascivious  stupor“.  Eine  dritte  berauscht  sich  an  dem 
Dufte  zahlreicher  verschiedener  Blumen  in  ihrem  Zimmer, 
bevor  sie  zur  Flagellation  schreitet.^)  Das  Bouquet  muss 
aber  möglichst  hoch  getragen  werden,  damit  sein  Duft 
auch  zu  der  Nase  der  Trägerin  dringe.  Manchmal  wird 
auch  der  Blumenstrauss  erst  nach  der  Flagellation  als 
Excitans  benutzt.  In  der  „Exhibition  of  Eemale  Flagellants“ 
{Th.  II  S.  3)  heisst  es:  „After  she  had  done  (whipped 
her)  she  took  Miss  N.  to  the  garden  and  picked  for 
her  a  beautiful  nosegay,  but  so  monstrously  large  that 
she  was  almost  ashamed  to  wear  it.  However  as  her  friend 
wore  one  of  an  equal  size,  she  pinned  it  to  her  bosom; 
I  see,  my  dear,  said  she,  3^011  are  not  acquainted  with 
the  secret  influence  of  flowers;  know  my  dear  girl  that 
their  sweet  perfume  has  an  uncommon  effect  on  many 
men  and  women;  but  to  have  that  effect  on  men  they 
must  adorn  a  lovely  bosom  like  yours.‘‘ 

Der  von  den  weiblichen  Flagellantinnen  getragene 
Blumenstrauss  übt  auch  auf  die  Flagellirten  oder  der 


L  „Venus  School-Mistress“  S.  4. 

2)  ibidem  S.  24—25;  S.  31—33;  S.  36;  S.  45. 


26* 


404 


Flagellation  beiwohnenden  Männer,  eine  stark  erregende- 
Wirkung  aus.  In  dem  Abschnitt  „Blumenstrauss  und 
Kutenhiebe“  der  aus  dem  Englischen  übersetzten  „Flagel¬ 
lationserfahrungen“  wird  hierauf  hingewiesen  und  erzählt, 
wie  ein  reicher,  für  die  Rute  eine  ausserordentliche  Vor¬ 
liebe  hegender  Mann  sich  an  den  flagellantistischen  Übungem 
der  von  ihm  für  seine  Töchter  engagirten  Gouvernante 
ergötzt  und  ihr  eigenhändig  einen  Blumenstrauss  so  gross 
wie  einen  Besen  bindet,  den  sie  am  Busen  befestigen 
muss,  um  während  der  von  ihr  den  Mädchen  erteilten 
Züchtigung  daran  zu  riechen,  was  für  Mr.  D.  ein  ,, höchst 
bezaubernder“  Anblick  ist.^) 

Uebrigens  scheint  früher  der  Blumenstrauss  und  dessen 
eigenartige  Befestigung  als  Erkennungszeichen  in 
der  flagellantistischen  Prostitution  gedient  zu  haben,  so 
dass  die  mit  solchen  Neigungen  behafteten  Männer  bei 
dem  Anblicke  eines  solchen  Strausses  wussten,  dass  die 
Trägerin  ihre  Gelüste  befriedigen  würde.  Diese  „  N  o  s  e- 
gays  of  lechery  („bouquet  de  luxure“)  wurden  im 
18.  Jahrhundert  vielfach  von  den  englischen  Flagellan- 

O  O 

tinnen  allabendlich  in  den  grossen  Vergnügungsgärten 
Ranelagh  und  Vauxhall  zur  Schau  getragen.  Kaum  hat 
sich  solch  eine  blumengeschmückte  Venuspriesterin  — 
wie  in  der  „Venus-School-Mistress“  erzählt  wird  —  nach 
Ranelagh  begeben,  als  sie  auch  schon  von  einem  leiden¬ 
schaftlich  die  Rute  liebenden  Gentleman  angeredet  wird,, 
der  sich  gerne  von  elegant  gekleideten  und  mit  einem 
enormen  Blumenstrauss  geschmückten  jungen  Damen 
flagelliren  lässt.  Das  war  aber  nur  ein  Fall  unter  vielen.“} 


0  „Flagellations-Erfahrungen“  S.  137 — 139. 
-)  „Venus  School-Mistress“  S.  51 — 52. 


405 


Eine  besondere  Gruppe  von  Liebhabern  der  Bute 
bilden  die  sogenannten  „Voyeurs“  d.  h.  Individuen,  die 
geschlechtliche  Befriedigung  im  blossen  Zuschauen  bei 
■der  Ausübung  der  Flagellation  durch  Andere  finden.  „Wie 
bei  anderen  Formen  der  Algolagnie  kommt  auch  hier  der 
Fall  vor,  dass  die  sexuelle  Erregung  nicht  durch  active 
Ausübung  oder  passive  Erduldung  der  Flagellation,  sondern 
•durch  den  blossen  Anblick  von  Flagellationszenen  oder 
sogar  durch  die  blosse  Vorstellung  einer  durch  Andere 
an  Anderen  verübten  Flagellation  in  genügender  Stärke 
■erzeugt  wird.“^) 

So  erzählt  Frusta,  dass  ein  ihm  bekannter  be¬ 
rühmter  Officier  noch  in  späteren  Jahren  in  W.  und  in 
M.,  so  oft  die  Polizei  aufgegriffene  Freudenmädchen 
■durchpeitschen  Hess,  dem  einen  und  anderen  Agenten  einen 
Dukaten  für  die  Erlaubnis  bezahlte,  zusehen  zu  dürfen.-) 
Derselbe  Autor  kannte  einen  angesehenen  Polizeibeamten, 
welcher  „weibliche  Personen  dutzendweise  mit  Ruten  auf 
den  völlig  oder  bis  aufs  Hemd  entblössten  Unterkörper 
hauen  liess.  Mit  gebildeten  Damen  in  Gesellschaft  sah 
■er  dem  Spiele  zu  und  schnupfte  Tabak.  In  seiner  früheren 
Zeit  gab  er  den  Polizeiagenten  zu  M.  und  V.  jedesmal 
■einen  Dukaten  für  die  Erlaubnis,  Mädchen  oder  Weiber, 
welche  nach  8  Uhr  ohne  Begleitung  auf  der  Strasse  sich 


1)  A.  Eulen  bürg  „Sexuale  Neuropathie“  Leipzig  1895 
S.  124.  In  den  „Memoiren  einer  Sängerin“  (Teil  II  S.  51)  wird 
auch  diese  Neigung,  den  blossen  Anblick  von  Züchtigungen  zu 
geniessen,  erwähnt  und  ganz  richtig  hervorgehoben,  dass  viele 
•dieser  Voyeurs  oft  eine  Abneigung  davor  haben,  selbst  die 
Flagellation  vorzunehmen.  „Es  ist  ein  himmelweiter  Unter¬ 
schied  zwischen  dem  Thun  und  dem  Zusehen“. 

2)  Frusta  a.  a.  0.  S.  266. 


406 


hatten  blicken  lassen  und  welche  daher  nach  der  Wache' 
gebracht  worden  waren,  züchtigen  zu  sehen.  Bei  einem 
der  Hepp!  hepp!  im  Jahre  1819  liess  er,  ebenfalls  in 
brillanter  Gesellschaft,  über  20  eingebrachte,  zum  Teil 
sehr  anständige  Dienstmädchen,  jämmerlich  durchstäupen. 
Er  kam  später  in  Ungnade,  weil  er  einer  vornehmen 
Dame  eine  Prise  Tabacfe  aus  einer  Dose  anbot,  worin  die 
Stäupung  eines  jungen  Frauenzimmers  abgebildet  zu  sehen 
war“J)  Frusta  behauptet,  dass  dieser  Geschmack  am 
Zusehen  bei  Züchtigungen  besonders  in  Ungarn  verbreitet 
sei,  wo  auch  jener  hohe  Polizeibeamte  denselben  bekommen 
habe.  In  der  That  scheint  hier  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  ein  derartiger  Geschmack  sehr  verbreitet 
zu  sein.  Denn  in  den  „Memoiren  einer  Sängerin“,  die 
thatsächliche  Verhältnisse  schildern,  wird  erwähnt,  dass  bei 
den  nichtöffentlichen  Auspeitschungen  auf  dem  Stadthause 
in  Budapest  immer  einige  Zuschauer,  besonders  solche 
weiblichen  Geschlechts  und  von  vornehmem  Stande  sich 
Zutritt  zu  verschaffen  wussten,  um  ihre  sadistischen  Ge¬ 
lüste  zu  befriedigen. 

Die  Existenz  solcher  weiblichen  Voyeurs  bezeugt  auch 
eine  sehr  bemerkenswerte  Stelle  aus  den  1797  in  London 
erschienenen  „Memoirs  of  John  Bell,  a  Dom^estic  Servant“,, 
welche  Pisanus  Fraxi  mitteilt.^)  Sie  lautet: 

„Der  nächste  Dienst,  den  ich  antrat,  war  bei  einer 
reichen  Wittwe,  deren  Familie  aus  zwei  Nichten  im  Back¬ 
fischalter  und  einem  12jährigen  Neffen  bestand.  Sie  war 
eine  schöne  Frau  gewesen  und  war  noch  immer  hübsch. 
Als  sie  mich  engagirte,  bemerkte  sie,  dass  sie  auf  meinen 


ibidem  S.  305—306. 

2)  P.  Fraxi  „Centiiria“  S.  460 — 161. 


407 


Beistand  in  allem,  was  sie  von  mir  verlangen  würde, 
rechnete,  was  ich  sofort  zusagte.  Was  dieses  „alles“  war, 
wurde  bald  offenbar;  denn,  als  ich  am  andern  Morgen  das 
Frühstück  hereinbrachte,  fragte  sie  mich,  ob  ich  jemals 
Diener  in  einer  Schule  gewesen  sei  und  geholfen  habe,  die 
Kinder  zu  prügeln  ?  Ich  verneinte  dies,  bemerkte  aber,  dass 
ich  oft  meinen  Bruder,  den  ich  Lesen  gelehrt  hätte,  geprügelt 
habe.  Etwa  eine  halbe  Stunde  später,  rannte  ihr  Neffe  gegen 
mich,  als  ich  gerade  einen  Teller  in  der  Hand  hatte, 
welcher  hinfiel  und  zerbrach.  „Nun,  John“,  sagte  sie, 
„halte  den  Jungen  fest,  während  ich  eine  gute  Hute 
hole“.  Sie  holte  dieselbe  schnell  aus  einem  Schranke 
und  übergab  sie  mir  mit  den  Worten:  „Setz  Dich  hin 
und  gieb  ihm  die  Kute  wie  Du  sie  Deinem  Bruder  ver¬ 
abreichtest“.  Ich  strafte  unverzüglich  den  kleinen  Burschen 
ab  und  liess  ihm  eine  gehörige  Züchtigung  angedeihen, 
während  meine  Herrin  mit  unverkennbarem  Vergnügen 
jusah.  „Sehr  gut“,  sagte  sie,  „Du  siehst,  was  der  Junge 
nötig  hat  und  Du  kannst  es  ihm  immer  geben,  wenn  er 
es  verdient,  aber  nur  in  meiner  Gegenwart,  merke  Dir 
das“.  Jetzt  begriff  ich,  dass  sie  eine  heftige  Leidenschaft 
dafür  hatte,  bei  der  Züchtigung  der  Kinder  zuzusehen, 
aber  ich  muss  trotzdem  gestehen,  dass  mein  Erstaunen 
ausserordentlich  war,  als  sie  noch  an  demselben  Abend 
nach  dem  Tliee  mir  befahl,  dieselbe  Ceremonie  an  ihren 
beiden  Nichten  vorzunehmen.  Es  war  in  der  That  etwaS) 
Neues  für  die  jungen  Damen  des  Hauses,  von  einem  Be¬ 
dienten  gezüchtigt  zu  werden.  Als  die  Herrin  mein 
Zögern  bemerkte,  blickte  sie  mich  streng  an  und  rief: 
„Sofort,  auf  diesem  Sofa,  oder  Du  verlässt  das  Haus!“ 
Hierauf  verabreicht  denn  der  Diener  den  beiden  jungen 
Mädchen  und  noch  einmal  dem  Knaben  die  von  seiner 
Herrin  gewünschte  Tracht  Prügel. 


408 


„Ich  brauche  nicht  die  verschiedenen  Weisen  zu 
schildern,  in  welchen  ich  meine  neuen  und  ungewöhn¬ 
lichen  Pflichten  ausführte.  Am  Morgen  wünschte  sie  ge¬ 
wöhnlich  die  Vornahme  der  Züchtigung,  während  sie  bei 
der  Näh-Arbeit  sass  und  die  Hiebe  und  ihre  Nadelstiche 
zählte.  Am  Abend  genoss  sie  das  Vergnügen  beim  Thee, 
aus  der  Untertasse  schlürfend,  dabei  in  aller  Euhe  sagend: 
„Bitte,  John,  ein  wenig  mehr  rechts,  das  genügt!“ 

Schliesslich  wird  noch  ein  löjähriger  Page  engagirt, 
der  ebenfalls  häufig  im  Beisein  der  Hausherrin  mit  der 
Euthe  gezüchtigt  wird. 

In  einer  alten  englischen,  zum  grössten  Teil  wirkliche 
Thatsachen  wiedergebenden  Anekdotensammlung  „The 
Cherub,  or,  Guardian  of  Female  Innocence  etc.“  (London 
1792)  wird  das  Treiben  eines  Flagellations -V^oyeurs  sehr 
anschaulich  geschildert.  Es  handelt  sich  um  einen  reichen 
alten  Bankier  aus  der  Broad  Street,  der  mit  zwei  Vor¬ 
steherinnen  von  Töchterschulen  (einer  bei  Hackney,  der 
anderen  bei  Stratford)  ein  Abkommen  getroffen  hat, 
wodurch  er  gegen  wöchentliche  Zahlung  einer  grossen 
Summe  eines  sehr  sonderbaren  Vergnügens  teilhaftig 
wird.  Bei  seinem  allwöchentlichen  Besuche  in  jeder  der 
Schule  findet  die  allgemeine  Abstrafung  der  Kinder  statt.. 
Während  der  alte  Herr  in  einem  benachbarten  Zimmer 
durch  eine  Öffnung  zuschaut,  werden  die  Kinder  nach 
einander  hereingeführt,  hinten  entblösst  und  mit  der  Eute 
gezüchtigt. 

Jj 

0  „Tlie  Cherub;  or,  Guardian  of  Female  Innocence.  Ex¬ 
posing  the  Arts  of  ßoarding  Schools  Hired  Fortune  Tellers 
Corrupt  Milliners  Apparent  Ladies  of  Fashion.“  London 
1792  S.  17. 


409 


Der  sexuelle  Charakter  der  Flagellation  tritt  natürlich 
am  häutigsten  und  deutlichsten  hervor,  wenn  dieselbe 
zwischen  Personen  verschiedenen  Geschlechtes  statt- 
tindet.  „Der  Mann  hat  immer  im  Weib  in  erster  Linie 
das  Geschlechtswesen  zu  sehen,  und  der  LTnterschied  des 
Geschlechts  ist  für  die  Sinnlichkeit  von  mächtiger  Be¬ 
deutung.  Kein  Vater,  kein  Lehrer,  überhaupt  kein  Erzieher 
sollte  vergessen,  dass  das  Mädchen  eben  anderen  Ge¬ 
schlechtes  ist  als  des  seinen.“^) 

Eine  auch  ohne  alle  sexuelle  Gelüste  von  einem 
Manne  an  einem  weiblichen  Wesen  vorgenommene 
Züchtigung  wird  stets  allein  schon  durch  den  Unterschied 
des  Geschlechtes  eine  gewisse  geschlechtliche  Nüancirung 
empfangen,  während  dies  bei  Personen  gleichen  Geschlechtes 
jedenfalls  viel  seltener  der  Fall  ist  und  erst  durch  häu¬ 
tigere  Wiederholung  eintritt. 

Wo  dagegen  zwischen  Personen  gleichen  Geschlechtes 
sexuelle  Beziehungen  bestehen,  also  bei  Homosexuellen, 
wird  natürlich  die  Flagellation  ebenso  einen  erotischen 
■Charakter  annehmen  wie  bei  Personen  verschiedenen 
Geschlechtes. 

Moll  teilt  denn  auch  Fälle  von  Flagellation 
zwischen  Urningen  mit.^)  Vor  allem  aber  ist  die  Parallele 
interessant,  die  er  zwischen  der  passiven  Flagellation  und 
der  passiven  Päderastie  zieht,  die  er  beide  auf  die  Begierde 
nach  einer  aussergewöhnlichen  Reizung  der  durch  sie 
betroffenen  Gesässgegend  zurückführt. Dieser  Zusam¬ 
menhang  ist  auch  dem  Marquis  de  Sade  nicht  entgangen. 

D.  Hansen  „Stock  und  Peitsche“  S.  142. 

2)  Moll  „Konträre  Sexualempfindung“  Berlin  1899  S.  280 
bis  287. 

ibidem  8.  240 — 241. 


410 


Er  behauptet,  dass  die  passive  Flagellation  auch  die 
Neigung  zur  passiven  Pädikation  her  vorrufe  und  umge¬ 
kehrt  (Juliette  VI,  228  Anmerkung).  Ebenso  konstatirt 
Doppet,  dass  die  Züchtigung  auf  das  Gesäss  mit 
Ruten  im  Knaben  nicht  selten  die  Neigung  zur  Päde¬ 
rastie  hervorrufe.^) 

Ebenso  kommt  bei  den  weiblichen  Homosexuellen, 
den  Tribaden,  die  sexuelle  Flagellation  häufig  vor. 
Moll  nimmt  an,  dass  die  Homosexualität  bei  Frauen  die 
Neigung  dazu  sehr  begünstige.^)  Schon  die  Weiber  aus 
Ungarn,  die  im  14.  Jahrhundert  nach  Deutschland  kamen, 
sich  öffentlich  entkleideten  und  sich  unter  Absingung 
von  allerlei  seltsamen  Liedern,  mit  Ruten  und  scharfen 
Geissein  schlugen,^)  waren  möglicherweise  z.  Th.  homo¬ 
sexuell  empfindende  Frauen.  Im  18.  Jahrhundert  sind 
aus  Frankreich  und  England  (über  letzteres  s.  unten) 
mehrere  derartige  tribadische  Flagellantinnenklubs  bekannt 
geworden.  Über  Paris  bemerkt  Frusta:^)  „Endlich 
gab  es  junge  Personen  weiblichen  Geschlechtes,  welche 
in  Gärten  sich  mit  Rosenzweigen  schlugen  und  milesische 
Attitüden  aufführten.  In  Paris  wurden  während  der 
französischen  Revolution  mehrerere  dergleichen  Asso¬ 
ciationen  entdeckt,  zu  welchen  man  angesehene  und 
tugendhafte  Frauenzimmer  verlockt  hatte.  Man  verehrte 
darin  Sappho  als  die  Schutzgöttin;  ihr  Bildnis  zierte  den 
Altar,  in  einem  Saale,  wo  alles  darauf  berechnet  war, 
die  Sinne  und  die  Phantasie  einzuschwelgern.  Die  Fla¬ 
gellation  eröffuete  die  Orgien ;  die  schändlichsten  Geschlechts- 

D  0  p  p  e  t  a.  a.  0.  S.  403. 

2)  M  0  1 1  a.  a.  0.  S.  565. 

3)  F  r  u  s  t  a  a.  a.  0.  S.  40. 

“*)  ibidem  S.  268. 


411 


yeriiTUiigen  beendigten  sie.  Tiefer  Hass  gegen  die  Männer 
war  das  erste  Prinzip,  welches  ihnen  eingeprägt  wurde. 
„La  Galerie  des  Pemmes“  (von  Jouy,  Hamburg  1799) 
enthält  eine  belletristische  Bearbeitung  des  in  den  Haupt¬ 
zügen  wahren  Faktums.“') 


Nach  dieser  Darstellung  der  allgemeinen  Ursachen 
und  der  Erscheinungsformen  des  erotischen  Flagellantismus^ 
die  bereits  zahlreiche  Ausblicke  auf  englische  Verhältnisse 
enthielt,  betrachten  wir  nunmehr  die  spezielle  Geschichte 
desselben  in  England. 

Zunächst  fällt  in  der  Geschichte  der  englischen 
Flagellomanie  eine  Thatsache  auf:  die  ausserordentliche 
grosse  Neigung  der  englischen  Frauen  zur  aktiven 
Flagellation. 

Die  Frage,  ob  die  Grausamkeit  häufiger  bei  Frauen 
oder  Männern  vorkommt,  lässt  sich  sehr  schwer  entscheiden,, 
mit  absoluter  Sicherheit  aber  kann  man  sagen,  dass  die 
Grausamkeit  des  Weibes  eine  viel  raffinirtere  ist  als  die 
des  Mannes.  „Das  Weib“,  sagt  Virey,  „blutgierig  und 
nicht  zu  besänftigen  in  seiner  Bache,  treibt  ebenso  seine 
Grausamkeit  bis  zur  Wut,  wie  es  auch  in  der  Tugend 
den  höchsten  Gipfel  erreicht.““)  Auch  Mich  eiet  kon- 
statirt  einen  grossen  Unterschied  zwischen  der  Härte  eines 
Mannes  und  der  Grausamkeit  einer  Frau.  Er  fragt:  „La 
plus  fidele  incarnation  du  diable  en  ce  monde,  cjuelle 

Vergl.  auch  mein  Werk  über  den  „Marquis  de  Sade‘^ 
3.  Aufi.  S.  178—194. 

2)  J.  J.  Virey  .,Das  Weib“  Leipzig  1827  S.  188 — 189. 


412 


est-elle  ä  votre  avis?  .  .  .  Tel  inquisiteur,  tel  jesuite? 
Non,  c’est  une  jesuitesse,  une  grande  dame  convertie,  qui 
se  croit  nee  pour  le  gouvernement,  qui,  parmi  ce  troupeau 
de  femmes  tremblantes,  trancliant  du  Bonaparte,  use  ä 
tourmenter  des  infortunees  sans  defense  la  rage  des 
passions  mal  gueries“.^)  Nach  Blocli^)  folgt  der  Mann 
bei  grausamen  Handlungen  mehr  leidenschaftlichen  Impulsen, 
während  die  echte,  berechnende,  „kalte“  Grausamkeit 
besonders  dem  Weibe  eigentümlich  ist,  welche  durch  ihre 
Verknüpfung  mit  teuflischer  Bosheit  mehr  Schrecken  ein- 
flösst  als  die  weniger  überlegte  Grausamkeit  des  Mannes. 
Niemand  hat  die  Natur  und  Art  der  weiblichen  Grausamkeit 
besser  erkannt  und  geschildert  als  Leopold  von  Sacher- 
Masoch  in  seinen  Romanen  und  Novellen,  von  welch 
letzteren  nur  als  neuerdings  zum  ersten  Male  veröffentlicht 
der  Cyklus  „Grausame  Frauen“  (Dresden  1901,  2  Bände) 
genannt  sei.  Sacher-Masoch,  dieser  merkwürdige 
Apologet  der  weiblichen  Grausamkeit,  schildert  in  allen 
seinen  litterarischen  Erzeugnissen  das  „Weib  mit  den 
Sphinxaugen,  welches  grausam  durch  die  Lust  und  lüstern 
durch  die  Grausamkeit  wird“.^) 

Es  scheint,  dass  die  weibliche  Grausamkeit  mit  Vor¬ 
liebe  sich  der  Flagellation  zu  ihrer  Befriedigung  bedientA) 

J.  Mich  eiet  „Le  Pretre,  la  femme  et  la  famille“  Th. 
IJ  Kap.  5. 

-)  J.  Bloch  „Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia 
sexualis“  Teil  II  S.  57. 

L.  V.  Sacher-Masoch  „Grausame  Frauen“  Dresden 
1901  Bd.  I  S.  5. 

4)  Doch  tritt  die  weibliche  Grausamkeit  auch  bei  anderen 
Gelegenheiten  in  auffälliger  Weise  hervor.  Virey  citirt  be¬ 
glaubigte  Beispiele  dafür.  So  machen  sich  bei  vielen  Wilden 
die  Frauen  meistens  das  Vergnügen,  die  Kriegsgefangenen  zu 


—  413  — 

f 

Pisaniis  Fraxi  bemerkt,  dass  es  mehr  als  genügend: 
Beweise  dafür  giebt,  dass  die  Frauen  einen  Genuss  darin 
finden,  andere  zu  züchtigen,  dass  sie  mehr  Neigung  zur 
Flagellation  haben  als  die  Männer  und  unersättlicher 
und  gef  ühlloser  dabei  sindG)  Ähnlich  sagt  Zimmer  mann 
in  seinem  „Taschenbuch  der  Keisen“:  ,,Es  ist  für  das 
Studium  des  Menschen,  besonders  in  psychologischer  Hinsicht, 
höchst  merkwürdig,  dass  vorzüglich  das  schöne  Geschlecht 
sich  durch  Grausamkeit  dieser  Art  auszeichnet.  Viele- 
derselben  machen  es  sich  zu  einem  Geschäfte,  bei  dem 
Geissein  der  Sklaven  beiderlei  Geschlechts  gegenwärtig 
zu  sein,  ja  selbst  die  Ochsenpeitsche  zu  führen,  oder  auch 
den  Bomba  eigenhändig  zu  peitschen,  wenn  er  nicht  hart 
genug  zuhaut.  Die  Hausneger  sind  wahre  Märtyrer  der 
weissen  Frauenzimmer“.^)  Bei  der  entsetzlichen  Flagellation, 
welcher  Justine  am  Ende  des  vierten  Bandes  von  de 
Sade’s  ,, Justine“  (IV,  337 — 338)  unterworfen  wird,  hat 
der  Autor  in  verständnisvoller  Weise  die  beiden  einzigen 

morden  und  zu  martern  (s.  Hearne,  Voyage  T.  II  p.  32). 
Vergl.  auch  Eulenburg  „Sadismus  und  Masochismus“  S.  72. 
—  Die  römischen  Frauen,  selbst  aus  den  ersten  Ständen,  giagen 
noch  am  Anfänge  des  19.  Jahrhunderts,  wie  Abbe  Richard 
in  seiner  „Description  de  l’Jtalie“  T.  V  p.  242  erzählt,  bei  ihren 
nächtlichen  Spaziergängen  im  Sommer  zu  allen  Fleischern,  um 
die  Ochsen  töten  zu  sehen,  und  ihre  noch  zuckenden  Eingeweide 
zu  betrachten.  Auch  sei  daran  erinnert,  dass  die  altrömischen 
Frauen  mit  einer  Bewegung  des  Daumens  das  Zeichen  zum 
Töten  der  Gladiatoren  gaben,  und  dass  in  Spanien  die  Frauen 
mit  grösserer  Leidenschaft  an  den  blutigen  Stiergefechten 
hängen  als  die  Männer.  Vergleiche  auch  das  interessante  und 
instruktive  Kapitel  „Weibliche  Grausamkeit“  bei  E  u  1  e  n b  u  r  g. 
„Sadismus  und  Masochismus“  S.  68 — 77. 

1)  P.  Fraxi  „Centuria“  S.  461. 

Frust a  a.  a.  0.  S.  291. 


414 


Frauen,  die  sich  neben  den  Männern  daran  beteiligen, 
Nicette  und  Zulma,  als  die  grausamsten  geschildert,  die 
am  meisten  die  arme  Justine  peinigen. 

Das  englische  Weib  scheint  nach  allen  Schilderungen, 
die  wir  davon  besitzen,  von  der  Natur  mit  noch  ein  wenig 
mehr  Herzenskälte  und  Neigung  zur  Grausamkeit  aus¬ 
gestattet  worden  zu  sein  als  seine  continentalen  Geschlechts¬ 
genossinnen.  Vortrefflich  schildert  Dickens  in  ,, Klein 
Dorrit“  diesen  Typus  der  kalten  englischen  Schönheit: 
„Von  Person  war  Mrs.  General  mit  Einschluss  ihrer  Unter¬ 
röcke  eine  wundervolle  imposante  Erscheinung;  voll,  stolz 
einherrauschend,  ernst,  voluminös  und  kerzengerade.  Man 
hätte  sie  auf  die  Spitzen  der  Alpen  und  in  die  Tiefe  von 
Herculanum  mitnehmen  können,  ohne  dass  eine  Falte  ihres 
Kleides  aus  der  Ordnung  geraten  wäre,  oder  eine  Steck¬ 
nadel  ihren  Platz  verlassen  hätte.  Wenn  ihr  Antlitz  und 
Haar  ein  mehliges  Aussehen  hatten,  so  war  es  mehr,  weil 
sie  zu  den  Kalkschöpfungen  gehörte,  als  weil  sie  grau 
geworden  war.  Wenn  ihre  Augen  keinen  Ausdruck  hesassen, 
so  war  es  wahrscheinlich,  weil  sie  nichts  auszudrücken 
hatte  n.‘‘ 

Diese  stolzen  und  imposanten  Figuren^)  sind  es,  welche 
die  englische  Männerwelt  von  jeher  vermittelst  der  — 
Rute  unterjocht  haben,  welche  „delight  in  administering 
the  birch“.  Denn  das  muss  hervorgehoben  werden,  dass 
die  englische  Flagellantin  wesentlich  eine  aktive  ist, 

■^)  Eine  solche  ist  vortrefflich  wiedergegebeu  auf  dem  Bilde 
eines  englischen  Künstlers,  welches  „Lady  Termagant  Flaybum“ 
darstellt,  wie  sie  im  Begriffe  ist,  ihrem  Stiefsohn  die  Rute  zu 
geben.  Reproduktion  bei  P.  Praxi  „Centuria“  S.  456  und  457; 
darnach  bei  D.  Hansen  „Stock  und  Peitsche“  2.  Auflage 
S.  177. 


415 


von  den  höchsten  bis  zu  den  niedersten  Ständen.  Ein 
Gewährsmann  von  Pisanus  Fraxi,  selbst  ein  passio- 
nirter  Liebhaber  der  Kute  und  genauer  Kenner  der 
einschlägigen  Verhältnisse,  teilte  ihm  mit:  „Aus  meiner 
Erfahrung  habe  ich  persönlich  mehrere  Damen  von  hohem 
Eange  gekannt,  die  eine  ausserordentliche  Leidenschaft  für 
die  aktive  Flagellation  hatten  und  zwar  diese  mit  erbarm¬ 
ungsloser  Grausamkeit  ausführten.  Ich  kenne  auch  die  junge 
und  hübsche  Frau  eines  Predigers,  die  die  Passion  bis  zum 
Excess  trieb.  Nur  eine  einzige  Frau  habe  ich  gekannt, 
die  passive  Flagellation  liebte,  sie  war  aber  von  niederer 
Herkunft.  In  angeheitertem  Zustand  Hess  sie  sich  das 
Gesäss  so  lange  geissein,  bis  die  Kute  mit  Blut  getränkt 
war,  dabei  immerzu  rufend:  Schärfer,  schärfer!  und 
scheltend,  wenn  die  Züchtigung  zu  milde  war.“i)  Nur 
in  England  giebt  es  solche  reichen  und  vornehmen  Damen, 
die  ohne  Prostituirte  zu  sein,  die  aktive  Flagellation  als 
Sport  treiben.  Fälle  wie  derjenige  der  „Prügel- Wittwe“, 
der  in  den  „Flagellationserfahrungen“  mitgeteilt  wird,  sind 
durchaus  keine  Ausnahmeerscheinungen  im  englischen 
High  life.  lieber  diese  „Prügel-Wittwe“  wird  an  der 
erwähnten  Stelle  Folgendes  berichtet: 

„Es  ist  noch  nicht  sehr  lange  her,  als  plötzlich 
in  der  Gesellschaft  eine  reiche  oder  anscheinend 
reiche  Wittwe  erschien.  Frau  W.  lebte  auf  grossem  Fuss, 
hielt  sich  Equipagen  und  besass  ein  schön  eingerichtetes 
Haus  mit  einer  Menge  wohlgeschulter  Diener.  Niemand 
kannte  die  Quelle  ihres  Reichtums,  oder  woher  sie  kam, 
aber  sie  wurde  schnell  in  der  besten  Gesellschaft  bekannt 
und  erwarb  sich  durch  ihr  forsches  Wesen  und  ihre 


L  P.  Fraxi  „Index“  S.  XLVI. 


416 


Erscheinung  eine  hervorragende  Stellung  in  der  vornehmen' 
Welt.  Wie  viele  feinere  Damen  hegte  sie  eine  geheime 
Leidenschaft  für  die  Kute,  und  sonderbare  Geschichten 
begannen  durch  ihre  Mädchen  über  die  Art  und  Weise 
in  Umlauf  zu  kommen,  in  welcher  sie  dieselbe  gegen  sich 
seihst  und  gegen  die  Mädchen  benutzte;  auch  besagte 
ein  Gerücht,  dass  sie  die  Rute  gegen  ihren  verstorbenen 
Gatten  sehr  freigebig  anzuwenden  pflegte.  Nach 
seinem  Tode  ward  sie  mit  einem  jungen  Studenten 
bekannt,  welcher  sie  unter  dem  Vorwände,  ihr  Unterricht 
zu  erteilen,  besuchte,  in  Wirklichkeit  aber,  um  eine 
ordentliche  Tracht  Hiebe  aus  ihrer  Hand  zu  erhalten.“  1} 
Die  Geschichte  der  Flagellomanie  unter  den  englischen 
Frauen  lässt  sich,  wie  schon  in  der  Einleitung  hervor¬ 
gehoben  wurde,  bis  in  die  angelsächsische  Epoche  verfolgen. 
Hier  tritt .  die  Neigung  der  Frauen  um  so  auffälliger 
hervor,  als  die  angelsächsischen  Strafgesetze,  insofern  sie 
körperliche  Züchtigung  betrafen,  sehr  milde  waren.  Einer 
der  besten  Kenner  dieser  Periode,  Thomas  Wright,. 
hebt  die  Grausamkeit  der  angelsächsischen  Frauen  gegen 
ihre  Untergebenen  als  eine  merkwürdige  Erscheinung 
hervor.  Es  kam  sogar  vor,  dass  Diener  oder  Mägde  von 
ihren  Herrinnen  zu  Tode  gepeitscht  wurden.  Die 
Geschicklichkeit,  mit  welcher  angelsächsische  Frauen  die 
Rute  handhabten,  wird  durch  zahlreiche  Berichte  illustrirt. 
Auch  haben  sich  bildliche  Darstellungen  solcher  Flagel¬ 
lationsszenen  aus  angelsächsischer  Zeit  erhalten.^) 


L  „Flagellations-Erfahrungen“  Dresden  1901  S.  80. 

2)  T  h  0  m  a  s  Wright  „Domestic  Manners“  S.  56 — 57 
(Darstellung  einer  Flagellationsszene  Fig.  37  auf  S.  57) ;  vergl. 
auch  Wright  „History  of  English  Culture“  S.  69 — 70. 


417 


Aus  späterer  Zeit  ist  eines  der  interessantesten,  bisher 
noch  nirgends  veröffentlichten  Dokumente  für  die  grosse 
Verbreitung  der  Flagellomanie  unter  den  englischen  Frauen 
eine  Stelle  in  Samuel  Butler’s  „Hudibras“,  welcher 
satirische  Dichter  überhaupt  auf  die  moralischen  Zustände 
seiner  Zeit  (Mitte  des  17.  Jahrhunderts)  sehr  grelle  Streif¬ 
lichter  fallen  lässt.  Aus  dieser  Stelle  geht  jedenfalls  mit  noch 
grösserer  Sicherheit  als  aus  des  noch  früheren  Christopher 
Marl  owe  weiter  unten  zu  erwähnendem  Epigramm  her¬ 
vor,  wie  tief  eingewurzelt  bereits  im  17.  Jahr¬ 
hundert  die  Neigung  zur  Flagellation  in  der 
(nota  bene)  weltlichen  Gesellschaft  Englands 
war.  Denn  den  aktiven  Flagellantinnen  entsprechen  ge¬ 
wiss  ebenso  viele  passive  Flagellanten.  Die  auch  in 
Beziehung  auf  ihre  masochistische  Tendenz  sehr  merk¬ 
würdige  Stelle  im  „Hudibras“  lautet^): 

Dass  kühne  Ritter  oft  im  Sturm 
Erlösten  Fräulein  aus  dem  Thurm, 

AVenn  sie  geweint  in  Sklaverei 
Durch  oder  wegen  Tyrannei: 

Das  forderte  die  Männlichkeit, 

Der  Orden,  Ehr’  und  Rittereid; 

Denn  w^ozu  wären  Helm  und  Waffen, 

Als  Damen  Schutz  und  Hülf’  zu  schaffen? 

Doch  dass  ein  niemals  irrend  Weib 
Los  lasse  eines  Ritters  Leib 
Hat  noch  kein  spanischer  Roman 
Und  klassisch  Buch  je  dargethan. 


1)  Nach  der  Uebersetzung  von  Josua  Eiselein,  Freiburg 
1845  S.  101 — 101.  — Frau  Igetzart  spricht  hier  zu  dem  im 
Zauberschlosse  gefesselt  liegenden  Hudibras,  der  von  ihr 
befreit  werden  will. 


27 


—  418  — 

Zudem  ist  es  auch  gar  nicht  klug, 

Wenn  ohne  Recht  und  ohne  Fug 
Ihr  diese  schöne  Regel  wollt, 

Der  alle  Welt  Hochachtung  zollt. 

Nur  platthin  übers  Knie  abschnellen. 

Um  Euch  auf  freien  Fuss  zu  stellen. 

Und  möcht’  ich’s  auch,  so  dürft’  ich  nicht 
Denn  wer  hier  angezaubert  liegt. 

Dem  wird  das  Los,  so  Ihr  begehrt. 

Nur  mit  Formalität  gewährt; 

Er  muss  durch  mystische  Gebärden 
Vom  Zauber  erst  erlöset  werden. 

Denn  wie’s  io  Rom  gab  kein  Exempel 
Dass  jemand  zu  der  Ehre  Tempel 
Eingehen  könnt’,  als  durch  das  Thor 
Der  Tugend:  so  muss  hie  zuvor 
Ein  jeder  sicli  durch  Gert’  und  Ruten 
Umbilden  ernstlich  zu  dem  Guten, 

Wobei  die  Ritter  ringsum  stehn 
Mit  Schli essen  an  der  Hand  versehn. 

Auf  dass  sie  darin  reuig  dulden 
Und  büssen  ihrer  Lüste  Schulden. 

Die  Tugendmutter  Rute  straft 
Und  muntert  auf  zur  Wissenschaft; 

Sie  kann  Naturgebrechen  heben 
Und  faulem  Fleische  Rührung  göben; 

Sie  legt  den  Grund  zu  allem  Ruhm 
In  Poesie  und  Heldentum. 

Nach  dieser  Zucht  und  Arzenei 
Lässt  man  die  Helden  wieder  frei; 

Giebt  ihnen  nach  Regulativ 
So  Reisekleid  als  Creditiv, 

Auf  dass  die  Schulzen  allerort 
Sie  ungehindert  schaffen  fort 
Mit  Achtung  und  genauer  Schau 
Ganz  kostenfrei  in  ihren  Gau. 


419 


AVollt’  Ihr  nun  prüfen  mir  zu  Ehren, 

Wie  gut  sich  Euer  Fall  lass’  kehren, 

Und  wollt,  wie  andern  oft  geschehn 
Die  Ruten  mit  Geduld  ausstehn 
(Wobei  der  segne  das  Gelingen, 

Der  Anfang  giebt  und  auch  Vollbringen!), 

So  lass  ich  Eure  Ferse  los 

Und  helf’  Euch  Yon  dem  Zauberschloss. 

Beschert  das  Schicksal  Strang  und  Weib, 
Warum  nicht  Ruten  für  den  Leib, 

Das  für  Yerliebte  Raserei 
Giebt  keine  bessere  Arznei? 

Denn  Amor  ist  ein  Knabe  blind. 

Wer  Ruten  schont,  verdirbt  das  Kind. 
Hat  Xerxes  nicht  sogar  das  Meer 
Woraus  Amors  Mama  stammt  her 
Zerpeitschet?  (Daher  Rosmarin 
Bei  Hochzeitsfeiern  noch  hat  Sinn.) 

Wie  Küfer  einen  Reif  an  schlagt 
In  Lydier  und  Phrygier  Takt; 

So  kann  auch,  wer  sich  wacker  stäuj)t 
Und  es  mit  Art  und  Tempo  treibt. 

Durch  seine  Haltung  und  Manieren 
Gefühl  der  Liebe  inspirieren. 

Dies  bringet  wahrhaft  minder  Müh’ 
Als  andre  Art  Galanterie, 

Wer  reicht  der  Rute  nicht  die  Hand 
Viel  lieber,  als  zu  schlucken  Band, 

Und  Reim  und  Minnelied  zu  machen 
In  Morgenblatt  und  Almanachen? 

Statt  Leib  und  Seele  zu  verschwören. 

Kein  Weib  durch  Liebe  zu  betören. 

Und  ewig  treu  an  ihr  zu  halten 
Wie  Eichen  in  der  Klüfte  Spalten; 

Statt  Zofen  oft  mit  Geld  und  Küssen 
Die  Plaudermäuler  stopfen  müssen. 

Und  Eure  Nase  auf  das  Spiel 


27* 


420- 


Zu  setzen  ohne  Mass  und  Ziel' 

Bei  Dirnen,  die  ihr  Augenlicht 
Mit  Rosen  und  Vergissmeinnicht 
Euch  als  ein  teuer  Angedenken 
Und  ewig  Merkmal  willig  schenken; 

Statt  dessen  brauchtet  Ihr  nicht  mehr- 
Zu  thun,  als  was  ich  hier  begehr’, 

Und  was  schon  seit  uralten,  Tagen 
Für  ihre  Damen  Ritter  wagen. 

Bestand  nicht  weiland  Don  Quixot 
Für  die  Toboso  derlei  Not? 

Gab  nicht  für  die  Gebieterin 
Ein  Pascha  sich  zuin  Sklaven  hin. 

Und  liess  wie  Handschuhleder  sich. 

Die  Haut  zergerben  ritterlich  ?' 

Zur  Schule  sandt’  man  Florio 
Die  Brunst  für  Biancitiorio 
Zu  kühlen,  und  mit  Rutenhieben 
Ward  sie  ihm  aus  dem.  Steiss  getrieben.. 

Auch  schund’  ja  neulich  erst  bei  uns 
Noch  eine  Dame  ihrem  Duns, 

Der  Lord  doch  war  im  Parlament 
Ganz  jammevoll  sein^Fulciment. 

Sie  band  mit  Hilfe  ihrer  Zofen 
An  einen  Ring  ihn  bei  dem  Ofen, 

Wo  unter  Hohn  sie  weibergell 
Zergeisselte  sein  armes  Fell, 

Und  trug  bei  nächster  Session 
Des  Rutenhofes  Lob  davon. 

Schwört  mir,  dies  treulich  zu  vollbringen,. 

So  lass’  ich  aus  den;  Zauberringen 
Euch  los  und  gcb’  Euch  freien,  Pass» 

Der  Vorfall,  auf  den  Butler  in  der  letzten  Strophe- 
anspielt,  bezieht  sich  auf  ein  wirkliches  Ereignis.  William,, 
Lord  Munson,  einer  der  Richter  Karls  L,  hatte  das- 
Todesurteil  nicht  mit,  unterzeichnet,  schien  daher  die? 


421 


TPartei  des  Königs  zu  ergreifen.  Dies  kam  seiner  Frau  zu 
^Ohren,  welche  ihn,  um  ihm  ihren  Widerwillen  an  seinem 
Verhalten  recht  deutlich  zu  machen,  mit  Hülfe  ihrer 
^Zofen  an  einen  Bettpfosten  band  und  dermassen  mit  Ruten 
durch  bläute,  dass  er  verspracli,  sich  in  Zukunft  besser 
-aufzuführen  und  seine  Obern  um  Verzeihung  zu  bitten. 
Das  Parlament,  erfreut  über  diese  Handlung  der  Frau, 
Üiess  ihr  seinen  Dank  dafür  bezeugen,  und  der  Vorfall 
'wurde  in  Gassenliedern  besungen : 

She  and  her  maids  gave  him  the  whip  etc.^) 

Jedenfalls  beweist  diese  Stelle  aus  der  Feder  eines 
Hannes,  der  überall  in  seinem  satirischen  Gedichte  auf 
■die  sittlichen  Schäden  seiner  Zeit  hinweist,  dass  die 
Rutenleidenschaft  bereits  um  die  Mitte  des  17.  Jahr- 
.'hunderts  in  England  bedenklich  um  sich  gegriffen  hatte. 

Auch  lassen  sich  im  18.  Jahrhundert  bereits 
■förmliche  Flagelia ntinnenklubs  nachweisen,  woraus 
•der  Schluss  zu  ziehen  ist,  dass  die  Zahl  der  mit  dieser 
Kieigung  behafteten  Frauen  bedeutend  zugenommen  hatte. 

Schon  in  dem  1711  erschienen  „Spectator“  von  Addison 
werden  eigentümliche  Nachrichten  über  einen  „Klub  der 
Balgerinnen“  mitgeteilt,  die  den  Verdacht  nahelegen,  dass 
•es  sich  auch  bei  diesem  Klub  um  Flagellantinnen  gehandelt 
hat.  Diese  Schilderung  findet  sich  im  136.  Stück  des 
„Zuschauers“.  Es  heisst  dort: 

„Ich  will  meine  Leser  heute  mit  einigen  Briefen 
meiner  Korrespondenten  unterhalten.  Der  erste  enthält 
■die  Beschreibung  eines  Klubs;  ob  eV  wirklich  oder  nur 
in  der  Einbildungskraft  existirt,  wage  ich  nicht  zu  bestimmen, 
bin  aber  doch  geneigter,  zu  glauben,  dass  die  Verfasserin 


fl  Eiselein  a.  a.  0.  S.  104  Anm.  4. 


422 


diese  Art  von  nächtlichen  Orgien  nur  aus  ihrer  Phantasie? 
gesponnen  hat.  Dem  sey,  wie  ihm  wolle,  ihr  Brief  kann 
zur  Besserung  der  Art  von  Charaktern,  die  darin  vor¬ 
gestellt  sind,  und  deren  es  nicht  wenige  in  der  Welt 
gieht,  vielleicht  etwas  bey tragen. 

Mein  Herr  Zuschauer! 

In  einigen  Ihrer  ersten  Blätter  gaben  Sie  dem  Publikum 
eine  ungemein  unterhaltende  Nachricht  von  verschiednen 
Klubs  und  nächtlichen  Zusammenkünften ;  die  Gesellschaft 
aber,  von  welcher  ich  ein  Mitglied  bin,  scheint  Ihrer 
Bemerkung  ganz  entwischt  zu  seyn,  ich  meine  einen  Klub 
von  Balgerinnen.  Wir  nehmen  jede  eine  Mietkutschey 
und  kommen,  einmal  die  Woche,  in  einem  grossen  im 
Obern  Stockwerk  belegen en  Zimmer,  das  wir  zu  dem  Ende 
immer  auf  ein  Jahr  lang  mieten,  zusammen.  Hier  sind 
wir  desto  freyer,  da  unser  Wirt  und  seine  Familie,  eine 
stille  Art  von  Leuten,  es  immer  so  einrichten,  dass  sie 
an  unserm  Klubabend  nicht  zu  Hause  sind.  Kaum  haben 
wir  uns  versammelt,  da  wir  gleich  alle  die  Sittsamkeit 
und  Zurückhaltung,  womit  unser  Geschlecht  sich  leider! 
an  öffentlichen  Oertern  verlarven  muss,  ablegen.  Unaus¬ 
sprechlich  ist  das  Vergnügen,  das  wir  von  zehn  Uhr 
Abends  bis  vier  Uhr  Morgens  geniessen,  da  wir  eben  so 
roh  und  ungezogen  sind,  als  wie  Mannspersonen  nur  irgend 
seyn  können.  Wir  treiben  das  Spiel  so  arg,  dass  das 
Zimruer  den  Augenblick  mit  zerbrochenen  Fächern,  zer¬ 
fetzten  Unterröcken,  Hauben  und  Kopfzeugen,  Schleifen, 
Falbeln,  Strumpfbändern  und  Knieschürzen  angefüllt  ist. 
Ich  vergass.  Ihnen  gleich  anfangs  zu  sagen,  dass,  ausser 
den  Kutschen,  worin  wir  selbst  kommen,  noch  immer  eine 
leere  Kutsche  bereit  steht,  unsre  Todten  vom  Schlacht¬ 
felde  wegzubringen,  denn  so  nennen  wir  alle  die  Trümmer 


423 


und  Fetzen,  womit  das  Zimmer  bestreut  ist,  und  die  wir 
in  Bündel  zusammenpacken  und  in  diese  Kutsche  legen. 
Den  folgenden  Abend  versammeln  wir  uns  dann  bey  einer 
der  Schwestern,  und  da  ist  es  keine  kleine  Lust  für  uns, 
aus  diesem  verworrenen  Bündel  von  Seidenzeugen,  Stoffen, 
Spitzen  und  Bändern,  was  jeder  gehört,  wieder  zusammen¬ 
zulesen.  Was  ich  Ihnen  bisher  erzählt  habe,  gilt  bloss 
von  den  Belustigungen  in  unsern  gewöhnlichen  Klubnächten; 
überdem  aber  haben  wir  noch  einmal  in  jedem  Monate 
ein  ausserordentliches  Fest,  wowireinePrüde  demoliren, 
das  heisst,  wir  locken  irgend  ein  wunderliches  und 
pedantisches  Geschöpf  in  unsre  Gesellschaft,  das  wir  dann 
in  einem  Augenblick  abtakeln.  Unsre  letzte  Prüde  hatte 
sich  mit  Fischbein  und  Zwillich  so  sehr  verschanzt  und 
versammelt,  dass  es  uns  grosse  Mühe  kostete,  ihr  anzu¬ 
kommen;  aber  Sie  würden  sich  todt  gelacht  haben,  wenn 
Sie  gesehen  hätten,  wie  das  züchtige,  tölpische  Ding 
aussah,  als  es  aus  seinen  Verschanzungen  herausforcirt 
war.  Kurz,  mein  Herr,  es  ist  unmöglich.  Ihnen  einen 
wahren  Begriff  von  unserm  Spiel  zu  geben,  wenn  Sie  nicht 
einmal  selbst  eine  Nacht  unsrer  Gesellschaft  beywohnen; 
und  ist  es  gleiclr  den  Gesetzen  unsers  Klubs  schnurstracks 
entgegen,  eine  Mannsperson  zuzulassen,  so  setzen  wir  doch 
ein  so  grosses  Vertrauen  in  Ihr  Stillschweigen,  dass  der 
ganze  Klub  bey  unsrer  letzten  Zusammenkunft  einwilligte. 
Ihnen,  als  Zuschauer,  auf  eine  Nacht  den  Zutritt  zu 
erlauben“.^) 

Es  ist  sehr  wohl  möglich,  dass  Addison  mit 
dieser  etwas  verschleierten  Darstellung  das  Treiben  gewisser 


„Auszug  des  Englischen  Zuschauers“  Berlin  1782  Bd 
III  S.  337—340. 


weiblicher  Roues  hat  geissein  wollen,  die  zum  Zwecke 
geschlechtlicher  Orgien  sich  im  Geheimen  vereinigten  und 
wilde  sadistische  Ausschweifungen  begingen. 

Jedenfalls  steht  es  fest,  dass  thatsächlich  im  18.  Jahr¬ 
hundert  flagellantistische  Weiberklubs  in  London  existirten. 

Eine  ausführliche  Schilderung  eines  solchen  Flagel- 
lantinnenklubs,  der  sich  jeden  Donnerstag  Abend  in  der 
Jermyn  Street  versammelt,  bringt  das  „Bon  Ton  Magazine“ 
vom  Dezember  1792: 

„Diese  weiblichen  Genossen  sind  hauptsächlich  ver¬ 
heiratete  Frauen,  welche,  der  Ehe  in  ihrer  gewöhnlichen 
Form  und  der  kalten  Gleichgültigkeit,  welche  nach  einer 
bestimmten  Zeit  Hymen  zu  begleiten  pflegt,  überdrüssig, 
beschlossen,  durch  ;neue  Hülfsmittel  jene  Ekstase  wieder 
zu  erwecken,  die  sie  im  Anfänge  ihrer  Ehe  kennen  gelernt 
hatten  .... 

Die  ehrenwerte  Gesellschaft,  oder  Klub,  von  dem  wir 
jetzt  sprechen,  besteht  niemals  aus  weniger  als  12  Mit¬ 
gliedern.  Sechs  werden  jedesmal  von  den  übrigen  sechs 
gezüchtigt.  Sie  losen  um  die  Reihenfolge,  und  nach  einem 
jedesmals  verlesenen  oder  ex  tempore  gesprochenen  Vortrage 
über  die  Wirkungen  der  Flagellation,  wie  sie  seit  den 
ältesten  Zeiten  bis  zu  dem  gegenwärtigen  Augenblick  in 
Mönchs-  und  Nonnenklöstern,  Bordellen  und  Privathäusern 
geübt  worden  ist,  nehmen  die  sechs  Patientinnen  ihre 
Stellungen  ein  und  die  sechs  Flagellantinnen  entblössen  — 
die  nicht  nur  weniger  sichtbaren,  sondern  auch  für  Miss¬ 
handlungweniger  empfänglichen,  dagegen  aber  in  Beziehung 
auf  Empfindlichkeit  höchst  lebhaften  Teile  und  beginnen 
die  praktische  Übung.  Die  Präsidentin  des  Klubs  händigt 
jeder  eine  grosse  Rute  ein  und  beginnt  dann  zuerst  selbst 
die  Züchtigung  mit  jeder  Abwechselung,  die  ihr  beliebt, 
während  die  Übrigen  zuschauen. 


425 


Bisweilen  beginnt  nach  den  Angaben  der  Präsidentin 
die  Züchtigung  an  der  Wade  und  steigt  von  da  zum  Gesässe 
empor,  bis  die  ganze  Gegend,  wie  Shakespeare  sagt, 
aus  Milchweiss 

„Becomes  one  red ! !“ 

Nach  der  Präsidentin  kommen  die  übrigen  Flagellantinnen 
an  die  Beihe. 

Diese  Flagellantinnenklubs  sind  keineswegs  blosse 
Produkte  der  Phantasie,  sondern  haben  allem  Anscheine 
nach  wirklich  existirt  und  scheinen  nach  vielen  Angaben 
in  der  zeitgenössischen  englischen  Litteratur  und  Journalistik 
heute  noch  zu  florirenJ)  Eulen  bürg  bemerkt  zur  Er¬ 
klärung  dieser  Thatsache:  ,, Unter  den  Frauen  fanden  sich 
zu  allen  Zeiten  hervorragende  Liebhaberinnen,  wie  der 
passiven,  so  auch  der  activen  Flagellation;  und  bemerkens¬ 
wert  erscheint  dabei,  dass,  wie  weibliche  Grausamkeit  sich 
bekanntlich  überhaupt  dem  eigenen  Geschlechte  gegenüber 
mit  Vorliebe  bethätigt,  passionirte  Flagellantinnen  auch 
aus  der  Flagellation  ihrer  Geschlechtsgenossinnen  sexuell 
stimulirende  Wirkungen  oft  mit  Vorliebe  schöpften 

Die  berüchtigtste  englische  Flagellantin  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  war  die  am  14.  September  1767  in  Tyburn 
hingerichtete  Elisabeth  Brownrigg,  eine  offenbare 
Sadistin.  Sie  war  die  Gattin  von  James  B  r  o  w  n  r  i  g  g , 
einem  Bleigiesser  in  Fleur-de-luce  Court,  Fleet  Street,  in 
London,  verrichtete  die  Dienste  einer  Hebamme  im  St. 
Dunstan- Kirchspiele  und  nahm  auch  Lehrmädchen  in 
Pflege.  Nach  aussen  erschien  sie  als  eine  überaus  fromme 
und  gottesfürchtige  Frau,  während  sie  sich  im  Hause 


1)  Eulenburg  a.  a.  S.  66. 

2)  Eulenburg  a.  a.  0.  S.  66 — 67. 


426 


ihren  Lehrmädchen  gegenüber  als  eine  überaus  grausame 
Herrin  sich  entpuppte.  Sie  „erzog“  dieselben,  deren  sie 
im  Jahre  1765  drei  hatte,  nämlich  Mary  Mitchell, 
Mary  Jones  und  Mary  Clifford,  vermittelst  täglicher 
grausamer  Auspeitschung.  „Sie  schlug  die  Kinder  wie 
ein  trunkener  Gemüsehändler  seinen  Esel  zu  schlagen 
pflegt.“  Mary  Jones  gelang  es  zu  entfliehen,  Mary 
Mitchell  wurde  aber  bei  einem  Fluchtversuch  von 
dem  Sohne  der  Mrs.  Brownrigg  zurückgeholt.  Am 
schlimmsten  wurde  Mary  Clifford  misshandelt,  sie 
erhielt  täglich  Prügel  mit  dem  Stock,  dem  Besenstiel  oder 
der  Pferdepeitsche,  wurde  dabei  ebenso  wie  die  Mitchell 
oft  gänzlich  entblösst  und  in  diesem  Zustande  mehrere 
Stunden  festgebunden,  auch  im  Keller  bei  Wasser  und 
Brot  eingesperrt.  An  einem  Tage  allein  wurde  Mary 
Clifford  fünf  mal  ausgezogen,  festgebunden  und  ge¬ 
peitscht,  an  welchen  fürchterlichen  Misshandlungen  sie 
einige  Tage  darauf  im  Hospital  starb,  nachdem  die 
B  r  0  w  n  r  i  g  g  nebst  Mann  und  Sohn  verhaftet  worden 
waren.  Letztere  kamen  mit  6  Monaten  Gefängnis  davon, 
während  das  grausame  Weib  am  Galgen  endete.^)  C  a  n  n i  n  g 
verfasste  als  Parodie  auf  Kobert  South ey's  ähnliches 
Gedicht  auf  den  Königsmörder  Martin  eine  poetische 
Inschrift  für  die  Zelle  in  Newgate,  wo  Mrs.  Brownrigg 
eingesperrt  gewesen  war.-) 


Verg].  über  diese  Cause  celebre  Cooper  a.  a.  0.  S» 
174 — 175;  „Flagfcllations-Erfahrungea“  S.  125 — 128. 

2)  Sie  lautet; 

For  one  long  term  or  ere  her  trial  came, 

Here  Brownrigg  linger’d.  Often  have  these  cells 
Ectio’d  her  blasphemies,  as  with  shrill  voice 
She  scream’d  for  fresh  geneva.  Not  to  her 


427 


Von  Interesse  und  bezeichnend  für  die  tief  einge¬ 
wurzelte  Neigung  der  Engländer  zur  Flagellation  ist  die 
von  Pisanus  Fraxi  mitgeteilte  Thatsache,  dass  sich  ein 
litterarischer  Verteidiger  vo:i  Mrs.  Brown  rigg  fand, 
der  für  ihr  Verhalten  und  die  Notwendigkeit  excessiver 
Auspeitschungen  bei  allen  möglichen  Gelegenheiten  in 
einer  besonderen  Schrift  eintrat. i)  Pisanus  Fraxi 
citirt  aus  dieser  ernstlich  gemeinten  Schrift  eine  Stelle,, 
die  für  die  Verbreitung  flagellantistischer  Phantasien  im 
18.  Jahrhundert  sehr  charakteristisch  ist.  Der  Verfasser 
gesteht  zunächst  der  B  r  o  w  n  r  i  g  g  durchans  das  Kecht 
zu,  ihre  Lehrmädchen  so  viel  und  so  oft  zu  züchtigen 
als  sie  nur  wolle.  Denn  die  guten  alten  Gebräuche  des 
Landes  hätten  jede  Art  der  Züchtigung  gestattet,  durch 
welche  Friede  und  Ordnung  aufrecht  erhalten  werden. 
Aber  Mrs.  Brownrigg  war  das  Opfer  ihrer  eigenen 
Unkenntnis.  „Sie  hätte  ihre  Lehrmädchen  so  oft  als  sie 
wollte,  und  noch  mehr  züchtigen  können,  ohne  jemals 
Anstoss  damit  zu  erregen,  wenn  sie  dieselben  nur  gut 
gefüttert,  bequem  logirt  und  mit  Freundlichkeit  behandelt 
hätte,  ausserhalb  der  Zeit  der  Züchtigung,  und  wenn  sie  nach 


Did  the  blithe  fields  of  Tothill,  or  tliy  Street, 

St.  Giles,  its  fair  varieties  expand ; 

Till,  at  the  last,  in  slow-drawn  cart  she  went 
To  execiition.  Dost  thou  ask  her  crime? 

She  whipp’d  two  female  ’prentices  to  death 
And  h  i d  t  h  e m  in  the  c o  a  1  h  o  1  e.  For  her  mind 
Shap’d  strictest  plans  of  discipline.  Sage  Scheines! 

Such  as  Lycurgus  taugbt. 

Vergl.  G.  Brandes  „Die  Hauptströmungen  der  Litteratur 
des  19.  Jahrhunderts.“  6,  Aufl.  Leipzig  1899.  Bd.  IV  S.  101. 

„Mrs.  Brownrigg’s  Gase  fairly  considered.  Addressed 
to  the  Citizens  of  London“  By  One  of  Themselves  London  1767. 


428 


•derselben  ihre  Wunden  ordentlich  zur  Heilung  gebracht 
und  für  ihre  Gesundheit  gesorgt  hätte.  Diese  Vernach¬ 
lässigung  der  Körperpflege  nach  der  Auspeitschung  ist 
erstaunlich.  Wenn  nicht  vom  Standpunkte  der  Humanität, 
so  sollte  man  doch  von  demjenigen  der  Befriedigung  des 
eigenen  Geschmackes  annehmen,  dass  sie  es  vorgezogen 
hätte,  reines  und  frisches  Fleisch  zu  verprügeln  statt 
zerschundener  und  eiternder  Flächen.  Das  ist  ganz  unent¬ 
schuldbar.  In  allen  gut  geleiteten  Seminaren  werden  die 
Gesässe  ebenso  gut  verpflegt  wie  ihre  Besitzer.  Verbrecher 
und  Soldaten  empfangen  nach  der  körperlichen  Züchtigung 
ärztlichen  Beistand.  Ein  guter  Herr  oder  Herrin  hat  stets 
Charpie  und  Salben  ebenso  zur  Hand  wie  die  Buten.“  Das 
wird  nun  an  den  Beispielen  von  Mary  Clifford  und 
Mary  Jones  näher  ausgeführt.  Dann  erzählt  der  Ver¬ 
fasser,  dass  der  Sohn  der  Mrs.  Brownrigg,  John 
Brownrigg,  grosses  Vergnügen  daran  gefunden  habe, 
die  Mädchen  mit  auszupeitschen.  „He  had  several  times 
flogged  Mary  Mitchell  with  great  gusto  —  fying  her 
up  to  a  staple  on  one  occasion  stark  naked,  for  stealing 
some  chestnuts,  and  using  the  horsewhip  vigorously;  nor 
did  he  pay  less  attention  to  Mary  Clifford,  whipping  her, 
one  day,  tili  he  was  quite  tired,  for  not  putting  up  a  bed, 
and,  another  time,  when  his  mother’s  strength  was  quite 
exhausted,  topping  up  the  punishment  with  twenty  cuts.“ 
Der  Verfasser  kommt  schliesslich  zu  dem  Eesultat,  dass 
die  Brownrigg  nicht  vvegen  der  Auspeitschung,  die 
gerechtfertigt  und  immer  gut  angebracht  sei,  sondern  wegen 
des  Aushungerns  und  der  geringen  körperlichen  Fürsorge 
für  ihre  Lehrmädchen  gehängt  worden  sei.  Die  Rute 
gehe  aus  diesem  Prozesse  vollkommen  unangetastet  in 
ihrer  Glorie  hervor  und  bewähre  immer  ihre  wundervolle 
Eigenschaft : 


429 


It  bles  ses  liim  that  gives  and  liim  tliat  takesd) 

Nirgends  ist  die  flagellantistische  Prosti¬ 
tution  so  früh  und  in  solchem  Umfange  ausgebildet 
worden  wie  in  England.  Spekulation  auf  die  masoch¬ 
istischen  Neigungen  der  Männer  zur  passiven  Flagellation. 
verhunden  mit  eigener  Vorliebe  für  die  Ausübung  der' 
aktiven  Flagellation  führten  viele  Frauen  zu  einer  raffi- 
nirten  Ausbildung  der  Kunst  des  Geisseins  und  der  Kuten- 
applikation  und  weiterhin  zur  Errichtung  eigener  Flagel¬ 
lat  ionsbordeile,  die  seit  dem  Ende  des  18. 
Jahrhunderts  —  vorher  hatte  sich  um  1760  eine  Mrs. 
Jenkins  eines  grossen  Eufes  als  Flagellantin  bei  der 
Männerwelt  erfreut'^)  —  und  durch  das  ganze  19.  Jahr¬ 
hundert  eine  charakteristische  Erscheinung  der  Londoner 
Prostitution  darstellen. 

Diese  Bordelle,  welche  seit  1800  immer  zahlreicher' 
in  London  auftauchten, waren  ausschliesslich  der 
Flagellation  gewidmet,  weshalb  die  Bezeichnung; 
„Flagellationsbordelle“  eine  zutreffende  ist.  Sie  waren 
meist  mit  grosser  Pracht  eingerichtet  und  dienten  nicht 
nur  als  Orte,  wo  die  Männerwelt  nach  Herzenslust  sich 
der  passiven  Flagellation  unterziehen  konnte,  sondern 
auch  als  Lehranstalten  (sit  venia  verbo)' für  diejenigen 
Mädchen  und  Frauen,  die  die  „Kunst“  der  graziösen  und 
wirksamen  Applikation  der  Kute  erlernen  wollten. 


0  P.  Fraxi  „Centuria“  S.  464 — 466., 

2)  „Etüde  sur  la  Flagellation“  S.  178. 

Doch  gab  es  auch  schon  im  18.  Jahrhundert  solche 
nur  der  Flagellation  geAveihte  Institute  wie  z.  B.  das  „AVhite- 
Ilouse“,  die  „den  of  Mutter  Cummins“,  das  „Elysium  in 
Brydges  Street“  u,  a.  m.  Vergl.  P.  Fr axi.  „Index“  S.  312. 


430 


Pisanus  Fraxi,  der  über  diese  Flagellationsbordelle 
absolut  zuverlässige  Erfahrungen  gesammelt  hat,  die  nicht 
in  das  Gebiet  der  Anekdote  zu  verweisen  sind,  giebt  an, 
dass  viele  der  weiblichen  Leiterinnen  dieser  fragwürdigen 
Institute  selbst  ein  grosses  Interesse,  ja  ein  leidenschaft¬ 
liches  Vergnügen  an  ihrem  Berufe  hattenP)  Es  waren 
nicht  bloss  Frauen,  die  nur  lucri  causa  völlig  indifferent 
dem  Verlangen  der  männlichen  Flagellomanen  entsprachen, 
sondern  die  auch  wirklich  die  Kute  mit  Leidenschaft  und 
Genuss  handhabten,  und  insofern  allerdings  nicht  mit 
gewöhnlichen  Prostituirten  zu  vergleichen  waren.  Ausser¬ 
dem  bildeten  sie,  wie  erwähnt,  selbst  Schülerinnen  in  der 
Ars  tlagellandi  aus. 

Nach  Pisanus  Fraxi  würde  es  leicht  sein,  eine 
sehr  lange  Liste  dieser  Leiterinnen  von  Flagellations- 
ctablissements  aufzustellen.  Er  beschränkt  sich  aber 
darauf,  nur  die  berühmtesten  namhaft  zu  machen. 

Am  Anfänge  des  19.  Jahrhunderts  erfreute  sich 
Mrs.  Collett  eines  so  grossen  Eufes  als  raftinirte 
Flagellantin,  dass  sogar  Georg  IV.  sie  besucht  hat,  was 
s.  Z.  eine  offenkundige  Thatsache  war.  Sie  hatte  zuerst 
ein  Bordell  in  Tavistock  Court,  Covent  Garden,  von  wo 
sie  in  die  Nachbarschaft  von  Portland  Place  übersiedelte 
und  zuletzt  in  Bedford  Street,  Kusseil  Square  wohnte,  wo 
sie  starb.  Sie  erzog  ihre  Nichte  zu  demselben  Berufe, 
welche  später  als  Mrs.  Mitchell  ein  sehr  einträgliches 
Geschäft  an  verschiedenen  Stellen  betrieb,  u.  a.  in 
Waterloo  Eoad  No.  22  (später  44)  und  zuletzt  in  St. 
Mary’s  Square,  Kennington.  Auf  sie  folgte  Mrs.  James, 
die  ursprünglich  Dienstmädchen  in  der  Familie  des  Lord 


9  P.  Fraxi  „Index“  S.  XLVI. 


431 


Clanricarde  gewesen  war,  nnd  die  später  in  Carlisle 
Street  7,  Soho,  ein  Bordell  für  Flagellation  einriclitete, 
welches  ihr  ein  immenses  V^ermögen  einbrachte,  so  dass 
sie  sich  später  vom  „Geschäft“  zurückziehen  und  in 
Notting  Hill  ein  höchst  luxuriös  ausgestattetes,  mit  Ge¬ 
mälden  reich  geschmücktes  Haus  beziehen  konnte,  während 
sie  selbst  mit  Juwelen  über  und  über  bedeckt  sich  in  der 
Öffentlichkeit  zeigte. 

Weiter  verdienen  eine  Erwähnung  die  Bordelle  von 
Emma  Lee,  alias  Richardson  in  Margaret  Street 
50,  Regent  Street,  von  Mrs.  Philipps  in  Upper 
Beigrave  Place  11,  Pimlico,  von  Mrs.  Shepherd  in 
Gilbert  Street  25. ö 

In  der  Vorrede  zur  „Venus  School-Mistrees“  werden 
noch  andere  berühmte  erfahrene  Governesses  aus  dem 
ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  genannt,  nämlich 
Mrs.  Chalmers  und  Mrs.  Noyeau,  Mrs.  Jones  in 
Hertford  Street  und  London  Street,  Fitzroy  Square, 
Betsy  Burgess  in  York  Square,  Mrs.  Pryce  in  Burton 
Crescent,  vor  allem  aber  Mrs.  Theresa  Berkley,  die 
„Queen  of  her  Profession“. 

Diese  Königin  des  Flagellantismus,  welche  in  Charlotte 
Street  28  am  Portland  Place  ihr  weltberühmtes  Etablisse¬ 
ment  hatte,  war  eine  vollkommene  Meisterin  ihrer  Kunst, 
eine  vorzügliche  Kennerin  der  verschiednen  Liebhabereien 
ihrer  männlichen  Kunden,  die  sie  auf  die  raffinirteste  Weise 
zu  befriedigen  wusste,  zugleich  eine  routinirte  Geschäfts¬ 
frau,  die  während  der  Zeit  ihrer  Thätigkeit  ein  beträchtliches 
Vermögen  anhäufte. 


0  Pisanus  Fraxi  „.Index“  S.  XLIII — XLIV. 
2)  „Venus  School-Mistress“  S.  IX. 


432 


„Sie  besass  das  erste  grosse  Erfordernis  einer 
Coiirtisane,  nämlich  Unzüchtigkeit.  Denn  ohne  dass  sie 
wirklich  selbst  libidinös  ist,  kann  eine  Frau  nicht  lange 
die  Neigung  zu  einer  solchen  Tätigkeit  behalten  und  man- 
wird  bald  merken,  dass  sie  die  Hände  nur  nach  dem 
Klange  der  Guineen,  Schillinge  und  Pence  in  Bewegung 
setzt.  Sie  konnte  sehr  jovial  und  humoristisch  auftreten,, 
auch  pflegte  sie  jede  Neigung,  jeden  Einfall,  jede  Laune  und 
jeden  Wunsch  ihrer  Kunden  zu  erforschen  und  zu  befriedigen, 
wenn  ihre  Geldgier  dementsprechend  befriedigt  wurde. 
Ihr  Folterinstrumentarium  war  bedeutend  reichhaltiger 
als  dasjenige  anderer  „Gouvernanten“.  Ihr  Vorrat  au 
Ruten  war  ausserordentlich  gross.  Sie  wurden  stets  iu 
Wasser  aufbewahrt,  um  grüu  uud  biegsam  zu  bleibeu. 
Sie  hatte  iu  ein  Dutzend  Riemen  auslaufende  Peitschen,, 
ein  Dutzend  neunschwänzige  Katzen,  die  mit  Nadelspitzen 
besetzt  waren,  verschiedene  Arten  dünner  biegsamer 
Gerten,  Lederriemeu  so  dick  wie  Wagenstränge,  Pferde¬ 
striegel  und  zähe  durch  jahrelangen  Gebrauch  bei  der  Fla¬ 
gellation  hart  gewordene  Ochsenriemen,  mit  Nägeln  besetzt,, 
ferner  Stechpalmen-  und  Stechginsterbürsten,  solche  aus 
einem  stachligen  Immergrün,  genannt  „butchers  bush“. 
Während  des  Sommers  waren  stets  Gläser  und  chinesische 
Vasen  vorhanden,  die  ständig  mit  grünen  Nesseln  gefüllt 
waren,  mit  welchen  sie  oft  die  Toten  wieder  zum  Leben 
erweckte.  So  konnte  in  ihrem  Etablissement  Jeder,  der 
sich  nur  ordentlich  mit  Geld  versah,  mit  Ruten,  Geissein, 
Peitschen  und  Riemen  geschlagen,  mit  Nadeln  gestochen, 
halb  stranguliert,  mit  den  verschiedenen  scharten  Bürsten 
gebürstet,  mit  Nesseln  gegeisselt  werden,  er  konnte  ge¬ 
striegelt,  phlebotomirt  und  gemartert  werden,  bis  er  genug 
hatte. 


433 


Denjenigen  Männern,  deren  Leidenschaft  es  war,  ein 
Weib  zu  geissein,  stellte  sie  selbst  sich  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zur  Verfügung.  Für  Unersättliche  in  dieser  Beziehung 
hielt  sie  Frauen  zur  Verfügung,  die  so  viele  Hiebe  aus- 
halten  konnten,  wie  es  dem  Flagellanten  beliebte,  wenn  er 
nur  dem  entsprechend  zahlte.  Unter  diesen  befanden  sich 
Miss  Ring,  Hann  ah  Jones,  Sally  Taylor,  die  ein¬ 
äugige  Peg,  die  pikante  Poll  und  ein  schwarzes  Mädchen, 
Namens  Ebony  Bet.“ 

Besonderen  Ruhm  auf  ihrem  Gebiete  erlangte  The  r  e  s  a 
Berkley  durch  ihre  Erfindung  des  „Berkley  Horse“ 
(B erk  1  ey -Pferd)  oder  „Chevalet“.  Sie  erfand  diesen 
zum  Auspeitschen  der  Männer  bestimmten  Apparat  im 
Frühjahr  1828.  Im  wesentlichen  ist  es  eine  verstellbare 
Leiter,  die  bis  zu  einem  beträchtlichen  Grade  ausgespannt 
werden  kann  und  auf  welcher  der  Betreffende  festgeschnallt 
wurde,  indem  für  Kopf  und  Genitalien  Öffnungen  gelassen 
wurden.^)  In  Mrs.  Berkley ’s  Memoiren  befand  sich 
ein  Kupferstich,  der  das  „Pferd“  in  Action  darstellte.  Man 
sieht  Mrs.  Berkley  eigenhändig  die  Posteriora  des  auf 
dem  Chevalet  befestigten  Mannes  peitschen,  während  ein 
auf  einem  Stuhl  darunter  sitzendes  stark  dekolletirtes 

Eine  Abbildung  des  „Pferdes“  findet  sich  in  der 
Ausgabe  der  „Venus  School-Mistress“  von  1836,  wonach 
Pisanus  Fraxi  es  in  seinem  „.Index  Librorum  Prohibitorum“ 
zu  Seite  XLIV  reproduciren  liess.  Nach  dieser  Reproduction 
wurde  das  Bild  wiederholt  bei  Hansen  „Stock  und  Peitsche“ 
S.  167  und  Eulenburg  „Sadismus  und  Masochismus“  S.  61. 
—  Man  findet  das  Chevalet  auch  auf  modernen  Flagellations¬ 
bildern.  In  Paris  soll  es  w^älirend  der  Weltausstellung  von 
1900  practische  Verwendung  und  viel  Anerkennung  bei  Lebe¬ 
männern  gefunden  haben.  Vergl.  Hansen  a.  a.  0.  S.  171. 

28 


434 


Mädchen  ihm  Dienste  als  ,,Frictrix“  leistet.  Als  solche 
Frictrices  im  Dienste  der  Berklej  werden  genannt  eine 
schwarzhaarige  Miss  Fisher,  eine  Blondine  Mrs.  Willis, 
die  lustige  T  h  u  r  1  o  w ,  die  hochbusige  G  r  e  n  v  i  1 1  e ,  die 
Kallipyge  Bentinc,  die  braune  Zigeunerin  Olive,  die 
sanfte  Miss  Palmer  und  die  sowohl  als  aktive  wie  als 
passive  Flagellantin  hervorragende  Miss  Pryce. 

Die  neue  eigenartige  Erfindung  brachte  der  Berkley 
einen  grossen  Zulauf  und  riesige  Einnahmen.  Als  sie  im 
September  1836  starb,  hinterliess  sie  ein  Vermögen  von 
10000  Pfund,  das  sie  in  8  Jahren  erworben  hatte.  Das 
Original  des  B  e  r  k  1  e  y- Pferdes  wurde  von  dem  Testa¬ 
mentsvollstrecker  Dr.  Vance  der  „Society  of  Arts“  in 
den  Adelphi,  London  geschenkt.  In  ihren  Memoiren  fand 
sich  auch  die  bildliche  Darstellung  einer  anderen  Specialität 
ihres  Etablissements,  das  war  ein  Flaschenzug  in  dem 
ersten  Stockwerk,  mit  welchem  sie  einen  Mann  an  den 
Händen  aufziehen  konnte,  um  ihn  dann  in  dieser  Lage 
zu  flagelliren. 

Die  lange  angekündigten  Memoiren  der  Berkley 
wurden  durch  Dr.  Vance  zurückgehalten  und  auch  nach 
dessen  Tode  nicht  publicirt.  Kurz  nach  dem  Tode  der 
Berkley,  kam  ihr  Bruder,  der  30  Jahre  Missionar  in 
Australien  gewesen  war,  zurück,  verzichtete  aber  auf  die 
Erbschaft,  als  er  deren  Ursprung  erfuhr,  und  kehrte  sofort 
nach  Australien  zurück.  Da  Dr.  Vance,  ihr  Arzt  und 
Testamentsvollstrecker  ebenfalls  die  Annahme  verweigerte, 
fiel  das  Vermögen  der  Krone  zu.  Die  sehr  reichhaltige, 
mehrere  Kisten  füllende  Correspondenz  der  Berkley, 
welche  sehr  compromittirende  Briefe  von  männlichen  und 
weiblichen  Personen  aus  den  höchsten  Ständen  enthielt, 
kam  in  den  Besitz  des  Dr.  Vance  und  ist  wahrscheinlich 
von  diesem  vernichtet  worden. 


435 


Die  „ Äuto-biography  of  tlie  late  Theresa  Berkley, 
01  Charlotte  Street,  Portland  place,  containing  Anecdotes 
of  many  of  the  present  Nobility,  and  others,  devoted  to 
•erotic  pleasures,  with  numerous  Plates,“  die  am  Ende  der 
„Venus  School-Mistress“  (Ausgabe  von  1836)  als  im  Druck 
befindlich  angekündigt  wird,  scheint  nie  das  Licht  erblickt 
zu  haben. 

Eine  interessante  Charakteristik  der  Mrs.  Berkley 
findet  sich  in  dem  „Advertisement“  zum  dritten  Bande 
des  „Voluptarian  Cabinet“  (London  1828)  der  berüchtigten 
Bordellunternehmerin  Mary  Wilson  (vergl.  über  diese 
Bd.  I  dieses  Werkes  S.  273 — 279),  die  ebenfalls  zeitweilig 
Flagellationsetablissements  leitete  und  eines  derselben  der 
Theresa  Berkley  im  Jahre  1828  übergab.  In  dieser 
„Anzeige,“  datirt  ,,Hall  Place,  St.  John’s  Wood,  12. 
November  1828“  sagt  sie:  „Denjenigen  Gönnern,  die  mich 
als  eine  „Governess“  aufzusuchen  pflegten,  erlaube  ich 
mir,  mitzuteilen,  dass  ich  mein  Flagellationsinstitut  in 
Tonbridge-place,  New  Eoad,  Saint  Pancrass  aufgegeben 
und  mich  zu  Gunsten  der  Mrs.  Theresa  Berkley,  die 
ich  aufrichtig  empfehlen  kann,  vom  Geschäfte  zurück¬ 
gezogen  habe.  Sie  ist  eine  kluge,  angenehme  und  ver¬ 
trauenswürdige  Frau,  in  der  Blüte  des  Lebens  und  voll¬ 
kommene  Meisterin  in  ihrer  Kunst.  Sie  ist  eine  ausge¬ 
zeichnete  „Ontologistin“  und  daher  völlig  au  fait  in  der 
Behandlung  der  wunderbaren  Aberrationen  des  mensch¬ 
lichen  Geistes.  Ihr  Museum  von  natürlichen  und  künst¬ 
lichen  Kuriositäten  und  ihre  Collection  von  Illustrationen 
„De  arcanis  Veneris  et  amoris“  sind  bei  weitem  die 
reichhaltigsten,  die  man  in  irgend  einem  ähnlichen  Institute 
finden  kann.“ 

Bekanntlich  vergalt  Theresa  Berkley  gleiches 
mit  gleichem  und  spendete  der  in  Not  geratenen  Geschäfts- 

28* 


436 


freundin  gleiches  Lob,  worüber  bereits  in  Teil  I  dieses^ 
Werkes  (S.  278 — 279)  ausführlicher  berichtet  worden  ist. 

Unter  dem  Namen  der  B  e  r  k  1  e  y  als  Verfasserin 
geht  ein  ca.  1880  erschienenes  Eroticum  „The  Favourite 
of  Venus,“  welches  aber  nichts  mit  ihr  zu  thun  hat.i) 

Einen  sehr  interessanten  Einblick  in  das  Treiben  der 
Flagellantinnen,  und  in  die  Excentricitäten  ihrer  männ¬ 
lichen  Klientel  gewährt  der  folgende,  in  der  „Venus  School- 
Mistress“  zuerst  veröffentlichte’^)  Brief  eines  solchen  Flagello- 
manen  an  die  Berkley: 

„Dublin,  im  Januar  1830 

An  Madame  T.  Berkley, 

28  Charlotte  Street-Portland  Place. 

Verehrte  Frau! 

Ich  bin  ein  „ungezogener  Junge“  und  zwar  absolut 
unverbesserlich!  Die  berühmtesten  Gouvernanten  von 
London  haben  mich  bereits  unter  ihrer  Fuchtel  gehabt, 
ohne  dass  es  ihnen  gelungen  wäre,  meine  Widerspenstig¬ 
keit  zu  besiegen.  Ein  Gentleman,  bekannt  unter  dem 
Namen  de  Brunswick,  wies  mich  an  eine  Madame 
Brown,  welche  eine  bedeutende  Kraft  in  den  Armen 
besitzen  soll.  Ein  anderer  empfahl  mir  Mme.  Wilson 
in  Marylebone,  welche  noch  weniger  zart  gebaut  wäre. 
Der  alte  Hotelier  Jaunay  vom  Leicester  Square  schlug  mir 
Mrs.  Calmers  vor,  welche  eine  grosse  Roirtine  im  Gebrauch 
des  Stockes  besitzen  soll.  Ich  erhielt  auch  eine  Einladung 
zum  Diner  bei  dieser  Dame.  Sie  empfing  mich  in  ihrer 

9  P-  Fraxi  „Catena“  S.  146. 

2)  „Venus  School  Mistress“  S.  VIII-XIV.  —  Die  obige 
deiitscbe  Übersetzung  stammt  Yon  Hansen  in  seinem  Werke 
„Stock  und  Peitsche“.  2.  Aull.  S.  168—  171. 


437 


elegant  eingerichteten  Wohnung,  doch  vergebens!  Trotz 
ihrer  inaponirenden  Gestalt  und  der  Kraft  ihres  Annes 
konnte  sie  keinen  dauernden  Eindruck  auf  mich  hinter¬ 
lassen!  Ein  anderer  riet  mir,  es  bei  Mrs.  Jones  zu 
versuchen.  Aber  auch  sie,  wie  alle  anderen,  mühte  sich 
vergebens  ab,  meinen  Kücken  mit  Stöcken  zu  bearbeiten. 
Der  Kapitän  Johnson  bestand  darauf,  dass  ich  Betsy 
Burgess  besuchte,  welche  eine  geschickte  Gouvernante 
sein  soll.  Der  Buchhändler  Brookes  von  der  Bond  Street 
gab  mir  eine  Karte  der  Mrs.  Coli  et  t  und  Beverley. 
Ich  habe  wohl  gemerkt,  dass  diese  Damen  ihr  Metier  ver¬ 
standen,  aber  es  gelang  ihren  vereinten  Anstrengungen 
nicht,  Eindruck  auf  mich  zu  machen. 

Schliesslich,  meine  verehrte  Dame,  habe  ich  eine 

Empfehlung  von  Ihrem  vertrauten  Freunde,  Graf  G . , 

erhalten,  über  welche  ich  vor  Freude  springen  möchte, 
nachdem  man  mir  von  Ihrem  famosen  Apparat,  dem 
Chevalet,  erzählt  hat,  welcher  dazu  dienen  soll,  uns  un 
gezogene  Jungen  abzustrafen. 

Ich  werde  Ihnen  zu  Anfang  des  Monats  Februar 
meinen  Besuch  machen,  wenn  ich  mit  meinem  Freunde, 
dem  Grafen  nach  London  komme,  wo  uns  parlamen¬ 
tarische  Pflichten  erwarten;  abei’,  damit  kein  Missverständnis 
zwischen  uns  möglich  ist,  füge  ich  gleich  meine  Beding¬ 
ungen  bei: 

1.  Es  ist  nötig,  dass  ich  auf  dem  Chevalet  gut  be¬ 
festigt  w’^erde  mit  den  Ketten,  welche  ich  selbst 
mitbringe, 

2.  Ein  Pfund  Sterling  für  den  ersten  Blutstropfen. 

3.  Zwei  Pfund  Sterling,  wenn  das  Blut  bis  zu  meinen 
Fersen  rollt. 

4.  Drei  Pfund  Sterling,  wenn  meine  Fersen  vom 
Blute  umflossen  sind. 


438 


5.  Vier  Pfund  Sterling,  wenn  das  Blut  sich  auf  dena 
Fusshoden  verbreitet. 

6.  Fünf  Pfund  Sterling,  wenn  Sie  bewirken,  dass  ich  . 
das  Bewusstsein  verliere. 

leb  bin,  verehrte  Frau 

Ihr  vollkommen  unverbesserlicher 

Frobenius  O’Flunkey“» 

Auf  den  ersten  Blick  erscheint  dieser  Brief  als  ein 
witziger  Scherz,  den  sich  Mr.  O’Flunkey  mit  der 
Berk]  ey  erlaubt  hat.  Wenn  man  sich  aber  an  das  oben  be¬ 
schriebene  Folterinstrumentarium  der  Berkley  erinnert, 
dessen  consequente  Anwendung  sehr  wohl  die  hier  ge¬ 
schilderten  Folgen  hervorrufen  konnte,  wenn  man  ferner 
bedenkt,  dass  noch  he u tzu tage  Masochisten  sich  in  der 
schauderhaftesten  Weise  martern  und  zerschinden  lassen, 
wie  aus  den  Schilderungen  bei  v.  Krafft-Ebing,  v. 
Schlichtegroll,  Bloch  u.  A.,  sowie  aus  den  maso¬ 
chistischen  Eroticis  der  neueren  Zeit  erhellt,  so  darf 
man  auch  die  absonderlichen  Wünsche  des  Herrn  Frobeniu& 
O’Flunkey  vollkommen  ernst  nehmen. 

Auch  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
florirten  die  Flagellationsetablissements  in  London.  U.  a. 
erlangte  in  den  60er  Jahren  Mrs.  Sarah  Potter  grossen 
Euf.  Über  sie  handelt  eine  besondere  kleine  Schrift,  die 
gelegentlich  der  Verhaftung  der  Potter  im  Jahre  1863 
(unter  der  Anschuldigung  ein  Mädchen  wider  ihren  Willen 
geschlagen  zu  haben)  veröffentlicht  wurde. Es  heisst 

• 

9  „Mysteries  of  Fl a g el  1  ati on,  or,  A  History  of  the- 
Secret  Ceremonies  of  the  Society  of  Flagellants.  The  Saintly 
Practice  of  the  Birch!  St.  Francis  wbipped  by  the  Devil!  How 
to  subdue  the  Passions  by  the  Art  of  Flogging!  With  many 
curious  Aneedotes  of  the  Prevalence  of  this  Peculiar  Pastime? 


439  — 


darin:  „Um  jene  Zeit  (Juli  1863)  wurde  unter  den 
Auspicien  der  Gesellschaft  für  den  Schutz  weiblicher 
Wesen“  die  damals  berüchtigte  „Akademie“  der  Sarah 
P Otter,  alias  Stewart  in  Wardour  Street  —  das  ist 
falsch,  denn  die  Verhaftung  fand  in  Albion  Terrace  3 
King’s  Road,  Chelsea  statt,  wohin  Mrs.  Pott  er  von  der 
Wardour  Street  einige  Monate  vorher  verzogen  war  — 
aufgehoben  und  eine  merkwürdige  Sammlung  von 
Flagellations-Apparaten  nach  dem  Westminster-Polizei- 
gericht  gebracht,  wo  das  grosse  Publikum  zum  ersten 
Male  erfuhr,  dass  junge  Mädchen  in  die  „Flagellations¬ 
schule“  der  Stewart  gelockt  wurden,  um  dort  von  alten 
und  jungen  Flagellanten  mit  der  Rute  gezüchtigt  zu 
werden,  wofür  die  Stewart  Geld  empfing.  Die  kuriose 
Einrichtung  ihres  Geschäftes  bestand  aus  einer  zusammen¬ 
klappbaren  Leiter,  aus  Riemen,  Birkenruten,  Stechginster¬ 
besen  und  geheimen  Vorrichtungen  für  den  Gebrauch  von 
Männern  und  Weibern. 

Sie  trieb  ihr  Geschäft  auf  die  Weise,  dass  sie  jungen 
Mädchen  Wohnung,  Essen  und  Kleidung  gewährte,  wofür 
dieselben  verpflichtet  waren,  den  Lüsten  der  Klientel  des 
„Boardinghouse“  dienstbar  zu  sein.  Sie  wurden  auf 
verschiedene  Weisen  flagellirt.  Manchmal  wurden  sie  an 
die  Leiter  gebunden,  ein  andermal  im  Zimmer  umher¬ 


in  all  Nations  and  Epochs,  whether  Savage  or  Civilized. 
Printed  by  C.  Brown,  44  Wych  Street,  Strand.  Price  2  d.“ 
Auf  dem  Titelblatt  ein  Holzschnitt,  welcher  ein  sich  ent¬ 
kleidendes  Mädchen  darstellt,  während  zu  beiden  Seiten  ein 
alter  Mann  und  eine  alte  Frau  stehen,  die  beide  in  der  Rechten 
eine  Rute  halten,  der  Mann  ausserdem  in  der  Linken  ein 
Tau;  im  Hintergründe  befindet  sich  eine  Leiter.  —  Vergl. 
Pisanus  Fraxi  „Jndex“  S.  311. 


440 


gepeitscht,  zuweilen  auf  das  Bett  gelegt.  Jeder  Einfall, 
jede  Variation,  die  eine  perverse  Phantasie  nur  ersinnen 
konnte,  wurde  ausgeführt,  um  die  Orgien  abwechslungs¬ 
reich  zu  gestalten,  für  welche  die  Hausherrin  Summen 
von  5  bis  zu  15  Pfund  Sterling  erhielt.  Die  Einnahmen 
aus  dieser  „Schule“  setzten  die  Steward  in  den  Stand 
sich  ein  Landhaus  zu  mieten  und  einen  Geliebten  aus¬ 
zuhalten,  zum  grossen  Ärgernis  der  Nachbarschaft.“ 

Pisa n US  Fraxi  nennt  diesen  Bericht  stark  über¬ 
trieben.  Denn  kein  Mädchen  wurde  gegen  seinen  Willen 
flagellirt,  da  es  ja  selbst  gewöhnt  war  die  Gentlem.en  zu 
geissein  und  sich  freiwillig  gegen  gute  Bezahlung  der 
Auspeitschung  unterwarf.  Ausserdem  ist  es  sicher,  dass 
das  Mädchen,  wegen  dessen  Misshandlung  die  Potter 
ins  Gefängnis  kam,  nach  der  Entlassung  der  letzteren, 
wieder  zu  ihr  zurückkehrte  und  eine  geraume  Zeit  bei 
ihr  in  Howland  Street  wohnte. 

Mrs.  Sarah  Potter,  alias  Stewart,  war  eine 
Kupplerin  von  Ruf  und  machte  eine  Zeit  lang  gute 
Geschäfte.  Während  ihrer  abwechslungsreichen  Laufbahn 
wechselte  sie  sehr  häufig  ihre  Wohnung,  begann  ihr 
Geschäft  in  Castle  Street,  Leicester  Square,  wohnte  dann 
in  Wardour  Street,  später  in  Albion  Terrace,  King’s  Eoad, 
Chelsea,  in  Howland  Street,  Tottenham  Court  Road,  wo 
sie  wegen  Verkaufs  indecenter  Bücher  an  geklagt  wurde 
und  wieder  ins  Gefängnis  kam,  dann  in  Old  Kent  Road 
und  zuletzt  in  Lavinia  Grove,  King’s  Cross,  wo  sie 
1873  starb. 

Die  unter  ihrer  Leitung  stattfindenden  Flagellationen 
wurden  hauptsächlich  Männern  verabreicht,  obgleich 
natürlich  bisweilen  auch  Mädchen  gezüchtigt  wurden. 
Ihre  Spezialität  war  die  Beschaffung  sehr  junger  Mädchen, 


—  441  — 

mit  deren  Eltern  sie  gewölinlich  ein  Abkommen  traf, 
um  sich  vor  gerichtlicher  Verfolgung  zu  schützen.  Sie 
kleidete  diese  Kinder  in  phantastische  Kostüme  und 
brachte  ihnen  allerlei  Tricks  zur  Erheiterung  ihrer  Be¬ 
sucher  bei.^) 

Mehrere  in  der  letzten  Zeit  existierende  Flagellations¬ 
bordelle  werden  von  Pisanus  Fraxi  erwähnt,  u.  a. 
eines,  wohin  ca.  20  junge  Mädchen  kamen,  um  alle 
Phasen  einer  „Schoolmistress“  durchzumachen  und  heltig 
die  Eute  zu  geben.  Die  von  ihren  „Zöglingen“  schriftlich 
eingesandten  Wünsche  waren  oft  sehr  merkwürdig. 
Einige  Männer  wünschen  wie  Kinder  übers  Knie  gelegt 
zu  werden,  andere  wollen  auf  dem  Kücken  einer  Dienst¬ 
magd  abgeprügelt,  noch  andere  wollen  gefesselt  werden. 

Ein  Artikel  von  Otto  Brandes  unter  dem  Titel 
„Die  Auspeitscherin“  im  „Zeitgeist“  (Beiblatt  zum  ,, Ber¬ 
liner  Tageblatt“)  vom  23.  Oktober  1893,  und  die  anno 
1900  in  der  englischen  Zeitschrift  „Society“  veröffent¬ 
lichten  Briefe  beweisen,  wie  sehr  noch  immer  die  Neigung 
zur  aktiven  Flagellation  unter  den  englischen  Frauen 
verbreitet  ist.  Während  meines  Aufenthaltes  in  London 
im  Jahre  1901  galt  ein  inzwischen  aufgegebener  Hand¬ 
schuhladen  in  Great  Windmill  Street  als  ein  solches 
geheimes  Flagellationsbordell.  Im  Allgemeinen  aber 
haben  sich  die  alten  „flogging  establishments“  in  die 
modernen  „manicure  institutes“  u.  dgl.  umgewandelt,  von 
denen  man  heute  sehr  elegant  eingerichtete  besonders  in 
der  Nähe  von  Bond  Street  trifft. 


0  Pisanus  Fraxi  „Index“  S.  313. 
2)  ibidem  S.  XLIV;  S.  XLVI. 


442 


Originell  ist  folgende  Einladungskarte  an  die  „Gent- 
lemen  Flagellants“,  die  am  Ende  der  Schrift  „Sublime 
of  Flagellation“  abgedruckt  ist.^) 

„Eine  kurze  Zeit  nach  dem  Erscheinen  der  „fashio- 
nablen  Vorlesungen“  in  Paris  wurde  die  folgende  Karte 
von  den  Buchhändlern  jedem  Käufer  des  Werkes  über¬ 
mittelt. 

Alle  Käufer  der  „Vorlesungen“,  die  begierig  sind, 
die  Wirkung  derselben  zu  beurteilen,  wenn  sie  gehörig 
abgehalten  werden,  werden  an  eine  Dame  von  aus¬ 
gezeichneter  körperlicher  und  geistiger  Bildung  verwiesen, 
die,  wenn  man  ihr  ein  gehöriges  Kompliment  macht,  jedo 
der  Vorlesungen  mit  aller  Beredsamkeit  und  glücklicher 
Vereinigung  einer  energischen  leidenschaftlichen  Stimme- 
und  Bewegung  halten  wird. 

Die  Dame  hat  ein  eigenes  Haus.  Ihr  „Vorlesungs- 
Zimmer“  ist  mit  Enten,  neunschwänzigen  Katzen  und  einigen 
der  besten  Bilder  über  Flagellation  ausgestattet.  Die 
Dame  hat  ein  starkes  Weib  bei  sich  im  Hause,  die  im 
Stande  ist,  einen  Mann  auf  den  Kücken  zu  nehmen,  falls 
er  wie  ein  Schuljunge  behandelt  sein  will;  sie  und  ihre 
Dienerin  erbieten  sich  auch  zur  passiven  Flagellation,  wenn 
es  verlangt  wird.  Preis  der  ersten  Vorlesung  eine  Guinea 
—  jeder  weiteren  eine  halbe  Guinee,  und  dem  Mädchen, 
wenn  es  als  Pferd  gebraucht  wird,  eine  halbe  Krone. 

N.  B.  Einzelne  Herren,  die  gerne  Schuljungen  dar¬ 
stellen,  können  auch  von  der  Mistress  und  ihrer  Dienerin 
zu  jeder  Stunde,  besonders  aber  früh  Morgens  vor  dem 
Aufstehen  besucht  werden,  wo  sie  dann  diese  entzückende 
Unterhaltung  haben  können,  aus  dem  Bette  genommen. 


ibidem  S.  259. 


443 


aufs  „Pfercl‘^  gesetzt  und  gepeitscht  zu  werden,  was  mit 
bewunderungswürdiger  Kunst  ausgeführt  werden  wird.“ 

Wie  sich  schön  aus  den  bisherigen  Mitteilungen  ergiebt^ 
haben  die  männlichen  Flagellomanen  zwar  in  weitaus 
den  meisten  Fällen  das  Bedürfnis  selbst  flagellirt  zu  werden, 
üben  jedoch  nicht  selten  auch  die  aktive  Flagellation  aus,, 
die  sich  sowohl  auf  Mädchen  als  auch  auf  Knaben  erstreckt. 
In  der  Vorrede  zur  „Venus  School  Mistress“^)  werden  die 
männlichen  Flagellanten  in  drei  Klassen  eingeteilt: 

1.  Diejenigen,  welche  es  lieben,  eine  mehr  oder  minder 
strenge  Züchtigung  von  der  Hand  eines  schönen  Weibes 
zu  empfangen,  das  genügend  stark  ist,  um  die  Rute  mit 
Kraft  und  Wirksamkeit  zu  handhaben. 

2.  Diejenigen,  welche  es  lieben,  selbst  einem  weib¬ 
lichen  Wesen  die  Rute  zu  geben. 

3.  Diejenigen,  welche  weder  passive  noch  active  Flagel¬ 
lanten  sind,  aber  genügende  sexuelle  Erregung  aus  dem 
blossen  Zusehen  bei  der  Flagellation  schöpfen. 

Hinzufügen  kann  man  auch  die  Fälle,  in  welchen 
Männer  es  lieben,  sich  von  Kindern  flagelliren  zu  lassen 
oder  selbst  Kinder  zu  flagelliren,  seien  es  Mädchen  oder 
Knaben. 

Diese  verschiedenen  Rubriken  begegnen  uns  in  der 
Geschichte  der  männlichen  Flagellanten  in  England. 

Einen  Vertreter  der  passiven  Flagellation  schildert 
schon  der  alte  Christopher  Marlowe  (1564 — 1593). 
in  dem  folgenden  charakteristischen  Epigramm: 

AYhen  Francus  comes  to  solace  with  bis  whore, 

He  sends  for  rods  and  strips  himself  stark  naked; 

For  bis  liist  sleeps,  and  will  not  rise  before 


G  „Venus  School  Mistress“  S.  VIH. 


444 


By  wliippiDg  of  the  wench  it  be  awaked. 

J  envy  liim  not,  but  wish  J  had  the  power, 

To  make  his  wench  but  one  half  hourd) 

Dagegen  war  offenbar  jenes  Individuum  von  der 
„flagellandi  iam  dira  cupido“  ergriffen,  welches  gegen  das 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  die  Strassen  Londons  dadurch 
unsicher  machte,  dass  es  allen  ihm  begegnenden  Frauen 
die  Kleider  aufhob  und  ihnen  einen  Klaps  oder  Schlag 
versetzte.  Er  ging  dabei  so  geschickt  zu  Werke,  dass  der 
Volksglaube  ihn  mit  übernatürlichen  Kräften  ausstattete. 
Man  nannte  ihn  „Whipping  Tom“.  Pisanus  Fraxis) 
erwähnt  ein  litterarisches  Curiosum,  welches  von  diesem 
eigenartigen  Flagellanten  handelt,  betitelt:  ,, Whipping 
Tom  Brought  to  light,  and  exposed  to  View:  In  an 
Account  of  several  late  Adventures  of  pretended  Whipping 
Spirit.  London,  Printed  for  Edward  Brooks  1681.“ 
Darin  wird  Whipping  Tom’s  Vorgehen  folgender- 
massen  geschildert: 

,, Whipping  Tom  for  some  weeks  past,  has  lurked 
about  in  Alleys,  and  Courts  in  Fleet-street,  Chan- 
cery-lane,  Shoe-lane,  Fetter-lane,  the  Strand, 
Holbourn,  and  other  places,  and  at  unawares  seazes 
upon  such  as  he  can  conveniently  light  on,  and 
turning  them  up  as  nimble  as  an  Eel  (sic),  makes  their 
Butt  ends  ery  Spanko;  and  then  (according  to  the  Report 
of  those  who  have  feit  the  weight  of  his  Paws)  vanished; 
for  you  must  know,  that  having  left  the  Country,  he  has 
not  the  advantage  of  getting  Rods,  and  therefore  is  obliged 
to  use  his  hands  instead  thereof:  His  first  Adventure,  as 

1)  „The  Works  of  C  h  r  i  s t  o  p  h  e  r  M  a r  1  o  w  e“  London 
1826  Bd.  III  S.  454. 

2)  P.  Fraxi  „Centuria“  S.  469. 


445 


near  as  we  caii  learn,  was  on  a  Servant  Maid  in  New 
Street,  who  being  sent  out  to  look  her  Master  (sic),  as 
she  was  turning  a  Corner,  perceived  a  Tall  black  Man 
Standing  up  against  the  wall,  as  if  lie  had  been  making 
water,  but  she  had  not  passed  for,  buth  with  great  speed 
and  violence  seized  her  and  in  a  trice,  laying  her  cross 
Ins  knee,  took  up  her  Linnen,  and  lay’d  so  hard  upon 
her  Backside,  as  made  her  cry  out  most  pitiously  for  help, 
the  which  he  no  sooner  perceiving  to  approach  (as  she 
declares)  but  he  vanished;  and  although  diligent  search 
was  made,  no  person  could  be  found.“ 

Schon  um  diese  Zeit,  wo  die  Geschichte  des  „Whipping 
Tom “  spielte,  hatte  sich  der  A usdru ck  „ f  1  o  g g  i  n  g  c  u  1 1  i  e  s “  ^ 
für  die  männlichen  Flagellomanen  gebildet,  die  also  schon 
damals  in  verhältnismässig  grosser  Zahl  vorhanden  sein 
mussten.  Denn  Ne d  Ward,  der  berühmte  Verfasser  des 
„Londoner  Spions“  giebt  uns  bereits  1704  eine  ausführ¬ 
liche  Nachricht  von  dem  Treiben  dieser  Liebhaber  der 
Rute.^) 

Als  er  eines  Abends  mit  einem  Freunde  in  dem 
Bordell  „Widows  Coffee-House“  (der  Name  erinnert  an  die 
bekannten  Berliner  ,,Wittwenbälle“)  sich  im  Gespräch  mit 
den  ,, lustigen  Damen‘*  des  Etablissements  befand,  kam 
ein  etwa  öOjähriger  Mann  in  Mantel  nnd  Pelerine  stöhnend 


y  „Cu  11“  oder  „Cully“’  bedeutet  entweder  Zuhälter  oder 
häufiger  den  Kunden  eines  Bordells,  der  für  „geheime,  süsse 
und  kostbare  Gunstb “Zeugungen“  Geld  bezahlt.  Poll 
Ellis  (eine  Dirne)  trug  ein  grosses  Netz,  um,  wie  sie  ironisch 
sagte,  besser  die  „culls“  darin  zu  fangen.  Vergl.  John  Bee 
„Sportman’s  Slang  etc.“  S.  61. 

2)  Edward  Ward  ,,The  London  Spy  compleat“  second 
Edition,  London  1704  S.  32  -  33. 


446 


und  ächzend  die  Treppe  herauf,  worauf  die  Bordellmutter 
billig  zu  Friss  (einer  Dirne)  ging  und  sie  fragte,  ob 
Ruten  im  Hause  seien.  „Da  ich  ganz  nahe  dabei  sass, 
hörte  ich  die  Frage.  Die  Dirne  antwortete:  ,, Jawohl, 
Ihr  wisst  ganz  gut,  dass  ich  gestern  für  6  Pence  welche 
geholt  habe.“  Beim  Eintritt  dieses  würdigen  Lüstlings 
entfernten  sich  die  Damen  aus  unserer  Gesellschaft  und 
begaben  sich  als  sittsame  Jungfrauen  in  ihr  geheimes 
Arbeitszimmer  der  Sünde,  und  Hessen  den  alten  Sünder 
in  dem  ,, Winter  seiner  Wollust“  seine  grauen  Haare  mit 
einem  Tropfen  stärkenden  Labsals  wärmen,  während  wir 
unsere  Rechnung  bezahlten,  man  uns  hinab  leuchtete,  und 
wir  den  wollüstigen  Satyr,  eine  Schande  seines  Alters,  den 
zwei  Hexen  als  Beute  überliessen.  Er  befand  sich,  glaube 
ich,  in  einer  schlimmeren  Lage  als  ein  Mensch  zwischen 
zwei  Stühlen  oder  als  Lot  in  Sodom  zwischen  den  Reizen 
seiner  losen  Töchter.  .  .  .  Als  später  der  alte  Sünder  in 
das  Kaffee-Zimmer  kam,  fragte  ich  einen  der  Anwesenden, 
was  es  zu  bedeuten  hätte,  dass  Mutter  Beelzebub  die  Dirne 
gefragt  habe,  ob  Ruten  im  Hause  seien.  Er  lächelte  bei 
meiner  Frage  und  bemerkte,  dass  er  glaube,  mir  von 
einem  neuen  Laster  berichten  zu  können,  von  dem  ich 
kaum  etwas  gehört  hätte.  „Dieser  heuchlerische. Heilige,“ 
sagte  er,  „gehört  zu  denjenigen  aus  der  schwarzen  Schule 
von  Sodom,  die  die  in  der  Wissenschaft  der  Unzucht 
erfahrenen  Leute  „flogging  c ullies“  nennen.  Dieses 
unnatürliche  Tier  bezahlt  jenen  Dirnen,  die  Ihr  gesehen 
habt,  Geld,  worauf  sie  ihm  die  Hosen  herunterziehen  und 
seine  geheimen  Teile  peitschen,  bis  seine  Brunst  befrie¬ 
digt  ist.  Während  der  ganzen  Zeit  fleht  er  sie  um  Er¬ 
barmen  an,  wie  ein  Verbrecher  am  Pranger  und  bittet 
sie  um  Verzeihung.  Aber  je  mehr  er  dies  thut,  um  so 


447 


kräftiger  sind  sie  angewiesen,  ilm  zu  geissein,  bis  er  in 
tierische  Ekstase  gerät,  worauf  sie  mit  der  Flagellation 
auf  hören. 

Wie  erwähnt  bilden  die  „flogging  cullies‘^  d.  h.  die 
Liebhaber  der  passiven  Flagellation  entschieden  die  Mehr¬ 
zahl  der  männlichen  Flagellomanen.  Dennoch  kommen 
auch  aktive  Flagellanten  unter  diesen  vor  und  relativ 
häufig  verknüpft  sich  mit  der  Neigung  zur  passiven  die¬ 
jenige  zur  aktiven  Flagellation. 

Das  Treiben  solcher  männlichen  Flagellanten  wird 
anscheinend  nach  wirklichen  Thatsachen  sehr  anschaulich 
geschildert  in  einem  exquisit  sadistischen  Werke  „The 
Experimental  Lecture  of  Colonel  Spanker“  (London  1879)^). 

Fs  handelt  sich  um  eine  Gesellschaft  aristokratischer 
Flagellanten,  die  unter  der  Leitung  des  Oberst  Spanker 
ein  Haus  im  vornehmen  Londoner  Stadtteil  Mayfair  am 
Hyde  Park  gemietet  hat,  welches  sie  der  Obhut  einer 
ehemaligen  Kupplerin  anvertrauen,  die  ihnen  bei  den  hier 
veranstalteten  flagellantistischen  Orgien  Dienste  leisten 
und  ihnen  die  auszupeitschenden  jungen  Mädchen  be¬ 
schaffen  musste.  Anfangs  wurden  arme  Mädchen  von  der 
Strasse  (Blumenverkäuferinnen  u.  a.)  engagiert,  die  sich 
gegen  gute  Bezahlung  herbeiliessen,  ihren  Körper  der 
Flagellation  darzubieten.  Aber  „der  Mangel  an  allem 
Gefühl  und  aller  Schamhaftigkeit  bei  einem  Mädchen  von 
so  schlechter  Erziehung  bot  eine  ernste  Unannehmlichkeit 
dar.  Der  Ceremonienmeister  war  bei  jeder  Gelegenheit 
gezwungen,  seinen  Zuhörern  auseinanderzusetzen,  inwie- 

1)  Derselbe  Bericht  findet  sich  fast  gleichlautend  in  dem 
„Midnight  Spy“  S,  124. 

Vergl.  darüber  P.  Fraxi  „Catena‘‘  S.  246 — 251; 
Hansen  „Stock  und  Peitsche“  S.  196—206. 


448 


fern  die  jungen  Mädchen  aus  guter  Familie  die  einzigen 
seien,  die  die  Schmach  zu  würdigen  wüssten,  blossgestellt 
und  gedemütigt  zu  werden,  und  zwar  unter  den  Augen 
von  Personen  ihres  eigenen  Geschlechtes,  noch  viel  mehr 
aber,  wenn  das  in  Gegenwart  männlicher  Personen  ge¬ 
schehe. ‘‘ 

Demgemäss  richtet  sich  die  Begierde  des  Flagellanten¬ 
klubs  auf  die  Beschaffung  zarter,  feingebildeter  und  vor¬ 
nehmer  Mädchen,  die  womöglich  niemals  die  Rute  kennen 
gelernt  haben.  Ein  solches  wird  in  der  Person  der  Miss 
Julia  Ponsonby,  einer  jungen  Arichokratin,  durch  die 
Schliche  der  Kupplerin  in  das  Haus  in  Mayfair  gelockt, 
in  dessen  „Lecture  Hall“  umgeben  von  blühenden 
Pflanzen,  Fontänen,  und  anderem  luxuriösem  Zierrate  ein 
Apparat  aus  Mahagoni,  der  wie  eine  Leiter  aussieht, 
steht,  an  welchen  die  Opfer  vor  der  Züchtigung  angebunden 
Averden.  Hier  empfängt  Julia  von  dem  Obersten  die  erste 
Züchtigung  und  andere  ,,dreadful  liberties“.  Am  nächsten 
Morgen  wohnt  er  mit  der  Rute  in  der  Hand  ihrer 
Toilette  bei,  die  er  aber  nach  einigen  Rutenhieben  nur 
halb  vollenden  lässt,  um  sie  unter  weiteren  Schlägen  eine 
Leiter  besteigen  zu  lassen.  Dann  wird  sie  in  einem 
eleganten  Ballkostüm  der  Gesellschaft  der  Flagellanten, 
zu  der  sich  auch  einige  maskirte  Damen  gesellt  haben,  vorge¬ 
stellt.  Hierauf  beginnt  der  Oberst  seine  Vorlesung,  die  er  nur 
ab  und  zu  durch  einige  Hiebe,  die  er  der  unglücklichen 
Julia  verabreicht,  unterbricht;  er  entwickelt  seine  Theorien 
und  erklärt  die  Geheimnisse  der  Flagellation,  die  dann 
praktisch  von  der  ganzen  Gesellschaft  an  dem  von  ihnen 
ausgekleideten  Mädchen  erprobt  werden,  wobei  auch 
Kneifen  und  Stechen  mit  Nadeln  zu  Hülfe  genommen  wird. 
Dann  muss  Julia  selbst  die  aufs  „Pferd“  gebundene  Miss 


449 


Debrette  flagelliren.  Nach  weiteren  indecenten  Mani¬ 
pulationen  beginnt  erst  die  „flagellation  in  earnest“. 
Julia  wird  wieder  an  die  Leiter  gefesselt  und,  während  die 
Gesellschaft  sich  mit  schauderhaften  Martergeschichten 
unterhält,  grausam  gefoltert,  indem  sie  nach  einander  mit 
Brennesseln,  Ochsenziemern,  mit  mit  scharfen  Stahlspitzen 
besetzten  ledernen  Riemen,  Reitpeitschen  u.  s.  w.  flagellirt 
wird.  Zuletzt  wird  sie  brutal  vergewaltigt. 

„This  book“  sagt  ein  englischer  Bibliophile,  „which 
we  can  fairly  assert  is  the  most  coldly  cruel  and  unblush- 
ingly  indecent  of  any  we  have  ever  read,  Stands  entire- 
ly  alone  in  the  English  language.  It  seems  to  be  the 
wild  dream,  or  rather  nigthmare,  of  some  vicious,  nsed-up, 
old  rake,  who,  positively  worn  out,  and  his  hide  tanned 
and  whipped  to  insensibility  by  diurnal  Üogging,  has 
gone  mad  on  the  subject  of  beastly  flagellation. ‘‘ 

Männliche  Flagellanten,  die  die  active  Flagellation 
bevorzugen,  werden  in  ähnlicher  Weise  wie  in  der 
„Lecture  of  Colonel  Spanker“  in  einer  anderen  Schrift 
geschildert:  „The  Convent  School,  or  Early  Experiences 
of  a  young  Flagellant“  By  Rosa  Belinda  Coote  (London 
1876),  in  der  ebenfalls  eine  Frau  von  zwei  Männern  auf 
die  grausamste  Weise  flagellirt  und  gemartert  wird. 

Die  sexuelle  Flagellation  und  die  brünstige  Leiden¬ 
schaft  für  die  Rute  sind  in  England  nicht  bloss  auf  die 
Bordellpraxis  beschränkt,  sondern  treten  in  allen  gesell¬ 
schaftlichen  Verhältnissen  hervor,  wo  sie  eine  bedeutend 
grössere  Rolle  spielen  oder  gespielt  haben  als  in  andern 
Ländern. 

Vor  allem  kommen  hier  für  die  englischen 
Schulen  in  Betracht.  Zahlreich  sind  die  Männer, 
die  uns  Erinnerungen  an  ihre  „school-miseries“  hinter- 

29 


450 


lassen  haben  und  die  ihnen  von  ihren  Lehrern  zu  Teil 
gewordenen  Züchtigungen  zum  Teil  so  anschaulich  schildern, 
dass  wir  daraus  entnehmen  können,  dass  sie  selbst  wie 
ihre  Zuchtmeister  Vergnügen  dabei  empfunden  haben. 
So  werden  diese  Flagellationen  in  der  Schule  erwähnt 
von  S.T.Coleridge  (in  den  „Specimens  of  Table  Talk“ 
Mai  27,  1830),  von  Charles  Lamb  (in  den  „Essays 
of  Elia,“  und  den  „Recollections  of  Christ’s  HospitaT‘), 
von  Alexander  Somerville  (,,Autobiography  of  a 
Working  Man“  London  1848),  Capel  Loft  (Seif  For¬ 
mation,  or  the  History  of  an  Individual  Mind“  London 
1837),  Oberst  Whitethorn  („Memoirs  of  a  Cape 
Rifleman“),  Leigh  Hunt  u.  a.  m. 

Weiteres  reichliches  Material  für  die  Geschichte 
der  Flagellation  in  den  englischen  Schulen  liefern  viele 
Romane,  Erzählungen  und  andere  Erzeugnisse  der  belle¬ 
tristischen  Litteratur,  die  doch  auch  auf  Erfahrung  und 
Beobachtung  beruhen,  wie  z.  B.  Richard  Head’s 
„Englisch  Rogue“,  Fielding’s  ,,Tom  Jones“,  Smollett’s 
„Roderick  Random,“  Kapitän  Marryat’s  „Rattlin  the 
Reefer,“  Charles  Dickens’  „Nicholas  Nickleby,“ 
Kingsley’s  „Westward  Ho.“  Eine  sehr  drastische 
Schilderung  von  körperlicher  Züchtigung  in  den  Schulen 
enthalten  die  Schriften  „Settiers  and  Convicts“  (London 
1847)  und  „Twelve  Years  a  Slave“  (London  1853.)  Frusta 
bemerkt :  „In  England,  dem  klassischen  Lande  der  Freiheit, 
war  das  Peitschen,  Geisseln  und  Prügeln  von  altersher 
sehr  im  Schwange  und  ist  es  zur  Stunde  noch,  trotzdem 
dass  es  hier  keine  Jesuiten  giebt.  Die  Hauserziehung 
wird  mit  ungemeiner  Strenge  getrieben  und  die  Flagel¬ 
lation  bei  beiden  Geschlechtern  angewendet.  Am  längsten 
dauert  sie  bei  dem  männlichen  Geschlechte.  In  den 


351 


■grossen  Colleges  standen  vor  noch  nicht  langer  Zeit  selbst 
18  bis  21jährige  junge  Leute  noch  unter  der  Kute.  —  Die 
Memoiren  Trelawney’s,  des  berühmten  Freundes  von 
Byron,  liefern  von  dem  Innern  der  englischen  Schul¬ 
zucht  in  manchen  Anstalten  ein  überraschendes  Gemälde 
und  entheben  jeder  ferneren  Ausführung.“^) 

Lehrer  wie  Dr.  Gill  (Anfang  des  17.  Jahrhunderts)^) 
-und  Dr.  Colet  von  der  St.  Paul’s  Schule,  Dr.  Drury 
und  Dr.  Vaughan  in  Harrow,  Dr.  Busby,  Dr.  Keate, 
Major  Edgeworth  von  Eton,  der  Rev.  James  Bowyer^) 
von  Christ’s  Hospital  sind,  sprüchwörtlich  geworden.  Sie 
scheinen  es  nämlich  in  Beziehung  auf  die  Handhabung 
•der  Ruthe  mit  Edgar  Allen  Poe  gehalten  zu  haben, 
der  da  sagt:  „Kinder  sind  zum  Prügeln  niemals  zu  weich. 
Sie  werden  wie  zähe  Beefsteaks  um  so  weicher,  je  mehr 
sie  geschlagen  werden,“  oder  mit  Lord  Byron,  der  in 
„Don  Juan“  (Canto  H,  Stanza  I)  die  Schulmeister  ermahnt: 

Frusta  a.  a.  0.  S.  254.  —  Vergl.  auch  Delolme  a. 
a.  0.  S.  69 — 70  mit  Citaten  aus  den  Werken  der  Dichter 
F i e  1  d i n  g  und  Gay  und  den  Versen : 

The  School-boy’s  desire  is  a  play-day, 

The  Schoolmastes  joy  is  to  flog. 

2)  Vergl.  „Gill  upon  Gill,  or  Gill’s  Ass  uncased, 
nnstript,  unbound“  London  1608;  ferner  Davenant  „On 
Doctor  Gill,  Master  of  Paul’s  School“. 

3)  Als  der  Dichter  Coleridge  von  dem  Tode  seines 
alten  Lehrer  Bowyer  hörte,  bemerkte  er,  dass  es  ein  Glück 
wäre,  dass  die  Cherubim,  die  ihn  zum  Himmel  geleiteten,  nur 
aus  Kopf  und  Flügeln  beständen.  Denn  sonst  würde  er  sie 
unlehlbar  bei  Seite  geprügelt  haben.  Vergl.  W.  H.  Blanch 
„The  -Blue  Coat  Boys“  London  1877  S.  90  (mit  einem  Bilde, 
welches  die  verschiedenen  Grössen  und  Gewichte  der  in  Eton 
und  in  Christ’s  Hospital  gebrauchten  Ruten  zeigt).  Hierin 
auch  Anekdoten  von  Lamb  und  Leigh  Hunt.  Die  obige  Ge- 
jschichte  hat  man  auch  von  Dr.  Busby  erzählt. 


29* 


Oll  ye,  wlio  teacli  tlie  ingenuous  youth  of  nations;. 
Holland,  France,  England,  Germany,  or  Spain, 

I  pray  ye  flog  them  upon  all  occasions. 

It  mends  there  morals,  never  mind  the  pain. 

Die  Westminster  Schule  war  seit  alter  Zeit  herüchtigk 
NachCooper^)  wurde  dort  nicht  eine  Birkenruthe  gebraucht,, 
sondern  eine  solche  aus  Apfelbaumzweigen,  die  in  einem, 
hölzernen  Griffe  steckte.  Zwei  Junioren  bekleiden  das- 
Amt  der  „Ruthenmacher“  und  müssen  die  Schule  mih 
Ruthen  versorgen.  Der  Erfinder  der  Westminsterruthe- 
soll  Dr.  Bacher  gewesen  sein,  der  von  1454 — 1487  an¬ 
der  Schule  thätig  war.  Bei  der  Züchtigung  musste  der* 
Deliquent  auf  einem  Blocke  niederknieen,.  das  Gesäss- 
wurde  entblösst,  und  der  Lehrer  zog  ihm  vier  Streiche- 
über,  den  sogenannten  „Schrubber“,  oder  auch  sechs- 
Streiche,  den  „Biblischen.“ 

Die  beiden  bekanntesten  Schulflagellanten  der  West¬ 
minster  Schule  waren  Dr.  Busby  und  Dr.  Vincent.. 
Busby’s  Rute  war  das  ,,Sieb,  das  den  Weizen  der 
Gelehrsamkeit  von  der  Spreu  trennt“^)  Vincent’s  Zeit 
war  fast  so  schlimm  wie  Busby’s  ,, Schreckensherrschaft“. . 
Cooper  berichtet:  „Er  begnügte  sich  nicht  mit  dem 
vorgeschriebenen  Strafen,  sondern  ohrfeigte  die  Knaben 
und  kniff  sie.  Golem  an  lehnte  sich  dagegen  auf  und- 
sagte,  dass  ein  Pädagoge  das  Recht  hätte,  seinen  Schüler 
an  der  passenden  Stelle  rot  zu  färben,  dass  er  aber  kein 
Recht  habe,  ihn  mit  den  Fingern  braun  und  blau  zm 
kneifen.  Unter  Vincents  Vorsteherschaft  gründete  die^ 
Schule  eine  Zeitschrift,  die  der  „Flagellant“  genannt. 


1)  Cooper  a.  a.  0,  S.  137. 

2)  ibidem  S..  136. 


453 


^wurde  und  dk  seinen  Zorn  so  reizte,  dass  er  gerichtlich 
:gegen  den  Verleger  einschreiten  wollte.  Da  trat  Southey, 
•der  ihn  auch  in  einem  Artikel  lächerlich  gemacht  hatte, 
auf  und  bekannte  sich  als  Urheber,  so  dass  Vincent 
den  Schülern  nichts  anhaben  konnte. 

Ein  eigentümlicher  Flagellant  von  Westminster  School 
•war  Dr.  Parr.  Sein  Rutenlieferant  war  ein  Mann,  den 
man  vom  Galgen  abgeschnitten  und  ins  Leben  zurück- 
;gerufen  hatte.  Von  diesem  nahm  Parr  die  Ruten  stets 
>mit  einem  „wohlgefälligen  Lächeln“  in  Empfang.^) 

Gewiss  hat  die  Züchtigungspraxis  von  Westminster 
-School  zahlreiche  Flagellomanen  gezüchtigt.  Schon  ein 
Dichter  des  17.  Jahrhunderts,  Thomas  Shadwell  spielt 
in  seiner  Komödie  „The  Virtuose“  (Act  4)  darauf  an. 
'Der  alte  Lebemann  Snarl,  der  ins  Bordell  kommt,  um 
-sich  flagelliren  zu  lassen,  wird  von  dem  Mädchen  gefragt: 
„Ich  wundere  mich  darüber,  dass  Euch  etwas  so  viel  Ver¬ 
gnügen  macht,  was  mir  sehr  wenig  gefällt?“  Darauf 
antwortet  er;  „Ich  wurde  in  Westmin ster  School 
so  daran  gewöhnt,  dass  ich  seitdem  nicht  mehr  davon 
(lassen  konnte“. 

Hiermit  dürfte  auch  die  grenzenlose  Sittenlosigkeit 
und  geschlechtliche  Freiheit  Zusammenhängen,  die  nach 
Hüttner^)  im  18.  Jahrhundert  in  Westminster  School 
-und  in  Eton  herrschten. 

In  letzterer  Schule  wurde  bezeichnender  Weise  jedem 
Knaben  eine  halbe  Guinee  für  Ruten  in  Rechnung  gestellt. 
Hier  waltete  seit  1809  der  berühmte  Dr.  Keate  mit  uner- 


1)  ibidem  S.  137. 

2)  ibidem. 

3)  Hütt  n  e  r  „Sittengemäide  von  London“  S.  188 — 189;  S.  192. 


454 


bittlicher  Strenge  ein  Vierteljahrhundert  lang  seines  Amtes^ 
über  dessen  ins  Masslose  gehende  Leidenschaft  für  das 
Prügeln  zahlreiche  Geschichten  in  der  zeitgenössischen  und 
späteren  Litteratur  zu  finden  sind.  Er  kannte,  wie  es  in 
einer  Anekdote  heisst,  die  Posteriora  seiner  Zöglinge  besser 
als  ihre  Gesichter.^) 

Sogar  an  den  Universitäten  war  bis  zum  18.  Jahr¬ 
hundert  die  körperliche  Züchtigung  der  Studenten  üblich.. 
Mil  ton  und  Johnson  sollen  beide  coram  publico  auf 
diese  Weise  bestraft  worden  sein.^) 

Der  „Prügelbock‘‘  und  das  „Prügelpferd“  spielten  bei 
diesen  Züchtigungen  eine  grosse  Kolle.  T  h  a  c  k  e  r  a  y  ^): 
berichtet  über  die  Züchtigungen,  die  der  Dichter  Steele 
in  der  alten  Charter  School  bei  Smithfield  erdulden  musste  ; 
,,Er  war  sehr  faul.  Er  bekam  Verdientermassen  sehr 
häufige  Schläge.  Obgleich  er  selbst  recht  gute  Anlagen 
besass,  liess  er  doch  durch  Andere  seine  Aufgaben  anfertigen 
und  gab  sich  gerade  nur  so  viel  Mühe  als  für  ihn  hinreichte,, 
um  sich  durch  seine  Uebungen  durchzuschleichen  und  mit 
Hülfe  des  Glücks  dem  Prügelbock  zu  entgehen.  Hundert 
und  fünfzig  Jahre  später  habe  ich  selbst,  jedoch  nur  als 
Liebhaber,  jenes  noch  bestehende  und  gelegentlich  in 
Gebrauch  gesetzte  Instrument  einer  gerichtlichen  Tortur 
in  einem  abgelegenen  Privatzimmer  der  alten  Charterhaus¬ 
schule  besichtigt  und  zweifle  nicht,  dass  es  die  genaue 
Nachbildung,  wenn  nicht  gar  die  interessante  Maschine¬ 
seiber  war,  auf  welcher  der  arme  Dick  Steele  sich  seineni 
Quälern  unterwarf.“ 

Vergl.  C  0  0  p  e  r  a.  a.  0.  S.  138. 

2)  ibidem  S.  139 — 140. 

3)  W.  M.  Tliackeray  „Englands- Humoristen“.  Hamburg 
1854  S.  116—117. 


455 


Nicht  weniger  als  in  den  Knabenschulen  wütete  die 
Kute  inden  Mädchenschulen,  den  sogenannten  „Boarding 
Schools“  und  in  den  Mädchenpensionaten. 

Diese  ,, Ladies’  boarding  schools“  existiren  in  England 
seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts,  scheinen  aber  schon 
damals  einen  schlechten  Ruf  in  Hinsicht  der  Erziehungs¬ 
methode  genossen  zu  haben.  Schriftsteller  jener  Periode 
greifen  bereits  die  dort  übliche  Züchtigung  der  jungen 
Mädchen  auf  das  blosse  Gesäss  und  die  notwendig  daraus 
entspringenden  lasterhaften  Gewohnheiten  auf  das  Schärfste 
an.^)  Wiliam  Alexander  klagt  über  die  frivole  Er¬ 
ziehung  der  Mädchen  in  diesen  Kostschulen. Die  Vor¬ 
steherinnen  dieser  überaus  zahlreichen  „Academies  for 
young  Ladies“  hatten  in  den  meisten  Fällen  ein  unbedingtes 
Verfügungsrecht  über  Geist  und  Körper  der  ihnen  von 
dem  Adel  und  den  reichen  Bürgern  anvertrauten  Mädchen 
und  nutzten  dies  weidlich  und  in  skrupelloser  Weise  aus. 

Wie  es  in  den  englischen  Mädchenschulen  im  18.  Jahr¬ 
hundert  zuging,  erfahren  wir  aus  mehreren  interessanten 
Berichten  bei  Cooper.  So  heisst  es  in  dem  Tagebuche 
der  Lady  Frances  Pennoyer  von  Bullingham  Court  in 
Herfordshire  unter  dem  2.  Januar  1766:  „Ging  zur  Schule, 
wie  ich  mir  vorgenommen,  und  traf  Dr.  Aubrey  unter- 
wegs.  Fand  die  Schulmädchen  alle  versammelt,  und  die 
Lehrerin  sah  ängstlich  aus.  Ist  ein  junges  hübsches 
Mädchen,  aber  ich  glaube,  zu  hübsch  für  solche  Stellung. 
Dr.  Aubrey  ging  mit  hinein,  versicherte  mich,  er  hätte 
in  höheren  Töchterschulen  manche  Rutenstrafe  mit  erlebt 
und  freute  sich,  als  die  Mädchen  rot  wurden.  „Das  wäre 

L  Malcolm  „Anecdotes  of  the  Manners  aad  Customs 
of  London“  London  1810  Bd.  I  S.  328. 

2)  W.  Alexander  „Ilistory  of  Women“  Bd.  I.  S.  48. 


456 


eine  wohlanständige  Bescheidenheit“,  sagte  er.  Die  beiden 
Mädchen,  die  Schläge  bekommen  sollten,  waren  von  der 
Lehrerin  vorbereitet.  Sie  knieten  nieder  und  baten  um 
Verzeihung.  Freute  mich,  wie  artig  sie  die  Strafe  hin- 
nahmen,  die  ich  selbst  ausführte,  um  der  Lehrerin  zu 
zeigen,  wie  man  die  Kute  am  besten  führt.“ i) 

Cooper  teilt  ferner  den  Brief  einer  englischen  Dame 
über  ihre  Erziehung  in  einem  Mädchenpensionat  am  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  mit.  Die  Briefschreiberin  erzählt 
u.  a. :  „Damals  nahm  das  viele  Schlagen  in  den  Mädchen¬ 
schulen  schon  ab,  aber  Miss  P o m er oj  glaubte  noch  fest 
daran  und  übte  es  reichlich  aus.  Wenn  eine  von  uns 
sich  ein  Vergehen  hatte  zu  schulden  kommen  lassen  (und 
Du  würdest  Dich  wundern,  was  für  Kleinigkeiten  damals 
schon  als  Vergehen  angesehen  wurden !)  und  war  würdig 
erachtet,  Schläge  zu  bekommen,  so  musste  sie  an  das 
Pult  der  Lehrerin  treten  und  nach  einer  tiefen  Verbeugung 
um  die  Erlaubnis  bitten,  die  Rute  holen  zu  dürfen.  Die 
Erlaubnis  wurde  erteilt,  mit  vielen  Ceremonien,  und  sie 
ging  fort  und  kam  wieder  ohne  Handschuhe  und  trug 
die  Rute  auf  einem  Kissen.  Dann  kniete  sie  nieder  und 
präsentierte  die  Rute,  die  die  Lehrerin  nahm  und  ihr 
einige  Streiche  damit  auf  ihre  nackten  Arme  und  Hals 
versetzte.  Es  gab  zwei  Arten  von  Ruten :  eine  aus 
Birkenzweigen  und  eine  aus  feinen  Fischbeinstangen  ge¬ 
macht  und  mit  gewichstem  Faden  bewickelt.  Beide 
gaben  schmerzhafte  Streiche,  aber  die  von  Fischbein,  die 
wir  unter  uns  „Soko‘^  nannten,  wurde  am  meisten  ge¬ 
fürchtet.  Die  Striemen  waren  wie  von  der  neunschwänzigen 
Katze  und  gingen  tief  in  unser  Fleisch.  „Soko“  wurde 


1)  Cooper  a.  a.  0.  S.  125 — 126. 


457 


für  ernste  Vergehen  aufbewahrt,  nanaentlich  für  jeden 
Mangel  an  Respekt  gegen  die  beiden  Vorsteherinnen.  Es 
war  eine  besonders  feine  Schule,  in  der  wir  dreissig  junge 
Mädchen  aufgenommen  wurden  und  diese  aus  den  ersten 
Familien.  Es  war  damals  nichts  Ungewöhnliches,  dass  die 
jungen  Mädchen  bis  zum  achtzehnten  oder  neunzehnten 
Jahre  in  der  Schule  blieben,  bis  sich  eine  gute  Heirat 
für  sie  gefunden  hatte,  oder  bis  eine  ältere  Schwester 
heiratete  und  ihr  den  Platz  frei  machte,  dass  sie  auch  in 
die  Welt  eingeführt  werden  konnte.  Aber  jung  oder 
alt,  keine  konnte  der  Rute  entgehen,  wenn  Miss 
Pomeroy  sie  ihr  zugedacht  hatte.  Es  gab  so  viel 
Züchtigungen  in  Regent  House,  dass  auch  die  eifrigsten 
Anhänger  des  Sprüch Wortes :  „Die  Rute  schonen  heisst 
das  Kind  verwöhnen“  damit  zufrieden  gewesen  wären.  — 
Es  gab  zwei  oder  drei  Grade  von  ernster  Züchtigung. 
Der  erste  war  in  Miss  Pomeroys  Zimmer,  wo  nur  sie 
und  das  Dienstmädchen  dabei  waren.  Der  zweite  war 
die  öffentliche  Vorbereitung  für  die  Strafe,  vor  der  ganzen 
Schule,  der  dann  aber  die  Verzeihung  folgte,  und  der 
dritte  war  die  öffentliche  Vollziehung  der  Strafe.  An  das 
einzige  Mal,  als  ich  Schläge  in  Miss  Pomeroys  Zimmer 
bekam,  erinnere  ich  mich  noch,  als  ob  es  gestern  gewesen 
wäre,  solche  alte  Frau,  wie  ich  doch  jetzt  schon  bin! 
Mir  wurde  feierlich  befohlen,  die  Rute  in  ein  Zimmer 
zu  tragen,  das  die  Vorsteherinnen  ihr  Studierzimmer 
nannten.  Dort  fand  ich  die  beiden  Damen  und  kniete 
vor  ihnen  mit  der  Rute  nieder,  die  die  ältere  Dame  mir 
abnahm  und  —  wie  mir  schien  —  ordentlich  zärtlich 
durch  ihre  Finger  gleiten  Hess.  Dann  klingelte  sie  und 
befahl  dem  Dienstmädchen,  mich  vorzubereiten.  Dies  ge¬ 
schah,  indem  sie  ganz  einfach  meine  Kleider  in  die  Höhe 


458 


zog  und  meine  Hände  festhielt.  Ich  erschrak  fürchterlich, 
denn  ich  hatte  nie  in  meinem  Leben  Schläge  bekommen, 
und  die  Scham  über  dies  Verfahren  überwältigte  mich 
so,  dass  ein  heftiger  hysterischer  Anfall  d